FÜNF
Zwei Jahre zuvor – 1928 – hatte mein Vater einen Brief von einem Anwalt erhalten.
»Lies ihn mir bitte vor, Liebes«, sagte er mit besorgter Miene und setzte sich an den Küchentisch. »Ich kann mir nicht vorstellen, was ich mir habe zuschulden kommen lassen.«
»Es muss ja nichts Schlimmes bedeuten, Vater«, erwiderte ich, während ich den Brief öffnete und ihn überflog.
»Nun sag schon, was steht darin?«
Ich sah ihn an. »Vater, Mr Harding ist gestorben.«
»Nun«, sagte er. »Die arme alte Seele. Ich wusste, dass er seit längerem krank war.«
Mr Harding war der letzte Arbeitgeber meines Vaters gewesen, der sich als so entgegenkommend gezeigt hatte, als Vater nach vierzehn Jahren seinen Dienst hatte quittieren müssen.
»Und warum schreibt mir ein Anwalt, um mich darüber zu informieren?«
Ich fuhr mit der Zungenspitze über die Lippen und zwang mich, nicht mit der Neuigkeit herauszuplatzen. Natürlich bedauerte ich, dass Mr Harding gestorben war, auch wenn er zweiundneunzig geworden war.
»Du erinnerst dich an seinen Wagen«, begann ich.
»Welchen denn? Er hatte ja eine kleine Flotte von Automobilen.«
»Vater, der, den du so gern gefahren bist. Du hast immer von diesem Wagen geschwärmt.«
Er hob das Kinn und lächelte. »Ah ja, das war dieser herrliche Silver Ghost, nicht wahr? Eine wahre Schönheit. Ihn zu fahren war, wie auf einer Wolke zu schweben.«
Auch ich wusste alles über den britischen 1921 Rolls-Royce mit seinem Steuer auf der rechten Seite, dem Faltdach aus Leder, den Trommelscheinwerfern und den Rohrstoßstangen.
»Er hatte eine lange, schlanke weiße Karosserie mit ochsenblutfarbener Bordüre«, fuhr mein Vater fort, während er versonnen lächelte. Er nahm seine Pfeife und klopfte sie im Aschenbecher aus, wobei ein feuchter Tabakklumpen in das Gefäß fiel. »Wie gern bin ich dieses großartige Automobil gefahren.«
»Vater?« Ich stand auf und konnte ein Lächeln ebenfalls nicht länger unterdrücken. »Mr Harding hat ihn dir vermacht. In seinem Testament, Vater. Der Wagen gehört dir.« Meine Stimme war vor Aufregung lauter geworden.
Doch mein Vater war ganz still. Ich wartete auf eine Reaktion – einen Ausruf, ein Lachen, irgendetwas, aber er rührte sich nicht.
»Freust du dich nicht darüber, Vater? Du hast doch gerade gesagt …«
Er nickte. »Ich weiß, mein Mädchen. Ich weiß, was ich gesagt habe.«
»Warum bist du dann nicht …«
Wieder unterbrach er mich. »Es ist zu spät, Sidonie. Die Zeit, da ich einen solchen Wagen hätte besitzen können, ist vorüber. Du weißt, dass meine Augen nicht mehr gut genug sind.«
»Du könntest ihn noch tagsüber, bei hellem Sonnenlicht, fahren«, sagte ich.
Er schaute mich an. »Nein, Sidonie. Auch mit Brille sehe ich nicht mehr gut genug.«
Ich setzte mich wieder und zeichnete mit der Fingerspitze den geprägten Briefkopf nach. »Wie auch immer, er gehört dir.«
»Was soll ich damit machen?«
Ich setzte mich aufrecht hin. »Ich könnte ihn fahren, Vater. Du könntest es mir beibringen, und ich chauffiere dich mit dem Wagen nach Herzenslust durch die Gegend.« Der Gedanke war für mich so erregend, dass ich immer schneller sprach. »Stell dir das doch vor, Vater. Wir könnten überall hinfahren.«
Stille trat ein.
»Vater? Ich könnte den Wagen fahren«, sagte ich nochmals.
»Nein, Sidonie.« Er stopfte seine Pfeife.
»Was heißt das, nein?« Ich sah zu, wie er mit dem Daumen den Tabak in den Pfeifenkopf drückte. »Natürlich kann ich fahren lernen. So schwer wird das ja nicht sein.«
»Dazu muss man seine Hände und Füße koordinieren können, Sidonie. Man muss in der Lage sein, die Pedale zu bedienen – das Gas, die Bremsen und die Kupplung. Und dazu muss man uneingeschränkt die Knie beugen können. Ich glaube nicht …« Er warf einen verstohlenen Blick auf meinen orthopädischen Schuh, dessen Absatz ein wenig höher war als der andere.
Meine Mundwinkel zuckten. »Das kann ich lernen«, sagte ich laut. »Ich will es, und ich will diesen Wagen haben.«
Mein Vater sah mich überrascht an. »Nun, einen solchen Ton bin ich von dir nicht gewohnt.«
Ich hatte selbst bemerkt, dass ich die Stimme erhoben hatte. Doch der Gedanke, einen Wagen zu fahren, erregte mich. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass sich seit langem nichts mehr in meinem Leben verändert hatte. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, wann ich zuletzt etwas Neues gelernt hatte und stolz darauf gewesen war, etwas bewerkstelligt zu haben.
Ich senkte das Kinn und bemühte mich um einen ruhigeren Ton. »Es ist nur so, dass … man hat dir den Wagen vermacht, Vater. Wenn du ihn nicht willst, dann nehme ich ihn eben.«
Er schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, du könntest ihn nicht …«
»Doch, ich könnte. Und ich werde auch. Du wirst schon sehen.« Unvermittelt musste ich an meine Mutter denken und daran, dass ich es versäumt hatte, ihr zu sagen, wie sehr ich all das schätzte, was sie für mich getan hatte. »Also, Papa, was ist?«
Er war wieder mit dem Stopfen seiner Pfeife beschäftigt, unterbrach sich jedoch und blickte mich an.
»Warum lässt du mich das nicht für dich tun? Dich fahren, wohin auch immer du willst? Deine Freude sehen, wieder in einem schönen Wagen zu fahren? Du hast den größten Teil deines Lebens damit verbracht, andere Menschen herumzukutschieren. Und einen großen Teil damit, dich um mich zu kümmern. Nun ist es Zeit, dass ich einmal etwas für dich tue. Lass mich dich fahren, Vater, bitte.«
Er antwortete nicht, doch sein Ausdruck wurde weich, und da wusste ich, dass der Silver Ghost mir gehören würde.
Kaum war der Wagen in unserem Hinterhof abgeliefert worden, begann mein Vater, mir Fahrstunden zu geben. Er war überrascht, dass ich alles so schnell begriff, und das erfüllte mich wiederum mit Stolz. Zwar stimmte, was er über meine Behinderung gesagt hatte: Ich hatte wenig Kraft in meinem rechten Bein und konnte das Knie nicht ganz durchstrecken. Und obwohl er sah, wie gut ich zurechtkam, machte er sich noch immer Sorgen um meinen rechten Fuß, der sich nicht so gut beugen ließ.
Von Anfang an wusste ich, wie sehr mir das Fahren mit dem Silver Ghost Spaß bereiten würde. Vom ersten Mal an, da ich den Wagen selbstständig aus dem Hof fuhr, spürte ich ein ungekanntes Gefühl der Macht. Hinter dem Lenkrad vergaß ich mein Hinken. Wenn mir bei zurückgeschlagenem Dach der Wind das Haar zerzauste, fand ich das beinahe vergessene Vergnügen an der schnellen Vorwärtsbewegung wieder. Vielleicht erinnerte es mich ein wenig daran, wie ich als Kind herumgerannt war.
Im ersten Sommer, in dem ich in Besitz des Wagens war, fuhr ich oft damit, nicht nur übers Land, sondern auch in die Innenstadt, wo mich niemand kannte. Das Automobil zog Aufmerksamkeit auf sich, und mit einem Mal schlich sich ein neues, ziemlich stolzes Lächeln auf meine Lippen. Wenn jemandes Augen auf den schlanken Formen des Wagens verweilten und sich dann mir zuwandten, nickte ich ihm zu. Ich war nicht nur stolz darauf, ihn zu besitzen, sondern auch auf meine Fahrkünste. Plötzlich war ich nicht mehr nur Sidonie O’Shea, die Frau mit der Gehbehinderung, die mit ihrem Vater am Stadtrand wohnte.
In jenem feuchtheißen Hochsommer fuhr ich weit aufs Land hinaus. Ich winkte den Kindern zu, die auf den Staubstraßen des Hinterlands von Albany County den Räderspuren folgten. Irgendwo ließ ich dann den Wagen am Straßenrand stehen und stapfte durch das dichte Gestrüpp und die Moore. Hin und wieder gelangte ich an einen der Teiche, die die Landschaft durchzogen. Dann setzte ich mich ans Ufer und zeichnete Rohrkolben und Wildblumen. Ich beobachtete die Biber und ihr emsiges Treiben, die Eichhörnchen und Hasen im Unterholz und die Vögel beim Nisten und jähen Herabstoßen nach Beute. Ich sah den Fröschen zu, die ihre Beute so schwer herunterzuschlucken schienen, und den Insekten, die mir um den Kopf herumschwirrten. Ich entdeckte eine neue Flora, Wildpflanzen, deren Namen ich nicht kannte.
In raschen, groben Zügen skizzierte ich sie, um sie zu Hause anhand eines der Botanikbücher, deren Stapel stetig wuchs, zu identifizieren. Wenn ich wieder zum Wagen zurückkehrte, hatte ich Schweißflecken unter den Achseln, Kletten hatten sich an meinen Rocksaum geheftet, und mein Haar war klamm und zerzaust von der feuchten Luft.
Ich konnte es nicht erwarten, nach Hause zu kommen, um zu malen, was ich skizziert hatte. In jenem Sommer veränderten sich meine Bilder irgendwie. Das Fahren hatte offensichtlich meine Handgelenke, Finger und auch Schultern gelockert, sodass meine Pinselstriche freier wurden. Die Farben, die ich wählte, waren üppiger, hatten mehr Tiefe.
Einmal, als ich wieder ein Bild fertig gemalt hatte, einen Weißbauch-Phoebetyrannen auf seinem Nest aus Schlamm und Moos, trat ich zurück, um es in Augenschein zu nehmen. Was ich sah, gefiel mir so gut, dass ich Zinnober auf die Arme hob und mit ihr einen Shuffle durchs Zimmer vollführte. Ich tanzte!
Ich weiß noch, wie glücklich ich damals war.
Als der erste schwere Schnee fiel, konnte ich den Wagen nicht mehr aus dem Hinterhof herausfahren, sodass ich während der langen, trostlosen Monate aufs Fahren verzichten musste. Den ganzen Winter über sehnte ich mich nach dem kehligen Rattern des Motors, dem leichten Vibrieren des Lenkrads unter meinen Händen und der neu gefundenen Freiheit, die mir der Silver Ghost geschenkt hatte. Ich träumte davon, wieder mit ihm durch die Gegend zu streifen.
Gegen Ende des Winters sagte mir Vater, er wolle eine Automobilauktion im benachbarten County besuchen, Mr Barlow würde ihn hinbringen.
»Nein, ich fahre dich«, sagte ich und stand schnell auf, während die Erregung, ein altbekanntes Gefühl, wieder Besitz von mir ergriff. »Der Schnee ist beinahe weggeschmolzen. Ich habe heute Morgen einen Blick in den Hinterhof geworfen, und ich bin sicher, dass ich den Ghost aus der Garage bekomme. Letzte Woche habe ich das Segeltuch vom Wagen genommen, den Motor gestartet und ihn eine Weile laufen lassen. Er ist fahrbereit, Vater.«
»Aber das ist nicht nötig, Sidonie. Mike hat gesagt, er fährt mich mit seinem Laster. Die Straßen sind eisig, weil es gestern geregnet und anschließend wieder gefroren hat. Mit deinem Bein …«
»Hör auf, so ein Theater wegen meines Beins zu machen. Außerdem will ich auch gern zur Auktion. Wir waren seit Monaten auf keiner mehr.« Ich erwähnte nicht, was mich am meisten antrieb: die Lust, endlich mal wieder Auto zu fahren. Später, als ich die Zusammenhänge besser durchschaute, begriff ich, dass mein Drang, wieder hinter dem Lenkrad zu sitzen, auch eine Art körperlicher Begierde war. Ich zog mir den Mantel über, warf einen Blick in den Spiegel über der Anrichte und strich das Haar zurück. »Ich fahre dich, Schluss, aus. Wir werden Spaß haben, Vater«, fügte ich hinzu.
Etwas an mir hatte sich verändert, ich hatte neues Selbstbewusstsein gewonnen.
Mein Vater schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen, zog sich aber ebenfalls den Mantel sowie Gummiüberschuhe an.
Da ich nicht in dieser Missstimmung losfahren wollte, legte ich den Arm um ihn, drückte ihn und ließ ihn wieder los. Ich lächelte. »Du solltest dir einen Schal umbinden, Vater.«
»Kein Schal vermag den Hals eines Vaters mehr zu wärmen als die Umarmung seiner Tochter«, zitierte er aus seinem irischen Sprichwörterschatz, und ich lächelte ihn noch einmal an.
Diesmal erwiderte er mein Lächeln und nickte.
Zuerst mussten wir die letzten Reste matschigen Schnees aus der Ausfahrt schaufeln. Als wir fertig waren, hatte ich gerötete Wangen und mir war warm, sodass ich den Mantel auszog und ihn zwischen uns legte.
»Sidonie, du wirst dich erkälten.«
»Vater«, sagte ich mit einem Kopfschütteln und grinste dabei, »nun steig ein.« Nichts vermochte meine Vorfreude zu dämpfen.
Es war zwar wunderbar, den Silver Ghost wieder zu fahren, doch bis zu diesem Zeitpunkt kannte ich lediglich die Herausforderung, die von Sommer- oder Herbstregen nasse und rutschige Straßen an mich stellten. Wie mein Vater vorausgesagt hatte, waren die Straßen sehr glatt, und sobald ich zu viel Gas gab, schlitterte der Wagen zur Seite, doch jedes Mal konnte ich rechtzeitig gegensteuern und die Räder wieder in die gewünschte Richtung lenken. Mein Vater sagte nichts, aber das Knirschen seiner Zähne auf dem Mundstück seiner kalten Pfeife sagte mir, wie angespannt er war.
Bald kühlte mein Körper wieder ab, und ich fror; ich spürte, wie angespannt meine Schultern waren. Jetzt bereute ich, den Mantel ausgezogen zu haben, wollte es aber nicht zugeben. Behutsam schaltete ich von einem Gang in den nächsten, und hin und wieder war ein Schleifen zu hören. Jedes Mal, wenn das passierte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie mein Vater ruckartig den Kopf zu mir drehte, doch ich achtete nicht darauf. Obwohl es gerade erst früher Nachmittag war, als wir zur Stadt hinausfuhren, wurde der Himmel bereits grießig.
»Schalt die Scheinwerfer an, Sidonie«, sagte mein Vater. »Und bitte fahr an den Straßenrand und zieh den Mantel an.«
Ich schüttelte den Kopf, angespannt von der Konzentration, die das Fahren bei dieser Witterung erforderte. »Es ist ja nicht dunkel, Vater«, sagte ich ungeduldig. Später erinnerte ich mich, wie schrill meine Stimme klang. »Es liegt nur an deinen Augen.«
»Aber es wird neblig.«
»Es sind keine anderen Autos auf der Straße«, sagte ich und blickte zu ihm. Ich sah, wie er meinen Mantel an die Brust drückte und dass sich sein Ausdruck jäh verändert hatte. Zuerst hielt ich es für Wut und schüttelte den Kopf. »Ich bin durchaus in der Lage …«
»Sidonie!«, schrie er, und ich blickte wieder auf die Straße.
Blass wie ein Phantom in der Dunkelheit zeichnete sich ein Laster auf der anderen Straßenseite ab. Sein unerwartetes Erscheinen erschreckte mich so sehr, dass ich scharf einatmete, während ich das Lenkrad herumriss, um dem Lastwagen auszuweichen. Als ich in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten diesen Bruchteil einer Sekunde im Geiste wieder und wieder durchlebte, wurde mir klar, dass meine Reaktion gar nicht nötig gewesen war: Der Laster war auf seiner Straßenseite und wir waren auf unserer. Ich hatte ihn einfach nur nicht kommen sehen, als ich kurz zu meinem Vater hinübergeblickt hatte, sodass ich aus meinem Schrecken heraus überreagierte.
Die uns umgebende Landschaft verschwamm vor meinen Augen, während der Wagen herumschleuderte und ich versuchte, ihn unter Kontrolle zu bringen.
»Nicht bremsen!«, schrie mein Vater. »Herunterschalten, du musst herunterschalten!«
Ich versuchte es, doch mein Fuß in dem klobigen Stiefel rutschte vom Kupplungspedal. Das Lenkrad wirbelte unter meinen Händen herum. Und plötzlich war da dieses unglaubliche Gefühl, durch die Luft zu fliegen, gefolgt von jäher Dunkelheit.
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich die Augen wieder öffnete. Durch die Windschutzscheibe bot sich mir ein merkwürdiges Bild. Ich blinzelte und versuchte zu verstehen, was ich sah. Schließlich bemerkte ich, dass der Wagen auf der Seite lag und meine Wange an die Fensterscheibe gepresst war.
»Vater?«, wisperte ich und bewegte den Kopf. Ich spürte einen scharfen Stich in der Wange; als ich die Hand an die Stelle führte, fühlte ich etwas Scharfes, das in der Wange steckte. Ich zog es raus, ein flüchtiger Schmerz durchfuhr mich, und ich blickte verdattert auf die blutige Scherbe zwischen meinen Fingern.
»Vater«, sagte ich wieder und ließ die Scherbe fallen. Ich blickte hinüber. Er saß nicht mehr auf dem Beifahrersitz. Einen flüchtigen Moment lang dachte ich, dass er vielleicht ausgestiegen sei, um Hilfe zu holen, doch dann sah ich mit Schrecken, dass die Scheibe auf seiner Seite vollkommen zertrümmert war. Blut klebte an den zackigen Rändern des Beifahrerfensters. Mühsam setzte ich mich auf. Die eine Seite meines Gesichtes schmerzte, aber es war nur ein dumpfes Pochen. Um auszusteigen, musste ich mich über den Schalthebel hinweg zur anderen Seite strecken und versuchen, die Beifahrertür nach oben aufzustoßen. Als es mir schließlich gelang, zog ich mich hinauf, und das Gewicht meines Unterkörpers, der sich dagegen sperrte, erinnerte mich an die erste Zeit meiner Kinderlähmung. Ich kletterte hinaus und ließ mich vor der geöffneten Beifahrertür zu Boden fallen. Der Wagen befand sich halb auf der Straße und halb auf einer leicht abfallenden Böschung, die in ein gefrorenes Stoppelfeld mündete.
Ich setzte mich auf und spähte durch den feinen Nebel. »Vater!«, rief ich mit leiser, heiserer Stimme. Dann rappelte ich mich auf und begab mich zur Straßenmitte. Vor mir sah ich ein kleines, unbewegliches Tier, im Näherkommen entpuppte es sich als mein Mantel. »Vater«, rief ich wieder, indem ich mich im Kreis drehte, »wo bist du?«
Und dann machte ich einige Meter vom Wagen entfernt eine Erhebung auf dem Acker aus und wusste, dass es mein Vater war. Als ich bei ihm war, kniete ich mich neben ihn und sagte immer wieder: »Vater, Vater, Vater.« Ich streichelte seinen Kopf, doch abgesehen von der klaffenden Wunde an seiner Stirn und dem vielen Blut sah er aus, als schliefe er. In seinem Kragen hatte sich ein Büschel raues Wintergras verfangen. Ich zog es heraus und legte die Wange an seine Brust. Sie war warm, und ich spürte, wie sie sich hob und senkte.
Erst da, als mir bewusst wurde, dass er lebte, musste ich weinen.
»Du wirst wieder gesund, Vater. Du wirst wieder gesund«, sagte ich wieder und wieder unter Schluchzen, während die kalte, feuchte Luft um uns herumwaberte.
Etwas weckte mich, und ich hob den Kopf, doch mein Vater lag noch immer unbeweglich in seinem Krankenhausbett. Das stechende Pochen in meiner Wange hatte mich geweckt, und ich berührte die Stelle mit der Hand und spürte einen Verband. Ich betastete ihn, ehe ich wieder Vaters Hand ergriff, die ich gehalten hatte, seit man mir zum ersten Mal erlaubt hatte, sein Zimmer zu betreten. Die Haut auf seinem Handrücken fühlte sich papieren an. Unter den dunklen Altersflecken zog sich ein Netz aus dünnen, blauen Venen. Wann war mein Vater so alt geworden?, fragte ich mich.
Sein Atem hörte einen Moment lang auf, und ich drückte seine Hand, blickte in sein Gesicht. Ein Krampf durchzuckte seine Züge, doch im nächsten Augenblick atmete er weiter, und sein Gesicht entspannte sich. Ich lehnte mich wieder auf meinem Stuhl zurück. Mein Mund war trocken. Ich nahm den metallenen Wasserkrug von dem kleinen Tisch neben dem Bett und betrachtete darin mein Spiegelbild: Das Haar hing mir in langen Strähnen ins Gesicht, meine Augen waren durch die Wölbung des Krugs merkwürdig verzogen, ebenso wie meine dichten Augenbrauen, der weiße Verband auf meiner Wange, und mein leicht geöffneter Mund schien eine Frage stellen zu wollen.
Ich stellte den Krug auf den Tisch zurück. »Vater«, sagte ich leise. »Vater, bitte.«
Worum bat ich ihn? Dass er endlich aufwachte? Nicht starb? Mir verzieh? Wieder nahm ich seine Hand und hielt sie an meine unversehrte Wange.
»Sie sollten sich auch ausruhen, solange er schläft«, sagte eine Stimme, und ich blickte apathisch schräg über meine Schulter nach oben. Hinter mir stand ein Mann, ein Arzt, wie ich an dem Stethoskop um seinen Hals erkannte. Ich ließ die Hand meines Vaters auf die Bettdecke sinken und erhob mich.
»Können Sie mir etwas über seinen Zustand sagen?«, fragte ich. »Was … wird er wieder gesund werden?«
Der Arzt blickte zu meinem Vater, dann wieder zu mir. »Er hat mehrere Verletzungen, innerlich.« Etwas an seiner Stimme klang irgendwie vertraut in meinen Ohren. »Und wegen seines Alters … Miss O’Shea, nicht wahr? Sie müssen sich darauf gefasst machen.«
Ich setzte mich wieder. »Mich gefasst machen?«
»Wollen Sie nicht eine Zeit lang nach Hause gehen? Der Mann und die Frau, die Sie herbrachten, kannten Sie sie? Können Sie sie benachrichtigen, damit sie Sie abholen?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich erinnerte mich nur vage, dass ein Automobil angehalten hatte, aus dem ein Mann stieg, der meinen Vater auf den Rücksitz seines Wagens hob, während eine Frau mir ein Taschentuch an die Wange drückte und mir den Mantel umlegte. »Ich bleibe bei ihm.«
Der Arzt schwieg einen Moment lang. »Hat jemand Ihre Mutter angerufen?«, fragte er dann. »Oder vielleicht einen Bruder oder eine Schwester … Wenden Sie sich an eine Schwester, und sie wird den Anruf für Sie erledigen. Sie haben doch Familie, irgendjemanden …«
»Nein, es gibt nur mich«, unterbrach ich ihn mit heiserer Stimme. »Nur mich.«
»Hat das Mittel geholfen?«
Ich sah zu meinem Vater. »Ich weiß nicht.«
»Nein, ich meine bei Ihnen. Wegen des Gesichts. Es tut noch weh?«
Wieder tastete ich nach dem Verband. »Nein, ich erinnere mich nicht …«
»Es ist ein tiefer Schnitt, Miss O’Shea. Winzige Glassplitter haben gesteckt darin. Ich habe sie entfernt und die Wunde genäht.«
Plötzlich erkannte ich seinen französischen Akzent und auch seinen gelegentlich schiefen Satzbau wieder, verstand, warum mir seine Stimme so vertraut vorkam: Sein Englisch ähnelte dem meiner Mutter. Mit einem Mal konnte ich mich wieder zurückbesinnen: der beißende Geruch eines Desinfektionsmittels, das Gesicht des Mannes über mir, ein Ziehen an meinem Fleisch, die Empfindung von Kälte, ohne Schmerzen zu spüren. »Nein«, sagte ich, »es tut nicht weh.«
Warum redete er von meiner unbedeutenden Verletzung? Er sollte sich mal lieber um meinen Vater kümmern. »Können Sie denn nichts tun? Vielleicht eine Operation, etwas … irgendetwas, um ihm zu helfen?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. In seinem Gesicht spiegelte sich Besorgnis. »Ich bedaure«, sagte er. »Nun wir können einfach nur warten.« Er zog eine Uhr aus seiner Westentasche und blickte darauf. »Ich muss gehen, aber in ein paar Stunden ich schaue noch mal herein.«
Ich nickte. Obwohl er sehr professionell wirkte, las ich Betroffenheit in seinem Gesichtsausdruck. Fast so etwas wie Freundlichkeit. Und seine Stimme … Wieder dachte ich an meine Mutter und fühlte mich einsamer als je in meinem Leben. Ich wollte nicht, dass er ging; in diesem Moment vermittelte mir sogar ein Fremder Trost.
»Miss O’Shea. Sie sollten besser schlafen jetzt. Sie sitzen schon seit vielen Stunden hier. Und das Schmerzmittel macht müde.«
Unwillkürlich verglich ich ihn mit dem Arzt, der mich behandelt hatte, als ich an Kinderlähmung erkrankt war, und dem, der meine Mutter besucht hatte, als sie im Sterben lag. Jene Männer hatten sicherlich am Ende ihrer beruflichen Laufbahn gestanden; sie erschienen mir rückblickend so alt, so ausgelaugt, als hätten sie ein Leben lang damit verbracht, schlechte Nachrichten zu übermitteln. »Es ist meine Schuld«, sagte ich und wusste selbst nicht, warum ich plötzlich das Bedürfnis hatte, mich dem Arzt anzuvertrauen. Er hatte eine hohe, intelligente Stirn und rosige Wangen. Bestimmt war er noch nicht sehr viele Jahre Arzt, da er kaum älter als ich sein konnte. »Er wollte mich davon abhalten zu fahren.«
Er antwortete nicht, sondern sah mich, die Hände in den Taschen seines Kittels vergraben, unverwandt an, als wartete er darauf, dass ich weitersprach.
Wieder ergriff ich die Hand meines Vaters und drückte sie an meine Stirn.
»Ich bin übrigens Dr. Duverger«, sagte der Arzt. »Wenn Sie mit mir über Ihren Vater oder Ihr Gesicht reden wollen, Sie sich wenden einfach an die Schwester, um mich zu rufen. Dr. Duverger«, sagte er nochmals und sah mich eindringlich an.
Plötzlich war ich so müde, so erschöpft, dass ich nur nickte und mich wieder meinem Vater zuwandte.
Kurz vor Sonnenaufgang starb mein Vater, ohne noch einmal das Bewusstsein zu erlangen, ohne dass er mir hätte vergeben können. Ich war bei ihm im Zimmer, schlief jedoch im Moment seines Verscheidens.
Eine Schwester, die hereingekommen war, bemerkte, dass er nicht mehr atmete. Sie weckte mich, indem sie mir die Hand auf die Schulter legte.
»Es tut mir leid, Miss O’Shea«, sagte sie, während ich meinen Vater ansah und dann sie. »Es war nichts mehr zu machen.«
Ich starrte sie noch immer an, als redete sie in einer Fremdsprache.
»Er ist gestorben, meine Liebe«, sagte sie, die Hand noch immer auf meiner Schulter. »Nun kommen Sie. Kommen Sie mit und trinken Sie erst mal eine Tasse Tee.«
Noch immer begriff ich nicht, wie es hatte geschehen können. So ruhig, so unbemerkt. Hatte mein Vater nicht mehr verdient – vom Leben und von mir?
»Nun kommen Sie mit«, sagte sie wieder, und ich stand auf und folgte ihr, nachdem ich einen letzten Blick über die Schulter zum leblosen Körper meines Vaters geworfen hatte.
Ich erinnere mich noch, wie ich mit einer Tasse Tee zwischen den Händen in einem kleinen Zimmer saß und der junge Arzt – wie hieß er noch mal?, fragte ich mich – mit mir sprach. Doch ich verstand ihn nicht. Als ich das Zimmer verließ, kam er hinter mir her und drückte mir eine Tube in die Hand. Dann legte er mir meinen Mantel um die Schultern. Ich nahm den Tabakgeruch meines Vaters wahr und schwankte einen Moment lang. Der Arzt ergriff mein Handgelenk, um mich zu stützen.
»Sie müssen die Salbe auf Ihre Wange tun«, sagte er. »Die Salbe, da in Ihrer Hand. Jeden Tag. Und einen sauberen Verband. Besuchen Sie mich in einer Woche wieder. Wie werden Sie nach Hause kommen?« Ich blickte von meiner Hand zu seinem Gesicht und wieder zu meiner Hand. »Wer wird Sie nach Hause fahren, Miss O’Shea?«, wiederholte er seine Frage. »Gibt es jemanden, der Sie fährt und bei Ihnen ist, damit Sie nicht allein sind?«
Ich konnte nicht klar denken. »Nach Hause? Ich … ich weiß nicht. Der Wagen … mein Wagen … ist er … wo ist er?«, fragte ich, als ob er es hätte wissen können.
»Ich weiß nichts von Ihrem Automobil, aber ich denke, es ist besser, wenn Sie nicht fahren. Wir werden jemanden finden … Es ist noch sehr früh … Wo wohnen Sie, Miss O’Shea?«
»In der Juniper Road.«
»Ich werde jemanden bitten, Sie nach Hause zu fahren. Aber Sie müssen noch ein bisschen warten.«
Während ich dastand, bemühte ich mich, die Bedeutung seiner Worte zu erfassen. Er war wirklich sehr nett und hilfsbereit. »Nein«, sagte ich, als ich endlich wieder einigermaßen bei Sinnen war. »Mein Nachbar, Mr Barlow, Mike Barlow, er wird mich abholen und nach Hause bringen.«
»Hat er ein Telefon?«
Ich nickte. Jetzt wollte ich nur noch weg von diesem Ort, an dem der leblose Körper meines Vaters lag. »Ja.« Plötzlich war mir schrecklich kalt. Ich fröstelte. »Aber, ich erinnere mich nicht mehr an seine Nummer.« Ich legte die Hand an den Mund. »Ich wusste sie«, sagte ich, »aber ich erinnere mich nicht.«
Der Arzt nickte, ließ mein Handgelenk los und legte mir die Hand auf die Schulter. »Sie stehen unter Schock, Miss O’Shea. Bitte. Setzen Sie sich. Mike Barlow in Juniper Road? Ich werde seine Nummer herausfinden.«
Ich ließ mich auf den Stuhl sinken. Mir war jetzt so kalt, dass ich mit den Zähnen klapperte, während ich zusah, wie er zu einem Schreibtisch ging und mit der Frau, die dahinter saß, sprach. Sie sah mich an und nickte, und auch er sah wieder zu mir herüber.
»Ziehen Sie Ihren Mantel an, Miss O’Shea«, sagte er, und seine Stimme klang hohl über die kurze Entfernung hinweg. »Sie müssen sich warm halten.«