ZWEIUNDZWANZIG
Als ich am nächsten Morgen aufstand, war mein erster Impuls, sofort wieder in das Haus in der Sharia Zitoun zurückzukehren. Doch nach dem gestrigen Erlebnis war ich so entmutigt und fürchtete, wieder vor dem verschlossenen Tor zu stehen, hinter dem sich kein Laut rührte. Was, wenn Manon irgendwohin gegangen war, wo ich sie nicht finden konnte, um nicht mit mir über Etienne sprechen zu müssen? Was, wenn ich meine Chance verpasst hatte, etwas aus ihr herauszubekommen?
Was verbarg sie vor mir?
Um mich für ein paar Stunden abzulenken, ging ich in den Straßen der Ville Nouvelle spazieren. Ich betrat ein Geschäft für Malutensilien und hoffte, der Geruch nach Farben und das Gefühl, wieder einen Pinsel in der Hand zu halten, würden mich auf andere Gedanken bringen. Die Gemälde an den Wänden der Hotellobby fielen mir wieder ein, und ich rief mir die Skizze in Erinnerung, die ich von Mustapha und Aziz gezeichnet hatte. Doch um die Mittagszeit fand ich mich abermals in der Sharia Zitoun wieder.
Ich wappnete mich innerlich, wieder niemanden anzutreffen, doch als ich mich dem Tor näherte, hörte ich Badous Stimme von der anderen Seite. Ich nahm einen tiefen Atemzug, betätigte dann den Türklopfer und rief nach dem Jungen.
Er öffnete sofort. »Hallo, Mademoiselle O’Shea«, sagte er lächelnd, als wäre er erfreut, mich zu sehen.
Ich versuchte ebenfalls ein Lächeln, hatte jedoch das Gefühl, als würden meine Lippen mir nicht gehorchen.
Auch Aszulay war wieder – oder immer noch – da. Er kam zum Toreingang. »Mademoiselle O’Shea, Sie sind es wieder.« Er lächelte ebenso freundlich wie zuvor Badou.
»Ja. Als ich gestern wiederkam, hat niemand aufgemacht.«
Er runzelte die Stirn. »Aber als ich kurz vor zwei ging, sagte Manon, dass sie Sie erwartet.«
»Jedenfalls war sie nicht da.«
»Bitte, kommen Sie herein und setzen Sie sich. Manon ruht sich aus«, sagte er. »Wir werden bald zu Mittag essen. Ich hoffe, dass Sie uns heute Gesellschaft leisten.«
Ich schloss einen Moment lang die Augen. Mir war nicht nach belangloser Plauderei. Außerdem überlegte ich, was ich tun sollte, wenn Manon mich genauso behandeln würde wie bei meinen ersten beiden Besuchen.
»Ich muss mich für Manons Verhalten entschuldigen. Sie hat oft Kopfschmerzen.«
Ich dachte an Etienne.
»Sie ist dann sehr unleidig und wird … na ja, verhält sich so, wie Sie sie erlebt haben. Aber heute müssen Sie unbedingt bleiben. Gastfreundschaft wird in diesem Land großgeschrieben, Mademoiselle. Sie zurückzuweisen wäre eine Beleidigung.«
Ich nickte und setzte mich auf einen der niedrigen Korkhocker, die nicht besonders bequem waren. Um mein wehes Bein nicht beugen zu müssen, streckte ich es vor mir aus. Aszulay nahm mir gegenüber im Schneidersitz auf dem Sofa Platz. Badou kletterte ihm auf den Schoß, und im Gegensatz zu Manon, die ihren Sohn nie absichtlich berührte, schlang Aszulay die Arme um das Kind.
L’Homme Bleu. Der Blaue Mann. Unwillkürlich rief ich mir den blau gekleideten Mann in Erinnerung, der wie aus dem Nichts auf der Sandpiste erschienen war, um eine kunstvolle Fliese gegen Brot einzutauschen. Wie er mich beeindruckt hatte, als er groß und aufrecht neben dem Wagen stand und mich eindringlich ansah, um dann würdevoll und anmutig ebenso geheimnisvoll wieder auf der staubigen Sandpiste zu verschwinden, wie er gekommen war.
»Ich werde Falida bitten, uns Tee zu bringen«, sagte Aszulay, und ich schrak zusammen, als mir bewusst wurde, dass ich ihn angesehen hatte. »Wir werden hier essen, wo es kühler ist als im Haus.« Er stellte Badou auf den Boden und stand auf. »Badou, geh hinein und sag deiner Mutter, sie soll herauskommen und mit uns zu Mittag essen. Bitte, machen Sie es sich bequem«, sagte er zu mir gewandt. »Ich werde gleich wieder zurück sein.«
Badou huschte die Treppe hinauf, und kurz darauf hörte ich von oben seine zarte Stimme. Ich brannte darauf, mit Manon zu sprechen, zu hören, was sie mir zu erzählen hatte, und gleichzeitig graute es mir davor, erneut mit ihr zu tun zu haben. Etwas Gewalttätiges, seltsam Verdrehtes haftete ihrem Charakter an; ihrem Gesicht war genau abzulesen, wie sehr sie es genoss, mich bitten und betteln zu sehen und mich auf die Folter zu spannen. Ihr mangelndes Interesse an ihrem Sohn war offenkundig, und sie machte nicht einmal den Versuch, es zu verbergen. Außerdem war mir nicht entgangen, wie herzlos sie das junge Dienstmädchen behandelte.
Wie konnte es sein, dass Etiennes Schwester so anders war als er?
Aszulay trat, gefolgt von Falida, heraus. Er trug eine tajine in den Händen – eine Kasserolle mit einem hohen, konischen Deckel; ich wusste, dass man hierzulande auf schonende Weise Schmorgerichte darin zubereitete. Falida balancierte ein großes rundes Messingtablett vor sich her. Darauf standen ein Teller mit kleinen Fladenbroten, eine Teekanne, drei bemalte Gläser mit Zinnfassung sowie vier kleine Porzellanschüsseln mit Wasser und einer Zitronenspalte darin.
Sie stellte es auf den runden Tisch und goss Tee in die drei Gläser. Eines reichte sie Aszulay, ein weiteres mir und ging dann ins Haus zurück. Das dritte Glas, so vermutete ich, war für Manon bestimmt.
»Bitte, trinken Sie«, sagte Aszulay.
Ich nickte und nippte vorsichtig an dem Tee – es war der mir inzwischen vertraute Pfefferminztee mit einer gehörigen Portion Zucker – und stellte das Glas wieder ab. Für meinen Geschmack war der Tee zu heiß bei dieser Hitze. Ich sehnte mich nach einem Glas kühlen Wassers.
Aszulay trank schweigend und offensichtlich ganz entspannt seinen Tee. Das Schweigen war mir unangenehm, und ich überlegte mir, was ich sagen konnte. Was sollte ich mit diesem mir fremden, exotischen Mann reden? Ich fühlte mich in hohem Maße unwohl und räusperte mich, ehe ich das Wort ergriff. »Was machen Sie in Marrakesch?«, fragte ich schließlich.
Er trank einen Schluck Tee, dann erwiderte er: »Ich grabe.«
»Sie graben?« Ich war mir nicht sicher, ihn richtig verstanden zu haben.
Aszulay nickte. »Ich grabe in der Erde und pflanze Bäume und Blumen.« Er nippte abermals an seinem Tee.
»Oh, Sie sind also Gärtner. Arbeiten Sie für eine bestimmte Familie?« Im Grunde interessierte es mich überhaupt nicht, aber immerhin war es besser, als das Schweigen zu ertragen.
»Ich arbeite in einigen großen riads in der Medina, aber auch in manchen Gärten und Parks der Ville Nouvelle. Wie im Moment.«
»Ich wohne im Hôtel de la Palmeraie. In der Ville Nouvelle«, fügte ich überflüssigerweise hinzu. Diese belanglose Unterhaltung interessierte mich im Grunde überhaupt nicht.
»Bien entendu«, sagte Aszulay. »Natürlich. Es ist sehr … sehr luxuriös.«
Ich nickte.
»Zurzeit arbeite ich im Garten von Monsieur Majorelle. Doch mittags habe ich frei und bringe oftmals Manon und Badou das Mittagessen vorbei.«
»Ich war auch schon dort, im Jardin Majorelle.«
Aszulay stellte sein Glas ab. »Ich weiß. Ich habe Sie gesehen.«
»Sie haben mich gesehen?« Mit einem Mal war ich neugierig geworden.
»Vergangene Woche. Ich habe Sie bemerkt, als Sie vorbeispazierten. Ich habe auch gesehen, wie Sie sich mit Madame Odette unterhielten. Sie kommt jeden Tag dorthin. Die alte Dame kann einem leidtun.« Mit einem Mal empfand ich einen Anflug von Scham. Ich hatte den Männern, die unter der sengenden Sonne arbeiteten, keine Beachtung geschenkt.
»Jetzt, im Sommer, sind nicht viele Ausländer in der Stadt. Die Touristen bevorzugen die kühlere Jahreszeit«, sagte er, wohl um zu erklären, warum ich ihm aufgefallen war.
Oder hatte ich vielleicht hochnäsig oder gar abschätzig gewirkt, als ich an den weiß gekleideten Gärtnern vorbeiging? »Der Garten ist wunderschön, ein wahres Wunderwerk«, beeilte ich mich zu sagen. »Genau die Oase der Ruhe, die Monsieur Majorelle sich erträumt hat. Ich liebe Gärten.«
Aszulay sah mich an, während er entspannt im Schneidersitz auf dem Bettsofa saß, die Hände auf den Oberschenkeln. Seine Augen waren unglaublich blau – wie konnte das sein? Aus irgendeinem Grund empfand ich die unbefangene Art, in der er mich ansah, die weder etwas Bedrohliches noch Absichtsvolles hatte, noch unbehaglicher als zuvor das Schweigen.
»Zu Hause in Amerika habe ich auch einen Garten«, fuhr ich fort. »Beim Pflanzen achte ich immer darauf, ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen Ordnung und natürlichem, ungezähmtem Wachstum. Und was die Blumen anbelangt, so …« Ich unterbrach mich. Was redete ich denn da für einen Unsinn? Ich hatte sagen wollen, dass das Pflanzen für mich auch eine Art Malen war, dass ich sozusagen botanische Bilder kreiere. Warum sollte ich ausgerechnet diesem Mann gegenüber mein Innerstes offenbaren, wo ich seit meinem Weggang aus Albany niemanden daran hatte teilhaben lassen? »Ich interessiere mich für Pflanzen.«
Aszulay nickte. »Sie sollten den Majorelle-Garten nochmals besuchen«, sagte er mit fester Überzeugung. Plötzlich wandte er sich von mir ab. »Ah, da bist du ja.« Er stand auf und blickte zur Treppe.
»Warum ist sie hier?«, fragte Manon und sah mich finster an. Badou spähte hinter ihr hervor.
Aszulay stieg die Stufen empor und reichte ihr die Hand. »Komm und lass uns bitte gastfreundlich sein, Manon. Wenn Besuch da ist, bieten wir ihm Tee und etwas zu essen an«, sagte er geduldig, als spräche er mit einem Kind. »Komm«, sagte er nochmals.
Sie zeigte den Anflug eines Lächelns. Sie war geschminkt und trug wieder ein extravagantes Gewand, eine wunderschöne Kombination aus violetter und malvenfarbener Seide. Dazu hatte sie burgunderrote Slipper an den Füßen, die mit cremefarbenen Blütenranken verziert waren. Ihre üppigen, glänzenden Haare fielen fließend auf ihre Schultern. Als sie die Treppe herunterkam, wehte eine Parfümwolke zu mir her.
Sie war wie eine exotische Blume, die alle einlud, näher zu treten, sie in Augenschein zu nehmen, an ihr zu riechen und ihre Schönheit zu bewundern.
Umso mehr wurde ich mir meiner eigenen Erscheinung bewusst: In meinem schlichten blauen Kleid aus Organdy und plumpen schwarzen Schuhen fühlte ich mich wie ein Mauerblümchen. In der Hitze und feuchten Luft begannen meine Haare sich aus den Haarnadeln zu lösen. Eine dicke Strähne fiel mir über die Wange und verbarg, wie ich hoffte, meine Narbe.
»Setz dich hierhin«, sagte Aszulay und hielt ihre Hand, bis sie auf dem Sofa Platz genommen hatte. »Badou, zieh dir einen Hocker heran und setze dich neben Mademoiselle O’Shea«, fügte er hinzu, als wäre er der Hausherr. Mir fiel auf, wie ungezwungen er mit Manon umging. Er steckte ein Kissen hinter ihren Rücken, damit sie bequemer saß, und drückte sie sanft nach hinten, dann fuhr er durch Badous Haare und strich ihm zärtlich über die Wange.
Aszulay war ganz anders als alle anderen Männer, die ich bislang in Marrakesch gesehen hatte. Inzwischen war mir klar geworden, dass die Männer und Frauen, die die Souks bevölkerten, der Unterschicht angehörten. Die Männer verkauften ihre Waren; sie schoben oder zogen ihre Karren durch die Straßen oder trugen schwere Säcke auf dem Rücken. Sie fuhren Taxi oder lenkten eine calèche, tranken an den kleinen Tischen in den Gassen Tee zusammen. Mit den Adligen und Sultanen Marokkos hatten sie nichts gemein. Und die verschleierten Frauen, die in männlicher Begleitung durch die Straßen huschten, um ihren täglichen Bedarf an Lebensmitteln zu kaufen, waren entweder die Frauen dieser Männer oder aber Bedienstete der Damen in den Harems, jener Frauen, die der Oberschicht der marokkanischen Gesellschaft angehörten und selten die Abgeschiedenheit ihrer Häuser und Innenhöfe verließen.
Ich wusste nicht, welchen Platz Aszulay und Manon in diesem Kosmos hatten. Aszulays lebhafter und offener Blick war der eines Mannes in der Blüte seines Lebens, dessen Attraktivität nicht nur von seinen äußeren Zügen herrührte, sondern auch von innen kam. Vom ersten Augenblick an war er mir anders begegnet, als ich es von seinen Landsleuten gewohnt war: Seine Haltung zeugte nicht von der neugierigen und verächtlichen Art, die andere marokkanische Männer mir entgegenbrachten, die mich entweder anzüglich musterten oder verachteten. Er behandelte mich, wie auch Manon, wie ein Europäer. Auch sprach er ein gepflegtes Französisch, und seine Grammatik war nahezu fehlerlos.
Manon beobachtete Aszulay mit einem Blick, der für mich eindeutig etwas Sinnliches hatte. Auch wenn er nicht darauf einging, wusste ich, dass er ihr Liebhaber war. Es konnte nicht anders sein.
Also hatte sie keinen Ehemann mehr. Ihr Lied fiel mir wieder ein, das sie beim Schminken gesungen hatte und das davon handelte, wie die Männer sich vor Verlangen nach ihr verzehrten.
Ein Anflug von Enttäuschung überkam mich. Enttäuschung darüber, dass ein Mann wie Aszulay sich von einer Frau wie Manon bezirzen ließ. Auf der anderen Seite, so sinnierte ich weiter, erinnerte er mich auch ein wenig an Manon – beide waren sie gefangen zwischen zwei Welten. Obwohl sie ganz und gar marokkanisch anmutete, war sie von Geburt an eine Französin. Er wiederum war ein Blauer Mann, ein Angehöriger eines Nomadenstamms aus der Sahara, der als Gärtner arbeitete, aber wie ein gebildeter Franzose sprach und sich gebärdete.
Ich schüttelte kaum merklich den Kopf, verärgert über mich selbst, weil ich mich diesen müßigen Gedanken hingab. Auch irritierte mich, dass ich gezwungen war, untätig hier zu sitzen und den höflichen Gast zu spielen. Darauf zu warten, dass Manon sich herabließ, mir etwas über Etiennes Aufenthaltsort zu erzählen.
Doch mir blieb nichts anderes übrig, als mich in Geduld zu üben. Abgesehen von den ärgerlichen Blicken, die sie mir gelegentlich zuwarf, schenkte sie mir keinerlei Beachtung.
Aszulay bot Manon das noch volle Glas Tee an. Doch sie lehnte es mit einem Kopfschütteln ab und seufzte leise.
»Hast du immer noch Kopfschmerzen?«, fragte er, und sie ließ ein schnalzendes Geräusch vernehmen.
Aszulay nahm ihr Glas und hob es an ihre Lippen, und sie nippte mit geschlossenen Augen daran.
Ich war mir sicher, dass ihr Unwohlsein nur gespielt war, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Nachdem er das Glas wieder abgestellt hatte, nahm Aszulay den Deckel von der tajine und bedeutete mir mit einer einladenden Geste, mich zu bedienen. Die tönerne Pfanne enthielt einen Berg Couscous, der mit in lange Streifen geschnittenen Karotten und einem grünen Gemüse dekoriert war – Zucchini, wie ich vermutete. Aus dem Couscous ragten Hühnchenteile heraus. Ich würde kaum einen Bissen herunterbekommen, das wusste ich, doch die Höflichkeit gebot es, wenigstens davon zu kosten. Je früher ich aß, desto früher war die Mahlzeit vorbei, sagte ich mir. Dann würde Aszulay wieder an seine Arbeit zurückkehren, und ich würde endlich die Wahrheit aus Manon herausbekommen.
Diesmal würde ich mich nicht entmutigen lassen, diesmal würde ich herausfinden, wo Etienne steckte, schwor ich mir.
»Bitte«, sagte Aszulay, »Sie sind Gast, also bitte fangen Sie an.«
Es gab weder Besteck noch Teller.
»Darf ich essen, Onkel Aszulay?«, fragte Badou. »Ich bin sehr hungrig.«
Aszulay sah mich wieder an und nickte dann Badou aufmunternd zu. Der Junge nahm mit den Fingern seiner rechten Hand von dem Couscous, knetete den Bissen zu einer kleinen Kugel und schob sie sich in den Mund. Aszulay riss ein Fladenbrot in zwei Hälften, von denen er eine zusammenfaltete und sie dazu benutzte, Couscous in den Mund zu löffeln.
Er musste wohl bemerkt haben, dass ich noch nie auf marokkanische Art gegessen hatte, und er führte es mir vor. Ich war ihm dankbar, dass er mir aus der misslichen Lage half, nahm ein Stück Brot und tat es ihm gleich. Meinen Befürchtungen, keinen Bissen herunterzubekommen, zum Trotz, schmeckte mir das Couscous ausgezeichnet. Im Übrigen fiel mir ein, dass ich an diesem Tag noch gar nichts und tags zuvor nur wenig zu mir genommen hatte. Mit einem Mal war ich sehr hungrig und langte abermals zu. Ich sah, wie Aszulay ein Hühnchenbein nahm, und griff meinerseits nach einem Flügel. Doch ich grub die Finger zu tief in die heiße Masse und verbrannte mich. Es war mir peinlich, als ich das Stück erschrocken losließ, fischte es dann aber vorsichtig mit den Fingerspitzen heraus und legte es auf den Rand der tajine.
»Die Marokkaner brauchen keine Gabel«, erklärte Aszulay. Ich sah ihn dankbar an, weil er so verständnisvoll war, und bemerkte gleichzeitig, wie Manon mich mit unverhohlener Feindseligkeit anstarrte. Es missfiel ihr, dass er mir Aufmerksamkeit widmete. Sie war eifersüchtig.
»Manon«, sagte Aszulay und drehte sich zu ihr. »Komm und iss. Du magst doch les courgettes.«
Manon warf einen Blick auf die länglichen Zucchinistreifen und schüttelte dann matt den Kopf. »Ich kann nicht«, sagte sie leise und schloss wieder die Augen. »Es geht mir nicht gut. Heute ist kein guter Tag für mich.« Sie seufzte theatralisch.
»Versprichst du mir, später etwas zu essen?«
Durchschaute er sie denn nicht?, fragte ich mich.
»Ja, Aszulay«, sagte sie gehorsam, mit einem Mal wie verwandelt gegenüber der unberechenbaren Frau, die ich erlebt hatte.
Ich nahm den abgekühlten Hühnchenflügel und biss hinein. Die Haut war knusprig und schmeckte nach Kurkuma. Als wir fertig waren, tauchten wir die Hände in das kühle Zitronenwasser in den bereitstehenden Schälchen. Badou stand auf, kletterte auf den Rand des Springbrunnens und balancierte wieder mit ausgebreiteten Armen darauf.
Nachdem Aszulay einen Blick auf mein Glas geworfen hatte, das noch immer voll war, schenkte er sich selbst noch etwas Tee ein. Ich überzeugte mich davon, dass mein Tee nicht mehr heiß war, und nahm einen Schluck.
»Und?«, sagte Manon und sah mich an. »Was halten Sie von meinem Tuareg?«
Ich fuhr mit der Fingerkuppe über den Rand meines Glases. Aszulay sagte nichts.
»Kennen Sie die Tuareg? Die von Gott Verstoßenen, wie die Araber sie nennen, weil niemand ihnen seinen Willen aufzwängen kann. Die einzigen Gesetze, denen sie gehorchen, sind die der Wüste. Aszulay gehorcht sonst niemandem, stimmt’s?«, sagte sie, an ihn gewandt.
Wieder sagte Aszulay nichts, und auch sein Gesicht verriet nicht, was er dachte.
»Sein Name kommt aus dem Amazigh, einer der Berbersprachen, und bedeutet Mann mit blauen Augen. Sie sind sehr ungewöhnlich, nicht wahr?«, fuhr sie fort.
Was sollte ich darauf antworten? Bis auf das Summen der Fliegen und Falidas leises Atmen, die auf der Schwelle des Hauseingangs kauerte und zu uns herübersah, herrschte eine Zeit lang Stille.
»Und im Gegensatz zu den meisten Männern dieses Landes und anderer Länder auch verehren sie ihre Frauen«, sagte sie. »Stimmt doch, Aszulay? Die Frauen der Tuareg genießen Respekt und leben in Freiheit. Sie bewegen sich ungezwungen und unverschleiert, und die Männer sind stolz auf sie. Sie verstecken ihre Schönheit nicht. Warum erzählst du unserem Gast nicht von euren Frauen, Aszulay?«
Warum bedrängte sie ihn nur so?, fragte ich mich. Doch er schien sie gar nicht zu beachten.
»Manon hat mir noch nicht verraten, was Sie nach Marrakesch geführt hat«, sagte er. »Woher kennen Sie Manon, Mademoiselle?«
Ich befeuchtete die Lippen, dann warf ich Manon einen verstohlenen Blick zu und stellte mein Glas ab. »Ich bin gekommen, weil ich hoffe, Manons Bruder hier zu finden.«
Aszulays Gesicht nahm einen unbeweglichen Ausdruck an. »Manon?«, sagte er, und die Art, wie er ihren Namen aussprach, erfüllte mich mit einer bangen Vorahnung. Er sah mich wieder an. »Sie … Sie suchen nach Etienne?«
Ich stand so rasch auf, dass ich mit dem Saum meines Kleides das Glas umstieß und es auf den gefliesten Boden fiel, wo es zersprang. »Sie kennen ihn?« Ich ging um den Tisch herum.
Er stand ebenfalls auf, und ich musste den Kopf heben, um ihn anzusehen. »Sie kennen Etienne? Ist er hier? Wo ist er? Bitte, wo ist er?«
»Mademoiselle O’Shea, sind Sie …«
Manon war ebenfalls aufgestanden. »Lass uns allein, Aszulay«, sagte sie laut und mit fester Stimme. Nichts mehr an ihr erinnerte an die schwache, anlehnungsbedürftige Frau von zuvor. »Ich will, dass du jetzt gehst. Ich will allein mit ihr darüber reden.«
Darüber hatte sie gesagt. Nicht über ihn.
»Mademoiselle O’Shea«, sagte Aszulay erneut, »Etienne ist …«
Wieder fiel Manon ihm ins Wort. »Aszulay!« Ihr Ton war barsch. »Das ist mein Haus, und du wirst nun tun, was ich dir sage.«
Also doch. Mit einem Mal sprach sie im selben Ton mit ihm wie mit mir.
Er öffnete den Mund, als wollte er ihr widersprechen, schloss ihn aber wieder. Dann nahm er die lange indigofarbene Stoffbahn, seinen Turban, vom Sofa, durchquerte in langen Schritten den Innenhof und verschwand durch das Tor, das krachend hinter ihm zufiel.
»Falida. Räum den Tisch ab und erledige den Abwasch. Badou, hilf ihr!«, sagte Manon im Befehlston.
Als die Kinder alles hineingetragen hatten, klopfte Manon auf den Platz neben sich. Sie saß wieder auf dem Sofa. »Kommen Sie und setzen Sie sich neben mich«, sagte sie, und ihr mit einem Mal freundlicher Ton beunruhigte mich noch mehr als ihr barsches Benehmen von zuvor. Ich rührte mich nicht.
»Kommen Sie«, sagte sie erneut und lächelte. »Setzen Sie sich zu mir, dann erzähle ich Ihnen, wo Etienne ist.«
Ich schluckte und kam ihrer Aufforderung nach. Kaum hatte ich neben ihr Platz genommen, ergriff sie meine Hand. »Was für kleine Hände Sie haben«, sagte sie und streichelte über meinen Handrücken. »Ich kann sehen, dass Sie körperliche Arbeit verrichtet haben, aber keine besonders harte, oder irre ich mich, Sidonie?« Sie wechselte zu meinem Vornamen und sprach ihn so vertraut aus, als hätte sie ein Recht dazu. Dann drückte sie mit beiden Händen so fest, dass es schmerzte. Ich versuchte, ihr meine Hand zu entziehen, doch sie ließ sie nicht los. Ich erschrak angesichts ihrer Kraft und begriff, dass ich mich vor ihr in Acht nehmen musste.
»Ich habe schon immer gearbeitet«, sagte ich und dachte abwesend an die Hausarbeit, die ich zu Hause erledigt hatte, an die Wäsche, das Kochen und die Arbeit im Garten.
»Aber Sie haben nie wie ich gearbeitet. Nicht die Art von Arbeit, zu der ich gezwungen war, um zu überleben.« Wäre die Situation eine andere gewesen, hätte ich den Ton ihrer Stimme als kokett gedeutet.
Ich rief mir in Erinnerung, was Etienne mir über sein Elternhaus erzählt hatte. »Aber … als Sie jung waren … Etienne hat mir erzählt, dass seine Familie ein privilegiertes Leben führte.«
Als sie nicht antwortete, ergriff ich abermals das Wort. »Und dieses Haus, in dem Sie leben. Wenn ich mir Ihre Umgebung betrachte, kann Ihr Leben so schlimm …«
Sie schnalzte so laut mit der Zunge, dass ich unwillkürlich verstummte. »Ich habe nicht immer in so einem Haus gewohnt.« Ihre Worte verwirrten mich. Sie fuhr mit den Fingerspitzen über den Knöchel meines Mittelfingers sowie den Handballen, an dem vom Reiben des Pinsels über die Jahre hinweg Hornhaut gewachsen war. Auch wenn jetzt kaum mehr etwas davon zu spüren war, hörte sie nicht auf darüberzustreichen.
»Woher kommt das?«, fragte sie.
»Vom Halten eines Pinsels.«
Sie schüttelte den Kopf, noch immer dieses grässliche Lächeln auf den Lippen. »Es wird ja immer interessanter.«
»Was … was meinen Sie damit?«
Nach einer Weile, die mir endlos vorkam, sagte sie: »Aber Sie haben doch meine Bilder gesehen.«
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen. »Die Bilder im Haus? Sie haben die gemalt?« Ich hatte lauter gesprochen als beabsichtigt.
»Sie glauben mir nicht?«, sagte sie träge.
»Nein. Ich meine … doch, natürlich glaube ich Ihnen. Es ist nur …« Meine Stimme erstarb.
Noch ein Geheimnis. Etienne war mit einer Schwester aufgewachsen, die malte, ohne je ein Wort davon zu sagen, während er meine Bilder betrachtete und behauptete, er verstehe so wenig von Kunst.
»Wo haben Sie Malen gelernt? In Frankreich? Haben Sie Unterricht genommen?«
»In Frankreich, Sidonie?« Manon gab ein Krächzen von sich, das vielleicht ein missglücktes Lachen war. »In Frankreich?«, wiederholte sie, als amüsierte sie der Gedanke. »Sie denken also, ich hätte in Frankreich studiert?«
»Aber Etienne hat ja auch in Frankreich studiert. Also warum sollte ich nicht annehmen, dass auch Sie, na ja …« Als ich Manons Gesichtsausdruck sah, ließ ich den Satz unbeendet. Sie wirkte nun nicht mehr amüsiert, sondern wütend.
»Selbstverständlich habe ich nicht in Frankreich studiert.« Ihr Ton gab mir zu verstehen, dass sie mich für eine Idiotin hielt. Doch plötzlich lächelte sie wieder. »Und nun erzählen Sie mir von Ihren Bildern.«
»Bitte, können wir nicht …«
»Ich bestehe darauf. Wir plaudern ein wenig. Sie erzählen mir, was ich wissen will, und dann erzähle ich Ihnen, was Sie wissen wollen.«
Ich kaute wieder auf der Innenseite meiner Wange, die schon wund war. »Ich male andere Bilder als Sie. Ich male Aquarelle, Pflanzen und Vögel.«
Manon starrte mich einen Moment lang mit einem Ausdruck an, den ich nicht zu deuten vermochte. »Also hat es Etienne gefallen, dass diese kleine amerikanische Maus hübsche Bilder malt?« Ein spöttischer Ton lag in ihrer Stimme, besonders als sie das Wort souris – Maus – aussprach.
Am liebsten hätte ich sie angeschrien: Ich bin keine Maus, wie können Sie es wagen? Stattdessen sagte ich so ruhig ich es unter diesen Umständen vermochte: »Ja. Etienne haben meine Bilder durchaus gefallen.« Ich durfte sie nicht weiter verärgern. Inzwischen wusste ich, wie schnell sie sich verschließen konnte, um mich dann wegzuschicken.
»Hat er Ihnen das gesagt? Dass ihm Ihre Bilder gefallen? Sie glauben, dass er auf solch harmlose Motive steht? Was, glauben Sie, hält er wohl von meinen Werken?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Und ich weiß auch nicht, warum Sie so wütend auf mich sind. Ich habe Ihren Bruder glücklich gemacht, Madame Maliki. Wollen Sie nicht, dass er glücklich ist?«
Während sie noch immer meine Hand hielt und mir mit erschreckender Eindringlichkeit ins Gesicht starrte, öffnete Manon die Lippen und näherte ihr Gesicht so nah dem meinen, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde dachte, sie wolle mich küssen. Unwillkürlich drehte ich den Kopf zur Seite, um ihrem Mund auszuweichen, und spürte, wie ihre Lippen mein Ohr berührten. »Etienne gibt es nicht mehr«, sagte sie so leise, dass ich sie kaum verstand.
Ich wich ihrem Atem aus, der unangenehm auf meiner Wange brannte. »Wie bitte? Was haben Sie gerade gesagt? Was meinen Sie damit?«
Manon lehnte sich zurück, und der Griff um meine Hand lockerte sich ein wenig, obwohl sie sie noch immer nicht freigab. In normaler Lautstärke erklärte sie: »Ich sagte, Etienne gibt es nicht mehr, Sidonie. Er lebt nicht mehr. Er ist auf dem Friedhof hinter der Kirche der heiligen Märtyrer begraben.« Obwohl uns nun mindestens ein Meter trennte, nahm ich einen säuerlichen Geruch in ihrem Atem wahr, der tief aus ihrem Inneren zu kommen schien. Es verursachte mir Übelkeit. Ich schluckte.
»Das meinen Sie nicht ernst, Manon.« Ich hatte ohne nachzudenken ihren Vornamen benutzt. Ich schüttelte mehrmals den Kopf, als könnte ich so ihre Worte auslöschen. Dann entriss ich ihr meine Hand. »Das ist nicht wahr. Es ist nicht wahr«, sagte ich nochmals und schüttelte Manon. »Sagen Sie mir, dass Etienne nicht tot ist!«
Sie nickte und lächelte nun nicht mehr, sondern starrte mich an, sodass ihre mit Kohl umrandeten Augen riesig wirkten. Ich war wie gebannt, konnte den Blick nicht von ihnen abwenden. Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und rang verzweifelt nach Atem, während Manons Gestalt immer dünner wurde und verschwamm. Ich starrte sie an, drohte zu ersticken, während sie einfach dasaß und mich mit ihren Augen festhielt.