SIEBENUNDZWANZIG

Als ich ein paar Tage später dabei war, eine Marokkanerin zu malen, hielt ich inne und ging zum Spiegel. Ich band eines meiner weißen Leinentaschentücher um die untere Hälfte meines Gesichts und betrachtete nachdenklich mein Spiegelbild. Mit einem haik bekleidet, sodass nur die dunklen Augen und Augenbrauen sichtbar waren, würde man mich nicht von den anderen Frauen in den Souks unterscheiden können.

Zwar waren mir der Dschemma el Fna und einige der Märkte inzwischen vertrauter, aber noch immer fühlte ich mich unwohl, wenn ich allein in die Medina ging. Die starrenden Blicke der Erwachsenen verursachten mir eine Gänsehaut, und die Scharen bettelnder Kinder, die sich mir an die Röcke hefteten, waren mir ebenso lästig wie die aufdringlichen Zurufe der Händler, die mich zum Kauf ihrer Waren drängen wollten, oder die Tatsache, dass ich immer wieder scheinbar unabsichtlich angerempelt wurde.

Ich verließ das Hotel und blieb vor den Schaufenstern der teuren Bekleidungsgeschäfte in der Ville Nouvelle stehen, in denen kostbare Seidenkaftane ausgestellt waren. Dann ging ich in die Medina, wo ich einen Souk fand, in dem die gleichen Modelle für einen Bruchteil der Preise zu haben waren, die in den noblen Geschäften verlangt wurden. Ich besah mir die einfacheren Modelle und kaufte einen Kaftan, nachdem ich lange und ausgiebig mit dem Händler gefeilscht hatte. Der Kattun hatte ein Muster aus kleinen roten Blumen auf gelbem Untergrund. Dazu erwarb ich einen haik und einen Gesichtschleier. Zurück in meinem Hotelzimmer, probierte ich die Sachen an.

Lange betrachtete ich mich im Spiegel, dann zog ich sie wieder aus und malte das begonnene Bild zu Ende. Am nächsten Morgen verließ ich als Marokkanerin verkleidet das Hotel und begab mich zum Dschemma el Fna. Ich schlenderte über den Platz und schaute mich um. Bisher war ich immer eilig am Rand entlanggegangen und hatte darauf geachtet, die Blicke der Männer zu vermeiden und keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Dieses Mal war es anders. Ich war unsichtbar geworden. Und diese Unsichtbarkeit ging mit Freiheit einher. Niemand nahm Notiz von mir – weder Franzosen noch Marokkaner. Ich konnte mich frei bewegen. Ich konnte nach Belieben irgendwo stehen bleiben und beobachten, konnte lauschen. Es war so viel einfacher, seine Umwelt kennenzulernen, wenn man nicht ständig auf der Hut sein musste.

Plötzlich erblickte ich Mohammed mit dem kleinen Affen auf der Schulter, ohne dass er mich bemerkte. Ich sah den Schlangenbeschwörern zu; mir fiel auf, dass die Schlangen in der gleißenden Sonne lebhafter tanzten als sonst. Ich sah eine Kinderschar, die ein europäisches Paar bedrängte, das vor ihnen flüchtete, wie ich noch vor einigen Tagen. Ein kleiner Junge war darunter, der mich an Badou erinnerte, und mit einem Mal sehnte ich mich danach, ihn wiederzusehen. Ich hoffte, dass ich die Gelegenheit dazu bekäme, wenn Etienne zurückkehrte; wenn Manon erkannte, dass Etienne zu mir stand, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als sich mit mir abzufinden, auch wenn es ihr gegen den Strich ging.

Am Ende meiner ersten Woche in dem kleinen Hotel wählte ich zwei meiner Aquarelle aus, zog mein grünes Seidenkleid an und begab mich ins Hôtel de la Palmeraie. Als Monsieur Henri mich auf den Tresen zukommen sah, erstarrten seine Gesichtszüge.

»Bonjour, Monsieur«, sagte ich. »Wie geht es Ihnen?«

»Gut, Mademoiselle. Was kann ich für Sie tun?« Er spähte nach unten, um zu sehen, ob ich Gepäck dabeihatte.

»Ich würde gern etwas mit Ihnen besprechen.«

»Sie sind also nicht wegen eines Zimmers gekommen?«

»Nein.« Ich lächelte und bemühte mich, meine Nervosität zu überspielen. Ich musste meine Worte mit Bedacht wählen es hing nun alles davon ab, wie ich mein Anliegen vorbrachte. »Nein, ich brauche kein Zimmer.« Ich zog die beiden Aquarelle aus meiner Mappe. »Ich wollte Ihnen diese Bilder zeigen, die ich kürzlich gemalt habe, und Sie fragen, ob Sie vielleicht daran interessiert sind, sie zu den anderen zu hängen und in Kommission zu verkaufen.«

Er betrachtete sie und sah dann mich wieder an. »Sie sagten, Sie hätten sie selbst gemalt, Mademoiselle?«

Ich nickte. »Finden Sie nicht auch, dass sie gut zu den Bildern passen würden, die in der Lobby ausgestellt sind?« Wieder setzte ich ein Lächeln auf und zwang mich, mich möglichst geschäftsmäßig zu geben und meine Anspannung zu verbergen. Wenn ich in Marrakesch bleiben wollte, um auf Etienne zu warten, brauchte ich dringend Geld. Und dies hier war meine einzige Chance, das wusste ich.

Er sagte nicht Nein, sondern neigte den Kopf zur Seite. »Ich kann es natürlich nicht allein entscheiden, wir haben einen Einkäufer, der sich nicht nur um die kunsthandwerklichen Dinge und den Schmuck kümmert, die im Hotel verkauft werden, sondern auch um die ausgestellten Bilder.«

»Aber ich bin sicher, dass Sie Ihren Einfluss geltend machen können. Schließlich sind Sie ein Mann mit vorzüglichem Geschmack.«

Offensichtlich fühlte er sich geschmeichelt, denn Monsieur Henris Züge entspannten sich. »Ich werde sehen, was ich tun kann. In letzter Zeit haben wir einige Bilder verkauft, und ein neuer Künstler unter den bereits eingeführten würde sich vielleicht gut machen.«

Ich war so erleichtert, dass ich einen Moment lang brauchte, um eine Erwiderung zustande zu bringen. Er hatte mir zwar nichts versprochen, aber allein schon, dass er mich nicht abgewiesen hatte, war ein Erfolg. »Wunderbar. Ich lasse Ihnen die Bilder hier und komme in ein paar Tagen wieder, um zu erfahren, ob das Hotel bereit ist, sie auszustellen. Ich hätte noch mehr Bilder, falls Interesse besteht.« Zwei weitere waren fertig, und am Morgen hatte ich ein neues begonnen.

»Danke, Mademoiselle«, sagte Monsieur Henri mit einer angedeuteten Verbeugung.

Ich hob das Kinn und schenkte ihm ein offenes, dankbares Lächeln.

Während ich die Hotelhalle verließ, dachte ich über seine Worte nach  ein neuer Künstler –, und unwillkürlich wurde mein Schritt beschwingter. Als ein älterer Herr mich ansah und höflich den Hut lüpfte, ertappte ich mich dabei, wie ich noch immer lächelte.

Ein paar Tage später war ich in dem Souk, in dem vorwiegend Silberwaren verkauft wurden, und betrachtete einen feingliedrigen Silberring mit einem quadratisch geschnittenen Topaz. Am Morgen hatte ich abermals das Hôtel de la Palmeraie aufgesucht, und Monsieur Henri hatte mir gesagt, dass meine Werke dem zuständigen Einkäufer gut gefallen hätten. Er würde beide zu den ausgestellten Bildern hängen. Und bei Interesse würde er weitere annehmen.

Ich hielt den Ring auf Armeslänge von mir weg und bewunderte, wie das Sonnenlicht die verschiedenen Farbfacetten des Steins zur Geltung brachte. Dabei überlegte ich, ob es mir gelänge, diese Schattierungen auf dem Papier zu kreieren. Als ich den Ring dem Händler zurückgab, hörte ich eine vertraute Stimme und drehte mich um. Es war Falida, sie trug ein großes fadenscheiniges Baumwolltuch auf dem Kopf und hatte die Riemen einer gewebten Tasche über die Schulter geschlungen. Neben ihr ging Badou, den sie an der Hand hielt.

Mein Herz machte einen Satz. »Badou!«, rief ich, und er blickte sich suchend um. Offensichtlich erkannte er mich nicht. Ich ließ den haik vor dem Gesicht auseinanderfallen und rief erneut seinen Namen, und diesmal starrte er einen Moment lang in meine Richtung, ehe er Falidas Hand losließ, zu mir rannte und die Arme um meine Beine schlang, wie er es sonst immer nur bei Aszulay gemacht hatte. Ich ging neben ihm in die Hocke und zog ihn in die Arme. Er fühlte sich sehr dünn an. Sein Haar war zu lang und hing ihm über die Augen, sodass er es immer wieder mit einer Kopfbewegung nach hinten schütteln musste.

»Ich habe dich lange nicht gesehen, Sidonie«, sagte er und wich etwas zurück, um mich in Augenschein zu nehmen. »Du schaust jetzt ganz anders aus.«

»Ich habe dich vermisst, Badou.«

Falida trat zu uns. Auf einem ihrer Wangenknochen prangte ein großer violetter Fleck mit gelblichen Rändern. Bei ihrem Anblick überkam mich Mitleid. Zwar wirkte Badou unterernährt und vernachlässigt, doch wenigstens deutete nichts darauf hin, dass Manon auch ihn schlug. Noch nicht, dachte ich unwillkürlich. »Erledigst du Einkäufe, Falida?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf, ohne ihre finstere Miene abzulegen.

»Wo geht ihr hin?«

Sie antwortete nicht, sondern nahm Badou wieder bei der Hand.

»Wartet«, sagte ich. Sie zog ihn bereits weiter, doch Badou blickte über die Schulter zu mir zurück. Ich folgte ihnen. »Ich komme mit euch.« Falida hob gleichgültig die Schulter und setzte zielstrebig ihren Weg fort. Doch sie gingen nicht in die Sharia Zitoun, sondern in die entgegengesetzte Richtung.

Allein in einer fremden Stadt, spürte ich mit einem Mal, wie gut es tat, endlich wieder zwei bekannte Menschen zu treffen, auch wenn es nur zwei Kinder waren.

Wir kamen durch einige enge Sträßchen, die ich noch nicht kannte, bis Falida schließlich ein unverschlossenes Tor öffnete. Ich musste mich unter dem niedrigen Türsturz hindurchducken, und als ich mich wieder aufrichtete, sah ich, dass wir uns außerhalb der Medina befanden. Hinter einer niedrigen, halb verfallenen Mauer lag ein Friedhof. An der Mauer war ein Schild angebracht, auf dem in Arabisch und Französisch stand: Interdit Aux Non-Musulmans. Nichtmuslimen ist der Zutritt nicht gestattet. Ich blieb stehen.

Falida indessen kletterte über die Mauer, beugte sich zu Badou hinüber und hob ihn darüber. Dann gingen sie zwischen den verstreut liegenden Erdhügeln umher. Es gab weder Bäume noch Blumen noch Grabsteine, abgesehen von ein paar schief in der Erde steckender, abgebrochener Ziegelsteine am Kopf- und Fußende der neueren Gräber. Der Friedhof war von Abfall übersät. Er bot einen trostlosen, öden Anblick.

»Wartet!«, rief ich abermals und kletterte ebenfalls über die Mauer. Es gefiel mir nicht, dass Badou sich an so einem Ort aufhielt.

Falida suchte offensichtlich etwas, denn sie hielt immer wieder vor einem Erdhügel inne und betrachtete ihn eingehend. Ich hielt mich hinter den beiden, auch wenn ich nicht wusste, was sie hier taten. Badou umklammerte schweigend die Hand des Mädchens.

Schließlich blieb sie vor einem der niedrigeren Gräber stehen, stellte die gewebte Tasche ab, löste sich aus Badous Umklammerung und hockte sich auf die Fersen. Badou kam zu mir, und ich ergriff seine Hand, während ich Falida beobachtete.

Als ich erkannte, was sie da tat, war ich schockiert. Mir fiel auf, dass die Erde des Grabes locker aufgehäuft war, und das Mädchen grub nun mit beiden Händen darin. »Falida«, sagte ich, doch sie beachtete mich nicht. Als sie reichlich Erde weggeschaufelt hatte, erkannte ich den Fetzen eines Leichentuchs. Ich drehte Badou mit dem Gesicht zu mir, um ihm den Anblick zu ersparen, und legte ihm die Hände auf die Schultern.

»Falida«, sagte ich, strenger diesmal, woraufhin sie zu graben aufhörte und zu mir aufsah. »Was machst du da?«

»Ich hole für meine Herrin.«

»Was holst du?«

»Sie brauchen.«

»Was braucht sie von hier?«

Falida hatte sich bereits wieder dem Erdhügel zugewandt und suchte mit den Händen die Erde ab. Plötzlich sah ich unter ihren Fingern die Form eines Schädels, der in ein Tuch gehüllt war. Ich schluckte und hielt Badous Gesicht an meinen haik gepresst. Ich wollte, dass Falida augenblicklich aufhörte, doch sie machte sich bereits wieder mit routinierten Bewegungen in der Erde zu schaffen, so als täte sie es nicht zum ersten Mal, und zerrte an dem alten Tuch, das unter ihren Händen zerriss. Und dann zog sie zu meinem Schrecken einen ausgeblichenen, spröden Knochen hervor. »Nur von alte Grab«, sagte sie lächelnd. »Hitze backen Knochen.« Der Knochen hatte eine runde Form. Sie verstaute ihn in der gewebten Tasche. »Noch einen«, sagte sie und machte sich abermals an dem Tuch zu schaffen.

»Wird Aisha-Quandisha uns jetzt holen?«, fragte Badou, dessen Stimme durch den Stoff meines haik gedämpft klang. Er zitterte. Warum hatte Falida ihn an diesen grausigen Ort mitgenommen und mutete ihm zu, Zeuge ihres grässlichen Tuns zu werden? Hatte Manon es ihr gar befohlen?

»Nicht, wenn du guter Junge«, sagte Falida, und doch sah sie sich selbst mit angstgeweiteten Augen um.

Zuerst dachte ich, Badou hätte von einer Art Friedhofswächter gesprochen. »Wo ist er?«, fragte ich Falida.

»Sie. Ist Frau, aber Beine von Kamel. Böser Dämon. Augen wie …«, sie unterbrach sich, »… Feuer. Kommt nachts zu Gräbern und fängt Männer. Sie mögen Männer.«

»Ich werde Badou jetzt nach Hause bringen«, sagte ich, weil ich nicht länger mit ansehen konnte, wie er vor Angst zitterte. Ich ergriff seine Hand, und als ich über das schmale Grab hinwegsteigen wollte, stieß Falida einen Schrei aus. Ich hielt erschrocken inne.

»Nein, Madame, nicht über Grab gehen.«

Instinktiv wich ich einen Schritt zurück.

»Wenn über Grab steigen, kein Baby mehr in Ihnen wachsen«, sagte sie und tätschelte sich den Bauch.

Ich betrachtete ihr schmales, von Blutergüssen entstelltes Gesicht und ihren besorgten Ausdruck und dachte über ihre Worte nach.

Mit Etienne würde es ohnehin kein Kind mehr geben. Er würde eine neue Schwangerschaft zu verhindern wissen.

Warum war mir dieser Gedanke nicht schon vorher gekommen? Immerzu war ich darauf fixiert gewesen, ihn zu finden, ihm meine Liebe zu zeigen und ihm beizustehen, während seine Krankheit Besitz von ihm ergriff. Doch ausgerechnet Falida musste mich, noch dazu an einem solch düsteren Ort, daran erinnern, dass ich niemals Mutter sein würde. Nie würde ich mein eigenes Kind in den Armen halten und zusehen, wie es wuchs. Ehe ich Etienne begegnet und schwanger geworden war, hatte ich mich mit einem Leben ohne Mann und Kind abgefunden, als Vermächtnis meiner Kinderlähmung, und es ganz einfach nicht zugelassen, mich nach einem anderen Leben zu sehnen. Doch seit ich eine kurze, aber intensive Zeit lang einen Vorgeschmack auf die Mutterschaft gekostet hatte, war es für mich schwer, wieder den alten Zustand zu akzeptieren und meine Sehnsüchte zu unterdrücken.

Einen Moment lang stand ich noch auf dem trostlosen Friedhof da und sah zu, wie Falida wieder in der Erde grub. Badous kleine Finger bogen sich fest um meine Hand, und ich spürte seinen feuchten Handballen.

Langsam ging ich mit ihm um das Grab herum. Plötzlich stieß Falida einen Freudenschrei aus. »Ich haben!« Und ich sah, wie sie einen Zahn hochhielt.

Ich verspürte einen starken Brechreiz.

»Zahn am besten!«, sagte Falida mit breitem Grinsen. »Nun Herrin zufrieden mit mir.«

Ich begleitete die beiden in die Sharia Zitoun zurück. In der Gasse der Holzhandwerker machte ich Halt bei einem Laden und kaufte Badou ein kleines geschnitztes Boot, in der Hoffnung, ihn von dem schauerlichen Erlebnis abzulenken. Mir selbst hatte es Angst eingejagt, und ich fragte mich, wie schlimm es erst für einen kleinen Jungen sein mochte.

Als ich mit Falida und Badou durch das safrangelbe Tor in den Innenhof trat, sprang Manon auf. Sie war nicht allein. Der Franzose, Olivier, war bei ihr. Er trug eine Leinenhose, aber kein Jackett, sondern nur ein weißes Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt waren. Vor ihnen auf dem Boden stand die shisha, und auf dem niedrigen Tisch erblickte ich eine Cognacflasche und zwei Gläser. Wie gewohnt trug Manon einen wunderschönen Kaftan mit einer durchsichtigen dfina darüber. Das Haar hatte sie raffiniert frisiert und ihr übliches Make-up aufgelegt.

Mit finsterem Blick musterte sie meinen haik, während ich, eine Hand auf der Klinke, am offenen Tor stand.

»Warum bist du noch hier?«, fragte sie barsch. »Was machst du noch in Marrakesch?«

Ich antwortete nicht.

Falida reichte ihr den Korb. »Kniescheibe und Zahn, Herrin«, sagte sie. »Gut?«

»Bring es ins Haus hinein«, sagte Manon schnell und warf einen flüchtigen Blick zu ihrem Liebhaber. Der stand auf und ergriff sein Jackett. »Du musst doch noch nicht gehen, Olivier?«, sagte sie und legte ihm ihre schmale Hand auf den Arm.

Er rollte die Ärmel hinunter. »Na ja, die Kinder sind wieder da. Außerdem hast du Besuch.« Er deutete mit einer Kinnbewegung zu mir.

»Sie ist nicht willkommen«, sagte Manon, »und die Kinder kann ich wieder wegschicken. Sag, dass du noch ein wenig bleibst, Olivier«, sagte sie mit säuselnder Stimme.

Doch der Franzose schüttelte den Kopf. »Ich muss ohnehin wieder zur Arbeit zurück.«

»Wann kommst du wieder, mon cher?«

»Nächste Woche zur selben Zeit.«

Er kam auf das Tor zu, und ich trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Manon folgte ihm, nahm seine Hand. »Nächste Woche reden wir weiter, nicht wahr, mon cher?« Er drehte sich zu ihr um und fuhr mit dem Handrücken über ihre Wange.

»Aber sicher.« Er nickte, die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen.

Als das Tor hinter ihm ins Schloss fiel, wirbelte Manon zu mir herum. »Warum bist du gekommen? Du hast mich bei einer wichtigen Unterhaltung gestört. Es gibt keinen Grund mehr für dich, hier zu sein, weder hier in meinem Haus noch in Marrakesch. Du vergeudest nur deine Zeit.« Sie spuckte die Worte geradezu aus. »Geh jetzt, ich will dich hier nicht mehr sehen. Zwischen uns ist alles gesagt.«

Badou, der sein neues Boot über den Brunnenrand fahren ließ, beobachtete uns.

Manon drehte sich um und ging mit wehenden Gewändern ins Haus.

Ich trat auf die Straße hinaus. Was hatte ich erwartet, als ich die Kinder zurückbegleitete?

Ein Stück weiter waren Kinderrufe zu hören, und ich erblickte vier Jungen, die Fußball spielten.

Hinter mir hörte ich leise Schritte, und als ich mich umdrehte, bemerkte ich Badou, der mir folgte. Er trat zu mir und drückte das Boot an die Brust, während er zu den Jungen hinübersah. Zwei waren größer als er, einer ungefähr gleich alt und der vierte etwas kleiner. Der hielt sich zurück und trat nur gelegentlich den Ball, wenn er zufällig in seine Richtung rollte.

»Sind das deine Freunde?«, fragte ich Badou.

Er sah mich an und schüttelte den Kopf. »Ich kenne nur Ali. Er ist sechs wie ich. Er wohnt dort.« Er deutete zu dem gegenüberliegenden Tor.

»Warum spielst du nicht mit ihnen?«

»Maman sagt, ich darf nicht, weil es nur Araber sind.« Wieder blickte er sehnsuchtsvoll zu den Jungen. »Sie sagt, es ist besser, wenn ich ihr helfe. Ein Sohn muss seiner Mutter helfen.«

Mir ging durch den Kopf, dass er seine ganze Zeit im Haus und Innenhof verbrachte, indem er Falida zur Hand ging und sich von Manon rumscheuchen lassen musste. Nie hatte ich ihn mit einem anderen Kind spielen sehen, und Spielzeug schien er ebenfalls keines zu haben, abgesehen von einem Faden oder ein paar Holzstöcken, oder gelegentlich einem vom Nachbarjungen geborgten Welpen.

»Ich bin Mamans Sohn«, sagte er. »Kommst du wieder einmal zu uns?«

»Ich weiß nicht, Badou. Vielleicht … vielleicht, wenn Onkel Etienne wieder da ist. Weißt du, ob er bald zurückkehrt? Oder war er vielleicht schon da, um deine Mama zu besuchen?«, fragte ich und schämte mich sogleich, weil ich dabei war, ein kleines Kind auszufragen. Dennoch: Vielleicht war Etienne ja bereits in Marrakesch, ohne dass Aszulay davon wusste.

»Nein«, sagte Badou. »Ich muss wieder hineingehen, sonst wird Maman böse.«

»Ist gut, Badou.« Ich beugte mich zu ihm hinab und umarmte ihn, und er erwiderte meine Geste, indem er seine dünnen Arme um meinen Hals schlang.

Inzwischen trug ich stets Kaftan, haik und Kopfschleier, wenn ich das Hotel verließ und mit meiner gewebten Tasche Einkäufe erledigte. Die Französinnen, die in den Straßencafés in der Ville Nouvelle saßen, nachlässig eine Zigarette rauchten und an einem Aperitif nippten, sah ich nun mit neuen Augen. Auch auf dem Dschemma el Fna oder in den Souks beobachtete ich sie, wenn sie um den Preis eines Teppichs oder einer Teekanne feilschten und geflissentlich die Bettler übersahen, die die Hände ausstreckten und »Bakschisch« riefen – um ein Almosen bettelten.

Jetzt wurde mir klar, wie verletzlich diese Frauen mit ihren unbedeckten Gesichtern wirkten, in denen jeder offen lesen konnte, und mit ihren unbedeckten Armen und Beinen, die sie beinahe nackt erschienen ließen.

Obwohl es in Wirklichkeit nur ein paar Wochen her war, seit ich beschlossen hatte, mich äußerlich in eine Marokkanerin zu verwandeln, schien es eine Ewigkeit her zu sein, dass ich in der Medina, fern der Sicherheit und vertrauten Atmosphäre der europäischen Enklave, ebenso ungeschützt und verwundbar gewesen war wie diese Frauen. Und plötzlich war es für mich aus einem unerfindlichen Grund wichtig, mich von diesen Frauen abzugrenzen, die nur an sich und die Erfüllung ihrer belanglosen Wünsche dachten.

Als die vier Wochen verstrichen waren, von denen Aszulay gesprochen hatte, zählte ich eines Morgens mein Geld. Wenn ich so gut wie nichts aß, würde ich vielleicht noch zwei Wochen bleiben können. Keines meiner Bilder war verkauft worden; ich fragte alle paar Tage im Hotel nach. Ich hatte drei weitere gemalt, doch nun waren mir Papier und einige der Farben ausgegangen, und ich konnte es mir nicht leisten, weiteren Malbedarf zu kaufen.

Doch wenn erst Etienne wieder in Marrakesch war, so sagte ich mir, würde alles wieder ins Lot kommen.

Wie jeden Morgen begab ich mich zu dem schäbigen Empfangstresen des Hotels und fragte, ob jemand eine Nachricht für mich hinterlassen habe. Der Mann, der meistens dort saß – neben ihm gab es noch drei oder vier weitere Mitarbeiter –, warf einen Blick in die Fächer hinter ihm und schüttelte den Kopf. »Leider nein.«

Ich bedankte mich, doch als ich mich zum Gehen wandte, sagte er, während eine leichte Röte seine Wangen überzog: »Ich weiß, dass Sie Amerikanerin sind. Aber die anderen Gäste …« Er unterbrach sich, ehe er weitersprach, offensichtlich war es ihm peinlich, was er mir mitzuteilen hatte. »Sie sagen, sie wohnen hier, weil es ein Hotel für ausländische Gäste ist, für Besucher aus Frankreich, Deutschland, Spanien und Großbritannien. Und aus Amerika.«

»Und?«

Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Es tut mir leid, Mademoiselle. Aber es ist unangebracht, dass Sie sich wie eine muslimische Frau kleiden, während Sie hier zu Gast sind. Es stört die anderen Gäste. Es gab Beschwerden, verstehen Sie. Wenn Sie auf dieser Kleidung bestehen, muss ich Sie bitten, das Hotel zu verlassen.«

»Ich verstehe«, sagte ich, drehte mich um und ging auf die Straße hinaus.

Als ich aus der schummrigen Hotelhalle trat, musste ich erst einmal gegen das grelle Licht anblinzeln, bis sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Dann sah ich ihn.

Auf dem Gehsteig vor dem Hotel stand Aszulay. Er trug seine blauen Gewänder und hatte das Ende des Turbans um die untere Gesichtshälfte geschlungen. Er blickte die Straße hinunter, sodass ich sein teilweise bedecktes Profil sah, und einen Augenblick lang hielt ich den Atem an.