VIER
Während ich an der Rezeption des Hotels Continental in Tanger wartete, um meinen Zimmerschlüssel in Empfang zu nehmen, stellte ich fest, dass der Amerikaner vom Fährschiff es recht treffend beschrieben hatte: Die anderen Gäste waren elegant und nach der neuesten Mode gekleidet, und das Hotel war sehr ansprechend, eine gelungene Kombination aus europäischen und arabischen Elementen.
Ich schlenderte zu einer Tafel, die in der Nähe der Rezeption an der Wand angebracht war. Der Beschriftung war zu entnehmen, dass Alfred, der Sohn Königin Victorias, einer der ersten Besitzer des Hotels gewesen war. Als ich die Finger über die Tafel gleiten ließ, fiel mir abermals der Trauerrand unter meinen Fingernägeln auf.
Ein Hotelboy mit kastanienbraunem Fes begleitete mich zu meinem Zimmer. Der Stoff am Rand seiner Kopfbedeckung war ausgeblichen, und die Quaste hatte ebenfalls bessere Zeiten gesehen. Mit einem breiten Lächeln und einem Nicken stellte er meine Koffer auf den Boden meines Zimmers. »Omar«, sagte er und klopfte sich an die Brust. »Omar.«
Ich legte ein paar Centimes in seine Hand.
»Danke, Omar. Kann ich zu dieser Tageszeit irgendwo etwas zu essen bekommen?«, fragte ich ihn, und während er angestrengt meine Lippen betrachtete, wie jemand, der sich bemüht, eine Sprache zu verstehen, die er nicht besonders gut beherrscht, nickte er.
»Manger«, sagte ich nochmals und berührte mit den Fingerspitzen meine Lippen.
»Ah, oui. Unten, Madame, unten«, sagte er, indem er sich, noch immer nickend, rückwärts aus dem Zimmer entfernte. Unversehens erlosch sein Lächeln. »Aber, bitte, Madame, nicht auf Dach gehen«, erklärte er in gebrochenem Französisch. »Dach nix gut.«
»Oui, Omar«, sagte ich, »ich werde nicht aufs Dach gehen.«
Als er gegangen war, trat ich an eines der schmalen Fenster. Von dort blickte man auf den Hafen und die dahinter liegende Meerenge, die sowohl vom Atlantik als auch vom Mittelmeer gespeist wurde. An ihrer engsten Stelle war sie nur vierzehn Kilometer breit, und doch trennte sie zwei Kontinente sowie einen Ozean und ein Meer. Es war, als wäre Tanger irgendwo dazwischengeraten und als gehörte es weder zum europäischen Spanien noch zum afrikanischen Marokko.
Mit einem Mal schauderte ich in einem unvermuteten Anflug von Wehmut, aber auch, weil ich plötzlich fröstelte, obwohl die Luft, die durch das geöffnete Fenster hereingelangte, lau war und nach Meer roch. Dieses merkwürdige Gefühl, isoliert zu sein, überraschte mich. Ich mochte keine Menschenmengen und mied Situationen, in denen ich zu nichtssagender Konversation gezwungen war, und doch wollte ich mit einem Mal nicht allein hier in diesem Hotelzimmer sein. Vor allem aber musste ich einen Fahrer mit Wagen ausfindig machen, der mich nach Marrakesch brachte.
Ich ging über die geschwungene Treppe in die Lobby zurück. An der Tür zur Lounge zögerte ich, und das alte Gefühl des Unwohlseins bei der Begegnung mit fremden Menschen stieg wieder in mir hoch, während ich den spärlich beleuchteten Raum mit den Augen absuchte. An verschiedenen Tischen saßen Menschen, einige, die Köpfe zusammengesteckt, in einer Ecke, andere laut lachend an der Bar. Ich atmete tief ein und betrat die Lounge. Ich setzte mich an einen der kleinen runden Tische. Im nächsten Moment stand ein Mann mit kurzem, weißem Jackett vor mir und verbeugte sich. Dann stellte er ein Tablett mit einem Glas rötlicher Flüssigkeit und einer kleinen Karaffe, in der sich offensichtlich mit Kohlensäure versetztes Leitungswasser befand, auf meinen Tisch. Obwohl nur spärliches Tageslicht durch die hohen, halb zugezogenen Fensterläden fiel, konnte ich die drei schwarzen Insekten erkennen, die im Wasser schwammen.
»Non, non, Monsieur«, sagte ich zu dem Kellner und schüttelte den Kopf. Ich wollte ein Mineralwasser bestellen.
»Campari, Madame«, sagte er mit fester Stimme, als hätte ich ihn nach der Art des Getränks gefragt oder es zuvor bestellt. Er reichte mir ein Blatt und deutete mit dem Finger auf eine Zeile, und statt mich weiter mit ihm auseinanderzusetzen, unterschrieb ich. Ich starrte auf das Wasser, in dem drei Insekten schwammen, die sich aus der Karaffe zu befreien versuchten. Eines krabbelte bis zur Hälfte hinauf und klammerte sich verzweifelt an die Glaswand, während sich die anderen beiden in einer Art Wassertreten abmühten; ihre Bewegungen waren so langsam, als handelte es sich bei dem Wasser um Sirup. Gewiss würden alle drei binnen kurzem in dem Nass umkommen.
Niemand nahm Notiz von mir, und während ich so tat, als sei dies eine gewohnte Situation für mich, atmete ich tief durch, lehnte mich auf dem Stuhl zurück und nippte vorsichtig an dem Campari. Er schmeckte bitter, beinahe wie Medizin. Ich vermutete, dass das Sprudelwasser den strengen Geschmack des Getränks abmildern würde, zögerte aber wegen der Insekten.
Ein Schatten fiel auf die Karaffe, als eine junge Frau an meinem Tisch vorbeikam. In ihren flachen Lederschuhen ging sie mit langen, leichten Schritten einher, und ihr männlich wirkendes Hemd steckte im Bund eines schlichten Rocks. Ihr Haar war kurz geschnitten und fiel lockig in ihren Nacken. Ihr Blick streifte mich, ehe sie sich an einen Tisch mit vier weiteren Gästen begab – einer Frau und drei Männern. Alle begrüßten sie überschwänglich.
Diese Frau sah aus, als wüsste sie, wo man einen Wagen mieten konnte.
Ich berührte mit den Fingerspitzen die Lippen, die vom Campari brannten. Dann stand ich auf und ging zu der Gruppe hinüber, mir wohl bewusst, dass sie mich alle beim Näherkommen beobachteten. Prompt stolperte ich in dem nur spärlich beleuchteten, hohen Raum, in den das Licht nur in langen schrägen Streifen durch Rundbogenfenster fiel, über den hochflorigen Teppich. Als ich zu der hageren Frau trat, wurde es mit einem Mal still.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich.
»Ja?« Ihre Art war nicht besonders freundlich. Sie musterte unverfroren mein Haar und mein Gesicht und ließ den Blick kurz auf der Narbe auf meiner Wange verweilen. Ich musste mich zwingen, meine Hand unten zu lassen und die Narbe nicht zu bedecken.
»Ich … ich bin erst vor kurzem in Tanger angekommen. Erst vor zwei Stunden, um genau zu sein. Und ich muss unbedingt einen Wagen mieten. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht helfen.«
Während ich sprach, änderte sich ihre Haltung. »Hallo«, sagte sie dann und streckte die Hand aus, wie es unter Männern üblich war. Ich ergriff sie; sie war grobknochig und stark. Ihr Händedruck war fest und kurz und presste meine Knöchel schmerzhaft zusammen. »Elizabeth Pandy«, sagte sie und fügte hinzu: »Aus Newport in Maine. Und Sie?«
»Ich heiße Sidonie O’Shea.«
»O’Shea. Hm. Von den O’Sheas aus Boston? Ich kannte den alten Robbie. Und seine Tochter Piper.«
»Nein. Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich komme aus Albany.« Beim letzten Wort stammelte ich, mir war wohl bewusst, dass sie mich alle beobachteten. Ich spürte, wie mir Schweißperlen auf die Stirn traten.
Sie lächelte. Ihre Oberlippe war schmal und ließ einen Teil ihres Gaumens erkennen. »Ach so, New York. Ich dachte nicht …« Sie unterbrach sich. »Wissen Sie, als ich Sie vorhin sah, hielt ich Sie für eine Französin. Sie …« Wieder stockte sie.
Ich wusste, warum sie das sagte, doch ihre Art zu sprechen, ihr Ton, sagte mir, dass es vielleicht besser sei, ihr nichts von der Herkunft meiner Mutter zu erzählen.
»Setzen Sie sich doch zu uns und trinken Sie etwas mit uns.«
»Oh, ich habe bereits einen Drink, vielen Dank. Einen …« Ich warf einen Blick zu meinem Tisch. »Einen Campari.« Wieder berührte ich meine brennenden Lippen. »Obwohl ich ihn nicht bestellt hatte.«
Sie nickte wissend. »Keine Ahnung, warum diese verdammten Jungen denken, dass jeder Ausländer in Tanger Campari trinkt. Nun setzen Sie sich doch zu uns und nehmen Sie einen ordentlichen Drink mit uns.«
Sie nickte zu einem der Männer, der sofort aufstand und einen Stuhl vom Nachbartisch heranzog. Elizabeth Pandy war offensichtlich eine Frau, die es gewohnt war, anderen zu sagen, was sie zu tun hatten.
»Ich …« Ich blickte über die Schulter zur Tür. Wie konnte ich die Lounge wieder verlassen, ohne unhöflich zu erscheinen? Aber in Gegenwart dieser selbstsicheren Männer und Frauen fühlte ich mich so unwohl, denn sie riefen mir deutlich vor Augen, wie unbedeutend mein Leben im Vergleich zu ihrem war. Wie fehl am Platze ich hier war. »Ich muss wirklich … Ich brauche so bald wie möglich einen Wagen. Und natürlich einen Fahrer. Deshalb dachte ich, ob Sie mir vielleicht einen Rat geben könnten, wie ich es anstellen soll. Ich muss nämlich nach Marrakesch, müssen Sie wissen. Man hat mir gesagt …« – wieder erinnerte ich mich an die Worte des Amerikaners –, »es sei am besten, zunächst nach Rabat zu reisen.«
Elizabeth Pandy wischte meine Frage mit einer wegwerfenden Handbewegung beiseite. »Marrakesch? Aber das ist ja lächerlich. Ich bin sicher, es gibt dort nichts zu sehen. Nun kommen Sie«, sagte sie bestimmt, »und nehmen Sie einen Drink mit uns. Marcus, bestelle Miss O’Shea einen Whisky Sour. Ist es nicht herrlich, nicht länger dieser verdrießlichen Prohibition zu Hause ausgesetzt zu sein? Diese ständige Heimlichtuerei beim Trinken, wie ermüdend.«
Offensichtlich hatte ich keine andere Wahl, als mich zu ihnen zu setzen, wollte ich gegenüber Miss Pandy – oder war sie eine Mrs? – nicht furchtbar unhöflich erscheinen. Während ich mich auf einen Stuhl niederließ, wanderte ihr Blick nach unten zu meinen Füßen.
»Haben Sie sich den Knöchel in einer dieser unsäglichen Straßen verstaucht? Ich habe bemerkt, dass Sie ziemlich hinken.«
»Nein«, sagte ich. »Nein, das habe ich nicht. Es ist …« Ich unterbrach mich, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
»Wie auch immer, nun entspannen Sie sich ein wenig. Ihr Drink wird gleich da sein.«
Elizabeth Pandy stellte mich den Männern und der Frau am Tisch vor, doch der Einzige, dessen Name mir im Gedächtnis blieb, war Marcus. Sein Haar war glatt nach hinten gestrichen und glänzte ölig in einem künstlichen Dunkelrot. Alle, einschließlich Elizabeth, befanden sich in unterschiedlichen Stadien der Trunkenheit, und die vertraute Art, wie sie miteinander umgingen, sagte mir, dass dies nicht ungewöhnlich war.
Einer der Männer fragte mich, welches Zimmer ich hätte, und die andere Frau – sie trug einen kurzen Faltenrock und einen gestreiften Pullover und hatte dieselbe Frisur wie Elizabeth – unterbrach ihn, indem sie mit herrischer Stimme von mir wissen wollte, wie lange ich zu bleiben gedächte. Doch ich kam gar nicht dazu, ihr zu antworten, denn schon waren sie bei einem anderen Thema angelangt. Ein Glas wurde vor mich hingestellt; ich probierte das Getränk und beschloss, dass es besser schmeckte als der Campari, und nippte gelegentlich daran.
Das Gespräch, begleitet von reichlich Gelächter, wurde lauter und nahm bald die Züge von betrunkenem Gegröle, durchmischt mit tierisch anmutenden Lauten an. Meine Schläfen pochten, und als ich nach einer Weile feststellte, dass mein Glas leer war, stand ich auf.
Der Alkohol war mir zu Kopf gestiegen; ich war es nicht gewohnt zu trinken, und einen Moment lang wähnte ich mich auf hoher See zurück, denn ich schwankte ein wenig und musste die Beine leicht spreizen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Elizabeth umfasste mein Handgelenk. »Gehen Sie noch nicht. Wir haben noch gar nichts über Sie erfahren. Es ist immer wieder gut, wenn neues Blut von zu Hause kommt«, sagte sie und öffnete den Mund zu einem lautlosen Lachen, das mich an das reizbare Gähnen einer afrikanischen Raubkatze gemahnte.
Ich nahm wieder Platz, teils wegen des Zugs an meinem Handgelenk, teils weil ich fürchtete, jeden Moment umzufallen.
»Nun?«, sagte sie fordernd. »Was hat Sie nach Tanger geführt? Niemand kommt ohne besonderen Grund in diese Stadt. Wie lautet also Ihre Geschichte?« Wieder der klaffende Mund. Ein Speichelfaden zog sich von ihrem oberen Eckzahn zum unteren. Auch die anderen lachten, zu laut, viel zu laut.
»Geschichte?«, wiederholte ich, und als sich alle Augen auf mich richteten, überkam mich Panik.
»Ja, ja«, meldete sich nun auch Marcus zu Wort. »Erzählen Sie uns Ihre Geschichte, Mrs O’Malley.«
»O’Shea, und Miss. Miss O’Shea«, sagte ich.
Er schien meine Korrektur kaum zur Kenntnis zu nehmen. »Nun erzählen Sie schon. Was bringt Sie nach Tanger?«
Ich sah ihn an, dann Elizabeth. Die anderen Gesichter verschwammen zu blassen Ovalen und auf dem Kopf stehenden Dreiecken. »Ich reise nach Marrakesch.«
»Ich sagte Ihnen doch schon, Liebes, das ist eine Schnapsidee. Es ist vollkommen abwegig, dorthinunter zu fahren. Bleiben Sie hier; in Tanger wimmelt es zurzeit zwar von diesen Mischlingen, aber es hat auch seine Reize. Oder fahren Sie meinetwegen nach Casablanca«, fuhr Elizabeth fort. »Nur Marrakesch ist wirklich vollkommen abgelegen. Es gibt dort nichts zu sehen, da bin ich mir sicher«, sagte sie nochmals. »Auch wenn … wie hieß er noch mal … Matisse, glaube ich … dort vor einigen Jahren gelebt hat. Und ein paar weitere seltsame Künstler scheinen dort ihr Quartier aufgeschlagen zu haben – Maler und Schriftsteller und so fort, die sich offensichtlich jenseits jeglicher Zivilisation inspiriert fühlen. Aber im Großen und Ganzen hat Tanger sehr viel mehr an Unterhaltung zu bieten. Hier gibt es allen möglichen Zeitvertreib – man kann unzählige Dinge tun …«
An dieser Stelle unterbrach jemand sie mit einer koketten Bemerkung: »Da kann jeder machen, was er will …«
Die anderen taten lautstark und unisono ihre Zustimmung kund.
»Also, ich muss jetzt … Ich …« Wieder brachte ich meinen Satz nicht zu Ende. Ein kurzer Moment der Stille entstand, und Marcus nutzte ihn, um mit den Fingern zu schnalzen. Kurz darauf erschien ein Kellner mit einem Tablett, und Marcus flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Ich suche jemanden. In Marrakesch«, sagte ich überflüssigerweise.
»Ach so, ich verstehe«, sagte Elizabeth und zog die Augenbrauen hoch. »Hat sich wohl aus dem Staub gemacht und Sie im Stich gelassen, nicht wahr? Vielleicht ist er ein Spion. Ist er ein Spion, Miss O’Shea? Das Land wimmelt von ihnen, müssen Sie wissen. Von Spionen und Schwarzhändlern. Jeder sucht jemanden oder etwas.«
Ich stand so abrupt auf und stieß meinen Stuhl so heftig zurück, dass er den vorbeieilenden Kellner an der Hüfte traf. Ihm entfuhr ein kleiner, überraschter Schrei, dann ging er weiter.
»Nein. Nein, er ist kein Spion. Und auch kein …«
»Ein Schwarzhändler, Liebes. Sie wissen schon, diese Typen, die einem Drogen verkaufen wollen und die man nicht mehr loswird. Die Bewohner von Tanger sind ganz schön hartnäckig. Jeder will unablässig etwas von einem«, sagte sie abermals. »Man muss äußerst energisch sein.«
»Ja«, sagte ich. »Also dann, vielen Dank. Für den Drink«, fügte ich hinzu. Während ich rasch die Lounge verließ, spürte ich aller Augen auf mir. Gewiss war mein Hinken unter der ungewohnten Wirkung des Alkohols ausgeprägter als sonst.
In der Kühle meines schattigen Zimmers lag ich auf dem Bett, und mein Kopf hämmerte noch immer vom Whisky. Ich ärgerte mich über mein Verhalten, mit dem ich mich vor Elizabeth Pandy und ihren Freunden gewiss lächerlich gemacht hatte. Ich wusste weder, wie man sich in dieser Atmosphäre der unbeschwerten Kameraderie bewegte, noch war ich geübt in Smalltalk, etwas, was ihnen so leichtfiel.
Ich erinnerte mich, wie ich an Deck des Schiffes stand, mit dem ich vor kurzem von New York nach Marseille gereist war, und wie sich das gleiche Gefühl meiner bemächtigt hatte.
Während ich darauf wartete, dass das Schiff endlich ablegte und sich aus dem Hafen entfernte, hatte es meiner ganzen mentalen und physischen Kraft bedurft, um nicht die Fassung zu verlieren. Ich beobachtete die Menge unter mir auf dem Kai; die meisten winkten, lächelten und riefen den Passagieren Abschiedsgrüße zu, die, so wie ich, nach Übersee reisten. Unter den Zuschauern bemerkte ich auch einige Menschen mit traurigen Mienen: eine junge Frau, die sich ein Taschentuch an den Mund presste, ein junger Mann und eine junge Frau, die sich gegenseitig stützten, während sie mit gequältem Ausdruck zum Schiff hochsahen, ein paar weinende Kinder. Doch die Atmosphäre am Kai und auf dem Schiff war vorwiegend von Freude, Ferienstimmung und Abenteuerlust geprägt.
Doch das, was ich verspürte, als ich auf den Holzplanken des Decks stand und die zurückweichenden Gesichter der winkenden Menschen betrachtete, war blanke Panik. Nie hatte ich auch nur im Traum daran gedacht, jemals den Fuß auf ein Schiff zu setzen. Nie hatte ich auch nur im Leisesten daran gedacht, Amerika zu verlassen. Ich war nie außerhalb des Staates New York gewesen. Mit meinen dreißig Jahren war ich so ängstlich wie ein Kind an seinem ersten Schultag.
Panik war jäher Angst gewichen. Die Entfernung zwischen Schiff und Kai tat sich wie ein Abgrund auf. Das, was ich fühlte, war Verlust, den Verlust all dessen, was ich kannte, all dessen, was mir vertraut war. Aber ich wusste, dass ich gehen musste, dass ich keine andere Wahl hatte.
Während sich das Schiff langsam vom Kai entfernte, konnte ich noch immer winkende Arme und geöffnete Münder erkennen, doch die Geräusche erstarben. Mein Herzschlag beruhigte sich. Plötzlich nahm ich jemanden neben mir wahr, eine ältere Dame, deren Hände die Reling umfassten. Sie trug gehäkelte gelbe Handschuhe.
»Sind Sie zum ersten Mal auf See?«, fragte sie in gebrochenem Englisch, und ich fragte mich, ob man mir meine Gefühle so deutlich vom Gesicht ablesen konnte.
»Oui«, sagte ich, da ich ihren Akzent ausgemacht hatte. »La première fois.«
Sie lächelte und entblößte eine schlecht sitzende Zahnprothese, die zu groß wirkte. »Ach, Sie sprechen Französisch, auch wenn freilich nicht mein Französisch. Ich komme nämlich aus Paris«, sagte sie. »Reisen Sie von Marseille aus nach Paris weiter?«
Ich schüttelte den Kopf, verriet ihr mein Reiseziel jedoch nicht. Ich bemerkte, wie sie meine unbehandschuhten Hände auf der Reling anstarrte.
»Haben Sie Verwandte in Paris?«
Wieder schüttelte ich den Kopf.
»Dann sind Sie auf dem Weg zu Ihrem Geliebten?«, fragte sie mit einem anzüglichen Lächeln.
Ich blinzelte und öffnete den Mund, aber mir fehlten die Worte.
Sie nickte zufrieden. »Ich kann es sehen. Ja, Sie sind auf dem Weg zu Ihrem Geliebten.«
Ich starrte sie einen Moment lang an und sagte dann zu meiner eigenen Überraschung: »Also gut, ja. Ich reise … um … jemanden zu suchen.«
Wieder nickte die Frau und musterte mich. Ihr Blick verweilte auf meinen Wangen und wanderte dann meinen Körper hinab. Als ich an diesem Morgen vor dem Spiegel mit zitternden Händen mein Haar gebürstet hatte, war mir aufgefallen, wie ungewöhnlich hohlwangig mein Gesicht wirkte.
»Eh bien. La grande passion. Natürlich, meine Liebe. Eine Frau sollte immer dem Unvermeidlichen folgen. Ich selbst habe einige große Leidenschaften gehabt.«
Den Kopf zur Seite geneigt, betrachtete sie mich mit einem schelmischen Lächeln. Trotz ihrer Falten, in denen sich der Puder sammelte, und den dünnen Lippen über dem künstlichen Gebiss ahnte ich, dass sie früher einmal eine gewisse Anziehungskraft auf Männer ausgestrahlt haben musste. Und gewiss hatte sie deren Leidenschaft erweckt.
Aber sie musste doch erkennen, dass ich ganz bestimmt nicht zu diesem Frauentyp zählte.
Ich lächelte höflich und entschuldigte mich, ehe ich mich umdrehte und zu meiner Kabine zurückging, ohne zuzusehen, wie Amerika – meine Heimat – in der Ferne immer kleiner wurde. Fast während der ganzen Seereise blieb ich dort, und weil ich mich nicht gut fühlte, aß ich kaum etwas. Mir war auch nicht danach, auf dem Deck spazieren zu gehen, geschweige denn, mich mit jemandem zu unterhalten, aus Angst, abermals die alte Frau zu treffen und in ein unliebsames Gespräch verwickelt zu werden. Ich wollte keine Fragen beantworten. Ich hatte keine Antworten, sondern selbst nur Fragen.
Zu den Mahlzeiten ließ ich mir ein Tablett mit einfachen Speisen in die Kabine bringen und verbrachte meine Zeit mit Lesen oder Schlafen. Beides fiel mir schwer. Ich war zu abgelenkt, um tiefen Schlaf zu finden oder mich auf eine Lektüre zu konzentrieren.
Als wir endlich in Marseille anlegten, empfand ich tiefe Erleichterung. Ich hatte mir gesagt, dass es, wenn ich jenseits des Atlantiks angelangt wäre, keine Umkehr mehr gäbe. Wenn ich so weit gekommen war, sprach dies von meiner Entschlossenheit. Ich vermied, das Wort Verzweiflung zu benutzen.
Doch nun, in Tanger, wollte ich lieber nicht an Marseille denken oder an irgendetwas, was davor geschehen war. Ich ertrug es einfach nicht.
Schnell stand ich auf und presste einen Moment lang die Finger an die Schläfen. Ich trank ein Glas Wasser aus der Wasserflasche auf der Frisierkommode und ging dann in die Eingangshalle zurück, um trotz der Warnung des Pagen nach der Treppe zum Dach zu suchen. Ich wollte Tanger aus der Höhe betrachten. Als ich krank und orientierungslos vom Hafen durch die engen Gassen zum Hotel gelangt war, war es gewesen, als betrachtete ich diese neue Welt wie durch einen langen Tunnel. Mein Blick war wohl ähnlich von Scheuklappen begrenzt gewesen wie der des Esels, der den Karren zog, nicht fähig, nach rechts oder nach links zu blicken, sondern nur geradeaus.
Am Ende des Flurs fand ich eine Tür mit einem einfachen Riegel, und dahinter die Treppe. Sie war steil, und es gab kein Geländer. Obwohl ich normalerweise solche Treppen mied, stieg ich hinauf, froh, dass das Treppenhaus schmal genug war, sodass ich mich seitlich mit beiden Händen abstützen konnte. Ein stechender Abwassergeruch lag in der Luft, doch als ich oben ankam und in das blendende Tageslicht hinaustrat, waren die Düsterkeit und der Gestank wie weggewischt, und ich konnte stattdessen den Meeresgeruch wahrnehmen.
Der Anstieg hatte mich angestrengt; nach vorn gebeugt und die Hände auf den Knien, ruhte ich mich aus. Doch als ich mich wieder aufrichtete, drohte mir der Ausblick erneut den Atem zu rauben. Auf der einen Seite lag das im Sonnenlicht glitzernde Meer, und auf der anderen sah ich Berge. Das herrliche Rif-Gebirge, das die untergehende Sonne blutrot färbte.
In der leichten Brise stand ich da und betrachtete Tanger, das mich umgab und dessen Gebäude im späten Nachmittagslicht in leuchtendem Weiß erstrahlten. Ungewohnt zarte Bäume mit großen Blättern und Palmen in vielfältigen Grünschattierungen standen dazwischen. Die Klarheit der Farben im Spiel des Lichts gemahnte mich an großartige Kunstwerke – die Farben waren nicht Blau und Rot und Gelb und Grün, sondern Himmelblau, Indigoblau, Zinnober und Purpurrot, Bernstein, Safrangelb und Seladongrün, Olive und Lindgrün.
Mein Bein schmerzte, also blickte ich mich nach einer Sitzmöglichkeit um, aber es gab nur den schmalen Dachvorsprung. Jetzt verstand ich die Warnung des Jungen, ein falscher Schritt führte in den Abgrund. War vielleicht jemand, möglicherweise jemand aus Elizabeths Clique, nach zu vielen Gläsern Alkohol hier heraufgekommen und in den Tod gestürzt?
Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder, und jedes Mal verspürte ich aufs Neue einen Nervenkitzel. Unwillkürlich dachte ich an Pine Bush, eine karge Sumpflandschaft nur wenige Kilometer von meinem Elternhaus entfernt, oder an den nahe gelegenen See – überhaupt an die Landschaft im Albany County. Ich hatte so viel Zeit in dieser Natur verbracht, war dort spazieren gegangen oder hatte Flora und Fauna gezeichnet. Meine Pflanzenaquarelle fielen mir ein, die gedämpften Nuancen von Grün der schattenliebenden Farne und Moose, das zarte Lavendel des Ehrenpreis, das schüchterne Rosa des Frauenschuhs, der bescheidene Dreiblatt-Feuerkolben. Aber das hier! Mit den Farben in dem Kasten, der im Regal meines Schlafzimmers in dem kleinen Haus jenseits des Ozeans lag, würde ich niemals derlei kräftige Töne hervorzubringen vermögen.
Als der Schmerz in meinem Bein abklang, ging ich langsam zum Ende des Daches und spähte in das schattige Straßenlabyrinth hinab. Das musste die Medina sein, die Altstadt mit ihrem schwindelerregenden Menschengewühl. Laute Rufe mischten sich mit Eselsschreien und Hundegebell und dem gelegentlichen Brüllen eines Kamels.
Und dann war da ein Laut, den ich noch nie zuvor gehört hatte, eine hohe und doch kräftige Stimme, die von hinten kam. Ich drehte mich um und sah die Spitze eines Minaretts, und da wusste ich, dass es der Muezzin war, der die gläubigen Muslime zum Gebet rief. Plötzlich ließ sich eine weitere Stimme vernehmen und noch eine und einige mehr – der Ruf der Muezzins sämtlicher Minarette Tangers. Ich stand auf dem Dach und lauschte den volltönenden, rhythmischen Gebetsrufen – Allahu akbar, oder etwas in der Art –, während ich die rot gefärbten Berge betrachtete.
Ob Etienne jetzt die gleichen Laute hörte? Erblickte er jetzt ebenfalls den Himmel, die Berge, das Meer? Dachte er an mich, zu dieser einsamen Stunde, so wie ich an ihn?
Ich musste die Augen schließen.
Als die letzten Stimmen verebbten, herrschte schlagartig Stille, und ich schlug die Augen wieder auf, um dem Nachhall dieser fremdländischen Stimmen in meinem Inneren zu lauschen. Wieder einmal versank ich in meine alte Gewohnheit des Grübelns, ohne einen klaren Gedanken zu fassen.
Schließlich stieg ich wieder die schmale Treppe hinab, wo noch immer ein übler Geruch in der Luft hing. Ich war schrecklich hungrig und ging in die Lobby zurück.
Während ich mich der Lounge näherte, hörte ich Lachen und ausgelassene, lautstarke Stimmen, die mir sagten, dass Elizabeth und ihre Freunde noch immer dort waren. Die Lounge wirkte dunkel und verschwommen, form- und farblos nach der grandiosen Schönheit, die ich soeben erblickt hatte. Sowohl Gebet als auch Farben hatten mich berührt. Und als ich an der Loungetür vorbeiging, war mir, als hielten Elizabeth und Marcus und die anderen an ihrem Tisch beim Trinken und Reden inne und starrten mich verwundert an. In dieser kurzen Zeit auf dem Dach hatte mich das Gefühl bemächtigt, Teil des Mosaiks von Tanger geworden zu sein, ein Fragment dieses Farb- und Klangteppichs.
Doch niemand drehte sich nach mir um, niemand nahm Notiz von mir.
Auf der weitläufigen Terrasse – auf der sonst niemand saß – mit den Topfpalmen, deren Wedel sich sanft im Wind wiegten, den Holzmöbeln und dem Blick auf den Hafen bestellte ich Pfefferminztee und pastilla. Dies sei eine Pastete mit dem Fleisch eines Vogels, wie mir der Kellner erklärte – ich verstand nicht, ob er Taube meinte oder Rebhuhn –, gemischt mit Reis und gehacktem Ei und in eine hauchdünne Teighülle eingeschlagen.
Während ich auf das Essen wartete, lehnte ich den Kopf an die hohe Stuhllehne, lauschte einem gedämpften, aus der Ferne erklingenden Gemurmel in einer fremdländischen Sprache, dem Gurren einer Taube in der Nähe und dem sanften Rascheln der Palmwedel in der frühabendlichen Brise. Tanger erschien mir reizvoll, obwohl ich wusste, dass es auch gefährlich und unkontrolliert war, ein Freihafen, der von keinem Staat regiert wurde. Ich war müde und wurde von einer Trägheit übermannt, die nicht unangenehm war. Und trotzdem würde ich nicht – konnte ich nicht – in Tanger bleiben. Ich setzte mich aufrecht hin und schüttelte die Müdigkeit ab. Morgen, so nahm ich mir vor, würde ich nach einem Fahrer suchen, der mich nach Rabat bringen würde, wie der Amerikaner auf dem Fährschiff mir angeraten hatte.
Der Kellner kam mit einem Tablett und stellte eine kleine Messingteekanne vor mich auf den Tisch. Er hielt die Kanne hoch über das kleine, bemalte Glas in seinem silbernen Halter, und die bernsteinfarbene Flüssigkeit ergoss sich in geschwungenem Bogen in das Gefäß. Ich erwartete schon, dass der Tee spritzen würde, doch er füllte das Glas mit der schäumenden Flüssigkeit, ohne einen Tropfen zu vergeuden. Dann goss er den Tee in die Kanne zurück, schenkte erneut ein und wiederholte die Prozedur dreimal. Schließlich stellte er die Teekanne wieder auf das Tablett, umfasste das Glas mit beiden Händen und reichte es mir mit einer leichten Verbeugung.
»Très chaud, Madame«, sagte er. »Warten Sie ein wenig, bitte, bis kühl.«
Ich nickte und hob das Glas an dem silbernen Griff an die Nase, um daran zu schnuppern. Der Duft der Minze war beinahe überwältigend. Ich nahm vorsichtig einen winzigen Schluck und schmeckte eine intensive Süße, ein Aroma, das ganz anders war als das aller Teesorten, die ich je getrunken hatte, aber es schmeckte köstlich.
Ich dachte an daheim, an das Haus am Stadtrand von Albany. An meinen Garten und die Stille, die zu dieser Abendzeit dort herrschte. Wenn ich mich nicht gerade durch das Gartentor auf die Juniper Road wagte, konnten die Tage ins Land gehen, ohne dass ich eine Menschenseele gesehen, mit jemandem gesprochen hatte. Auch die langen, dunklen Winternächte rief ich mir in Erinnerung.
All das schien so weit entfernt. Gewiss, es war weit weg, geografisch gesehen. Aber ich spürte nicht nur eine räumliche Entfernung. Das Gefühl der Distanz hing auch mit dem zusammen, was seit damals geschehen war, seit jenen endlosen, ruhigen Tagen, an denen ich gedacht hatte, dass mein Leben für immer so weitergehen würde. Als mein Leben aus kleinen, sicheren Teilen eines größeren, aber im Grunde sehr einfachen Puzzles bestanden hatte.
Als ich sicher gewesen war, stets zu wissen, an welche Stelle jedes einzelne Teil gehörte.