FÜNFUNDDREISSIG
Ich hatte alle Hoffnung aufgegeben. Während ich in dem leicht schwankenden Laster saß, starrte ich in das Nichts jenseits der Windschutzscheibe hinaus.
Immer wieder war ich versucht, abermals auf die Uhr zu blicken, und tat es schließlich auch. Fast eine Stunde war vergangen.
Wieder schlug ich die Hände vors Gesicht und weinte.
Und plötzlich wurde die Fahrertür aufgerissen, und Aszulay hob Badou auf die Sitzbank, stieg hinter ihm ein und schlug die Tür wieder zu.
Ich zog Badou in die Arme und wickelte ihn aus Aszulays Turban, der ihn von Kopf bis Fuß verhüllte. Als sein kleines Gesicht zum Vorschein kam, sah er mich aus seinen großen Augen an. Seine Wangen waren von Sand verkrustet.
»Sidonie, ich bin verloren gegangen. Ich habe die Hände nicht am Lastwagen gelassen.«
»Ich weiß, Badou, aber jetzt bist du in Sicherheit«, sagte ich unter Tränen und wiegte ihn in meinen Armen.
»Ich habe versucht, den Wagen wiederzufinden.«
»Ich weiß, mein Kleiner, aber jetzt hast du es überstanden.« Und dann blickte ich zaghaft über die Schulter des Jungen zu Aszulay hinüber, wusste ich doch, dass er mich für eine Idiotin halten und wütend auf mich sein musste.
Doch sein Gesicht spiegelte nichts als Erschöpfung. Mit geschlossenen Augen und den Kopf im Nacken lehnte er sich auf seinem Sitz zurück. Sein Haar, die Augenbrauen und Wimpern waren von Sand bedeckt, sodass sie nicht mehr schwarz waren, sondern rötlich braun. Seine Nasenlöcher waren ebenfalls sandverkrustet.
»Ist … alles in Ordnung mit dir, Aszulay?«, fragte ich mit tränenerstickter Stimme.
»Gib ihm Wasser«, sagte er, und ich schob Badou auf meinem Schoß ein wenig zur Seite, um mich nach hinten zu beugen und nach dem Wasserschlauch aus Ziegenhaut zu langen. Ich zog den Korken heraus und hielt das Mundstück an Badous Lippen. Er trank und trank, und das Wasser rann ihm die Kehle hinab. Als er fertig war, streckte ich das Behältnis Aszulay hin, aber er hatte die Augen noch immer geschlossen. Ich rückte näher zu ihm und hielt ihm das Mundstück an die Lippen, und als er es spürte, begann er zu trinken, ohne die Augen zu öffnen.
Schließlich hob er die Hand und schob den Schlauch weg. Ich goss etwas Wasser auf den Zipfel seines Turbans und wischte ihm damit über die Augen, um sie von der Sandkruste zu befreien. Er nahm mir den nassen Stoff aus der Hand und fuhr sich damit übers Gesicht, ehe er schließlich die Augen aufschlug.
»Es tut mir leid«, sagte ich leise.
Er antwortete nicht sofort. »Ich habe ihn nicht weit vom Lastwagen entfernt gefunden. Aber ich wollte nicht Gefahr laufen, uns versehentlich noch weiter vom Fahrzeug wegzuführen, also haben wir hinter einer hohen Sandwehe, die der Wind aufgehäuft hat, gewartet. Dort harrten wir aus, bis der Wind die Richtung änderte, sodass ich den Lastwagen ausmachen konnte.« Er sah Badou an. »Und, habe ich einen richtigen Blauen Mann aus dir gemacht?«
Badou nickte und schmiegte sich an Aszulay. Der legte den Arm um ihn.
Die Zeit verging, und irgendwann begann Aszulay zu summen, den Arm noch immer um Badou geschlungen. Die leise, traurige Melodie erinnerte mich an die melancholische Weise, die er beim Feuer auf der Flöte gespielt hatte.
Ich stellte mir vor, wie er seine eigenen Kinder so im Arm gehalten und ihnen etwas vorgesummt hatte, um sie zu beruhigen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, einen intimen Moment zu stören, und wandte den Blick ab, um nach draußen zu sehen, wo noch immer Sand und Staub herumwirbelten.
Als er nach einer Weile zu summen aufhörte, sah ich wieder zu ihm hinüber. Badou war mit dem Kopf an Aszulays Brust geschmiegt eingeschlafen.
»Wie lange, meinst du, wird dieser Sturm noch dauern?«
»Keine Ahnung. Aber wir werden auf jeden Fall hier übernachten. Auch wenn sich der Sturm gelegt hat, ist es zu gefährlich, in der Dunkelheit auf der Piste zu fahren. Zumal sie von Sand zugeschüttet sein wird.«
Ich nickte. Es war jetzt fast dunkel im Lastwagen, sowohl von der sandgeschwängerten Luft als auch weil sich der Abend herabsenkte.
Aszulay langte unter seinen Sitz und brachte eine Kerze und eine Schachtel Streichhölzer zum Vorschein. Er entzündete die Kerze und fixierte sie mit Wachs auf einer Einbuchtung auf dem Armaturenbrett.
Eine Weile saßen wir schweigend in dem weichen Licht da.
»Aszulay«, sagte ich schließlich. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, wie …«
»Es ist vorbei. Der Junge hat es heil überstanden. Er hatte einfach nur große Angst.«
»So wie ich«, sagte ich mit bebenden Lippen. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich geängstigt habe.«
»Dieses Land kann manchmal ganz schön furchterregend sein«, sagte er. »Ich weiß, wie man sich in gewissen Situationen verhält, weil ich hier aufgewachsen bin. Aber ich kann wohl kaum erwarten, dass jemand, der fremd in diesem Land ist, ebenso mit den Naturgewalten umgeht.«
Er signalisierte mir sein Verständnis, und ich war dankbar dafür. Ich atmete tief ein und streckte dann die Hand zu ihm hinüber. »Danke, Aszulay«, sagte ich.
Sein Blick wanderte zu meiner hennaverzierten Hand hinab, dann ergriff er sie und sah mich an. Wieder dachte ich an den Blick, den wir in der Nacht zuvor getauscht hatten, und konnte ihm nicht länger in die Augen sehen. Er fuhr mit dem Daumen über meinen Handballen und berührte sanft die verheilte Wunde.
Als ich den Kopf wieder hob, sah er mich noch immer an.
Im flackernden Kerzenschein wirkten seine hohen Wangenknochen wie gemeißelt. Am liebsten hätte ich sein Gesicht berührt. Er beugte sich näher zu mir und schaute auf Badou hinunter.
»Er schläft tief und fest«, sagte ich leise, weil ich nicht wollte, dass er sich von dem Kind abhalten ließ.
Und als sich Aszulay wieder aufrecht auf seinen Platz zurücksetzte, durchfuhr mich ein Stich der Enttäuschung. »Wie wär’s, wenn du mir eine Geschichte erzählst, um uns die Zeit zu vertreiben«, sagte er sanft. Seine Hand umschloss meine fester. »Eine Geschichte aus Amerika. Die von einer amerikanischen Frau handelt.«
Ich wagte kaum zu atmen und schüttelte den Kopf. »Nein, du zuerst. Erzähl du mir zuerst von dir.«
»Da gibt es wenig zu erzählen.«
»Ach komm, eine kleine Geschichte, nur um die Zeit zu vertreiben, wie du selbst gesagt hast. Und dann erzähle ich dir meine.«
Mit der anderen Hand streichelte er über Badous Haare. »Als ich dreizehn war, hat Monsieur Duverger mich gekauft, um Manons Mutter bei der Arbeit zu helfen.«
Ich sog scharf die Luft ein. »Du warst also ein Sklave?«
»Nein, ein Sklave war ich nicht. Ich bin ein Tuareg, wie du weißt.«
»Aber … du sagtest, er hätte dich gekauft?«
Er zuckte die Schultern. »Kinder werden oft vom Land in die Stadt geschickt, um dort zu arbeiten. Die Kinder aus dem bled sind harte Arbeit gewohnt. Sie beklagen sich nie und sprechen nur wenig.«
»Aber ich kann keinen Unterschied zu Sklaverei entdecken.«
»Früher wurden aus anderen Teilen Afrikas Sklaven ins Land gebracht. Die Karawanen transportierten Salz, bisweilen Gold, Bernstein oder Straußenfedern, aber auch schwarze Sklaven aus Mali und Mauretanien. Doch heute gibt es keine Sklaven mehr. Die Kinder und Jugendlichen vom Land, die in der Stadt arbeiten, das ist etwas anderes. Ihre Familien bekommen zwar eine gewisse Summe, und die Kinder arbeiten als Dienstboten, erhalten aber einen kleinen Lohn und dürfen ein paar Mal im Jahr zu ihrer Familie zurückkehren, sofern sie wissen, wo sie sich gerade aufhält. Wenn die Kinder ein gewisses Alter erreicht haben, ist es ihnen freigestellt, ihre Stelle zu verlassen. Manche tun es und kehren ins bled zurück, andere bleiben in der Stadt und nehmen eine andere Arbeit an, und wieder andere bleiben jahrelang derselben Familie treu. Für manche wird sie eine Art Ersatz für die Familie, die sie auf dem Land zurückgelassen haben.«
Noch immer schaukelte der Lastwagen leicht vor und zurück, ein steter Rhythmus. Doch nun, da ich im sanften Kerzenschein mit Aszulay dasaß, meine Hand in seiner und zwischen uns der schlafende Badou, empfand ich es als tröstend.
»Ich habe dir ja erzählt, dass mein Vater früh starb, als wir noch als Nomaden lebten«, fuhr Aszulay fort. »Mit zwölf war ich noch zu jung, um allein eine Karawane anzuführen, und ich wollte mich auch nicht einer anderen anschließen. Als Junge wäre ich von den erwachsenen Männern nicht respektiert worden. Also beschloss ich, unsere Kamele zu verkaufen und in der Stadt zu arbeiten. Meine Mutter war zunächst dagegen. Doch ich wusste, dass sie für mich eine gewisse Summe bekommen würde und ich sie mit meinem Lohn aus der Stadt fortwährend unterstützen könnte, um sich und die beiden Mädchen zu ernähren. Außerdem war sie im Dorf gut aufgehoben.«
»Aber werden Kinder nur an Franzosen oder auch an Marokkaner verkauft?«
»Sowohl als auch, obwohl die Nomadenkinder bei den Franzosen nicht so gern gesehen sind, aufgrund der kulturellen Unterschiede und weil sie eine andere Sprache sprechen. Wie auch immer, es war kein schlechtes Leben, Sidonie. Wir Menschen vom Land sind es gewohnt, hart zu arbeiten, und so können wir auch die Arbeit in der Stadt gut ertragen. Arbeit ist Arbeit. Mit dem Unterschied, dass man in der Stadt nie hungern muss. In meinem früheren Leben war das nicht so. Wenn Kamele starben oder die Ziegen aus irgendeinem Grund keine Milch gaben, hatten wir manchmal nicht genügend zu essen.«
Ich dachte an den Jungen im Hôtel de la Palmeraie, der Orangensaft auf mein Zimmer gebracht hatte, als Aszulay und Badou mich besuchten, und wie vertraut er Aszulay angesehen hatte. Ich rief mir die zahlreichen anderen Jungen und jungen Männer in Erinnerung, die ich in den Souks erblickt hatte, wo sie irgendwelche Karren zogen und schwere Lasten auf den Schultern durch das Straßengedränge der Medina trugen, oder jene, die in der Ville Nouvelle Taxi oder eine calèche fuhren. Ich war immer davon ausgegangen, dass es sich um die Söhne der jeweiligen Geschäftsinhaber handelte. Doch nun wusste ich, dass sie möglicherweise Jungen vom Land waren, so wie Aszulay einst, die in die Stadt verkauft worden waren, um sich dort als billige Arbeitskräfte zu verdingen.
»Monsieur Duverger hat mich also gekauft, um Manons Mutter bei der Arbeit in ihrem Haus zu entlasten. Er wollte, dass Rachida nicht mehr so viel schuften musste, und so erledigte ich die schweren Tätigkeiten für sie. Manon ist ein Jahr jünger als ich, und wir wurden Freunde. Sie war sehr nett zu mir.«
»Manon? Manon war nett zu dir?«
Der Sturm ließ nach.
Das Kerzenlicht flackerte über Aszulays Gesicht. »Sie half mir, mein Französisch zu verbessern. Sie brachte mir Lesen und Schreiben bei. Ich weiß nicht, woher sie es konnte. Schließlich war sie die Tochter einer arabischen Dienerin und konnte keine Schule besuchen. Aber du weißt ja, wie klug sie ist.«
Mein Gesichtsausdruck musste wohl meine Abneigung gegen Manon widergespiegelt haben, denn er hielt inne.
»Erzähl weiter«, sagte ich.
»Wir waren von Anfang an Freunde, und schließlich waren wir mehr als nur Freunde.«
Also bestand die Sache zwischen ihnen – diese Liebesbeziehung – schon, seit sie kaum mehr als Kinder gewesen waren.
»Wir wurden wie Bruder und Schwester«, setzte Aszulay hinzu, und ich sah ihn verblüfft an. Aszulay erwiderte meinen Blick.
»Bruder und Schwester?«
Er nickte. »Wir kümmerten uns umeinander. Wir waren beide einsam. Ich vermisste meine Familie. Und sie … ich weiß nicht genau, was sie vermisste. Jedenfalls strahlte sie eine tiefe Einsamkeit aus.«
»Aber … das heißt …«
»Was?«
Ich fuhr mir mit der Zungenspitze über die Lippen. »Die ganze Zeit habe ich … nun, ich bin davon ausgegangen, dass du und Manon … dass ihr eine Liebesbeziehung hättet.«
Er sah mich ungläubig an. »Manon und ich? Aber wie kommst du denn auf diese Idee?«
»Was hätte ich denn sonst denken sollen?«, entgegnete ich. »Wie hätte ich denn die Beziehung zwischen euch deuten sollen? Außerdem habe ich gesehen, wie sich Manon dir gegenüber gab.«
»Manon kann nicht anders. Sobald ein Mann in der Nähe ist, spielt sie die Verführerin. Aber … glaubst du wirklich, ich würde mich mit einer Frau wie Manon einlassen?«, sagte er ruhig, den Blick noch immer fest auf mich gerichtet, und abermals wich ich ihm aus und sah auf Badou hinunter.
Ich blieb ihm die Antwort schuldig, auch wenn ich am liebsten gesagt hätte: Nein, natürlich hasste ich den Gedanken, dass du sie begehrst und abhängig von ihr bist. Ich hasste den Gedanken, dass du ihr Liebhaber seist, dass du dich von einer so hinterhältigen, gerissenen Frau verführen lässt. Du stehst in jeder Beziehung über ihr. Doch stattdessen betrachtete ich noch immer Badous schlafendes Gesicht und versuchte, meinen Atem zu kontrollieren.
»Früher habe ich ihr geholfen, weil ich mich durch unsere Kindheit mit ihr verbunden fühlte, doch nun … Nun geht es mir nur noch um Badou.« Aszulay ließ meine Hand los. Er zog Badou die babouches aus und umfasste mit den Händen dessen nackte Füße.
»Und daher kenne ich auch Etienne und Guillaume«, fuhr er fort. »Manchmal bin ich mit Manon ins Haus der Duvergers gegangen. Sie schenkten mir keine Beachtung, ich war ja nur ein Bauernjunge, der Manons Mutter die schwere Arbeit abnahm. Doch ich beobachtete sie und lernte sie dadurch sehr gut kennen.«
Ich versuchte, mir den jungen Aszulay als Dienstboten vorzustellen, unter dessen Augen die Jungen der wohlhabenden französischen Familie ihr sorgloses Leben führten. Ich malte mir einen Jungen aus, der wie Badou aussah, nur ein bisschen älter, mit wachsamem Blick und ernstem Ausdruck.
Plötzlich schämte ich mich für Etienne, dafür, wie er Aszulay behandelt haben musste – wahrscheinlich hatte er ihn einfach ignoriert. Etienne, der alles hatte, und Aszulay, der nichts hatte. Doch heute – wer von beiden besaß mehr?
»Als wir älter wurden«, fuhr Aszulay fort, »sprach Manon in einem fort von Etienne und Guillaume. Sie mochte sie nicht mehr, sondern war wütend auf sie, weil sie hatten, was sie nicht hatte. Sie wollte an ihrer Stelle sein. Als sie nach Paris gingen, flehte sie Monsieur Duverger an, sie ebenfalls auf eine gute Schule zu schicken, um später Kunst zu studieren. Doch er sagte Nein. Er gebe bereits ihrer Mutter genügend Geld, sodass sie sich ein Haus und ausreichend zu essen leisten konnte, und überdies zahlte er für mich, damit ich ihr zur Hand ging. Er sei nicht bereit, auch noch für Manons Ausbildung aufzukommen. Ihr Leben, so sagte er, sei gut genug, sie profitiere ohnehin schon von seiner Unterstützung. Seine Söhne hätten ihren Platz in seinem Herzen und sie einen anderen. Das müsse sie akzeptieren. Doch Manon wollte es nicht akzeptieren. Es passt nicht zu Manons Charakter, sich in etwas zu fügen, was ihr nicht gefällt.«
Natürlich nicht.
»Als ihre Mutter starb, verschlechterte sich Manons Situation immer stärker. Monsieur Duverger wurde zusehends von seiner Krankheit verzehrt und immer verwirrter. Er gab Manon kein Geld mehr und veräußerte das Haus, das er für Rachida gekauft hatte. Manon war inzwischen eine junge Frau und musste sich Arbeit suchen. Also begann sie als Bedienstete in einem französischen Haushalt, so wie ihre Mutter. Sie war immer wütend, sie war … ich habe den französischen Ausdruck dafür vergessen … jedenfalls gingen ihr Etienne und Guillaume nicht mehr aus dem Kopf, immer redete sie davon, wie ungerecht es sei. Ihre Wut schien immer mehr Besitz von ihr zu ergreifen.«
»Besessen – ist das das Wort, das du suchtest? Meintest du, sie war besessen?«
»Ja, genau. Sie war besessen. Sie sagte, sie wünsche Monsieur Duvergers Söhnen, dass sie genauso leiden müssten wie ihr Vater. Doch die beiden wohnten inzwischen in Paris. Dann kam eines Tages Guillaume zurück, und zwar in jenem Sommer, in dem er vor der Küste von Essaouira ertrank. Etienne kehrte zur Beerdigung seines Bruders nach Marrakesch zurück, blieb aber nur ein paar Tage. Nur um im Jahr darauf erneut zurückzukommen, diesmal zur Beerdigung seiner Mutter, die ganz überraschend an einem Herzinfarkt gestorben war. Und wieder ein Jahr darauf starb dann sein Vater, und Etienne kam ein weiteres Mal nach Marrakesch. Vor sieben Jahren. Manon ging zur Beerdigung und sah ihn dort.«
»Und dann?«
»Über die Jahre war Manon hart und unerbittlich geworden. Gewiss, sie war noch nie ein besonders freundlicher Mensch gewesen und hatte schon immer nur an sich gedacht. Und sie war schön und nutzte ihr Aussehen, um die Männer zu verführen.«
Ich nickte. Es fiel mir nicht schwer, mir Manon mit ihrer atemberaubenden Schönheit als junge Frau vorzustellen, die sich ihrer Macht über Männer sehr wohl bewusst war. Aber auch als verbitterte Frau. Ich wusste, dass die Bitterkeit, die sie ausstrahlte, tief aus ihrem Inneren kam.
»Sie sah Etienne also bei der Beerdigung ihres Vaters. Und dann?«, fragte ich.
Aszulay schwieg eine Weile, ehe er erwiderte: »Dann ging Etienne nach Amerika«, sagte er. Wieder herrschte Stille, und nur Badous sanftes Atmen war zu hören. »C’est tout«, sagte er. Das ist alles.
Doch ich wusste, dass das nicht alles war. Da war etwas, was er mir nicht sagen wollte.
»Hat ihm Manon damals gesagt, dass sie seine Halbschwester ist? Es gab ja keinen Grund mehr, es zu verheimlichen. Ihre Mutter war tot, ebenso wie der Rest von Etiennes Familie. Hat sie es ihm gesagt, um ihm wehzutun, um Etienne die Achtung vor seinem Vater zu nehmen?« Wieder stellte ich mir Manon vor, wie sie Etienne wütend und triumphierend erzählte, dass das gleiche Blut in ihren Adern floss.
»Der Rest der Geschichte, der mit Etienne zu tun hat, gehört Manon«, sagte Aszulay. »Ich kann ihn nicht erzählen.«
»Aber du und Manon, ist seid die ganze Zeit über Freunde geblieben«, sagte ich.
»Ein paar Jahre lang haben wir uns aus den Augen verloren. Zu der Zeit, als Manon zu der französischen Familie zog, für die sie arbeitete, habe ich Marokko verlassen.«
»Du bist von Marokko weggegangen? Wohin denn?«
»Hierhin und dorthin. Ich war jung und strotzte vor Kraft. Ich hatte etwas Geld gespart, das ich meiner Mutter gab. Zuerst ging ich nach Algerien, dann nach Mauretanien und Mali. Als ich jung war, mochte ich es, von einem Ort zum anderen zu reisen. Im Grunde meines Herzens bin ich eben ein Nomade.« Er lächelte.
Ich betrachtete die Kerze und ihren Widerschein in der Windschutzscheibe.
»Und später ging ich nach Spanien.«
»Nach Spanien?« Ich sah ihn an.
Er nickte. »Zuerst lebte ich in Malaga, dann Sevilla und schließlich in Barcelona. Spanisch zu lernen, fiel mir nicht schwer, denn es ist mit dem Französischen verwandt. Ich fuhr oft nach Frankreich hinüber. Es war eine gute Zeit damals. Ich habe viel über die Welt entdeckt und über die Menschen. Einen Freund in Marrakesch hatte ich gebeten, das Geld, das ich regelmäßig schickte, meiner Mutter zu bringen. In Spanien verdiente ich in einem Jahr mehr, als ich in Marokko in vielen Jahren verdient hätte. Es gab überall Arbeit.«
Mit seinem dichten, welligen schwarzen Haar, der schmalen Nase und den gesunden weißen Zähnen in dem dunklen Gesicht hätte er leicht als Spanier durchgehen können. Ich stellte ihn mir als Europäer gekleidet vor.
Mein Bild von ihm wurde immer klarer. »Und wie lange hast du in Spanien gelebt?«
Eine Zeit lang war er still, dann erwiderte er: »Fünf Jahre.«
»Das ist eine lange Zeit. Hast du je daran gedacht, für immer dort zu bleiben?«
Er streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingern über die Flammenspitze. »Zwei Jahre davon saß ich in Barcelona im Gefängnis.«
Ich schwieg, wartete, dass er fortfuhr.
»Damals war ich ein Hitzkopf. Ich war in eine Schlägerei geraten, bei der einer der gegnerischen Gruppe schwer verletzt wurde.« Seine Stimme klang emotionslos, während er noch immer die Hand über der Flamme hin- und herbewegte. »Ich weiß nicht, wer die schlimmsten Fausthiebe austeilte, niemand hätte es hinterher sagen können. Es war ein gewaltvoller, sinnloser Kampf, eine Schlägerei zwischen jungen Männern, die außer Kontrolle geraten war. Und weil einer der Beteiligten schwer verletzt wurde, steckte man uns alle hinter Gitter.«
»Für zwei Jahre«, sagte ich.
»Im Gefängnis hat man Zeit zum Nachdenken. Ich hatte nur noch einen Gedanken: nach Marokko zurückzukehren. Ich sagte mir, wenn ich das Gefängnis überleben und meine Heimat wiedersehen würde, dann würde ich in die Wüste zurückgehen und wieder ein Leben als Nomade führen. Nach dem, was ich im Gefängnis erlebte, wünschte ich mir nur noch dieses einfache Leben zurück. Hinzu kam, dass meine Mutter nicht wusste, was mir zugestoßen war. Der Gedanke, dass sie mich möglicherweise für tot hielt, tat mir in der Seele weh. Ich hegte bittere Schuldgefühle, weil ich mein Leben einfach so vergeudet hatte – zumindest diese zwei Jahre meines Lebens.«
»Also hast du nach deiner Freilassung deinen Plan in die Tat umgesetzt?«
Er nickte. »In Marokko angekommen, fuhr ich als Erstes in mein Dorf. Ich besuchte meine Mutter und meine Schwestern mit ihren Familien. Und dann zog ich in die Sahara, wie ich es mir gelobt hatte.«
»Aber?«, sagte ich, denn ich spürte, dass es ein Aber gab.
»Ich war ohne Geld aus Spanien zurückgekommen. Also konnte ich es mir nicht leisten, Kamele für eine eigene Karawane zu kaufen. Andererseits fiel es mir schwer, unter einem anderen Karawanenführer zu arbeiten. Und natürlich war es ganz anders als damals mit meinem Vater. Vieles hatte sich geändert. Nach einer langen, unbefriedigenden Karawanenreise nach Timbuktu kehrte ich desillusioniert in mein Dorf zurück. Ich wollte nur noch eines: sesshaft werden. Ich wollte meine eigene Familie, ein Haus. Ich heiratete Iliana, und binnen drei Jahren bekamen wir zwei Kinder. Einen Sohn und eine Tochter.« Unvermittelt hielt er inne, als wäre seine Stimme abgeschnitten worden.
Ich wartete, ohne etwas zu sagen.
Er räusperte sich. »Ich liebte meine Frau und Kinder, doch ich machte die gleiche Erfahrung wie damals, als ich versucht hatte, mir ein neues Leben in der Wüste aufzubauen: Ich war zu lange fort gewesen. Außerdem hatte ich das Leben in den Städten kennengelernt und während meiner Reisen zu viel erlebt. Sosehr ich auch versuchte, mich wieder in das Dorfleben einzugewöhnen, gemeinsam mit den anderen Männern auf dem Feld zu arbeiten, so merkte ich doch, dass ich nicht mehr dazugehörte. Es lag nicht an der Arbeit, harte Arbeit macht mir nichts aus. Viel mehr hatte ich das Gefühl, isoliert zu sein. Obwohl das Dorf mit seiner Umgebung wunderschön ist – du hast es ja gesehen –, die Menschen äußerst freundlich, so erinnerte es mich, so merkwürdig es sich auch anhört, an das Gefängnisleben. Die Berge glichen für mich Gefängnismauern. Ich konnte nicht über sie hinweg- oder an ihnen vorbeisehen. Ich fragte Iliana, was sie davon hielt, mit mir nach Marrakesch zu ziehen und unsere Kinder dort aufzuziehen, doch allein die Vorstellung erschreckte sie, denn sie hatte ihr ganzes Leben im Ourika-Tal verbracht. Also fand ich mich mit unserem Leben ab und bemühte mich, in diesen wenigen Jahren, es uns so angenehm wie möglich zu machen. Doch nach …« Wieder unterbrach er sich für einen Moment. »Nachdem ich Iliana und die Kinder verloren hatte, hielt mich nichts mehr im Dorf. Ich wusste, dass ich dort nicht mehr glücklich werden könnte.«
Eine Weile saßen wir schweigend im Wagen und lauschten dem Wind, der zu einem Murmeln abgeebbt war.
»Also kehrte ich nach Marrakesch zurück und suchte mir Arbeit. Natürlich sah ich Manon wieder. Sie hatte ihre Stelle bei der französischen Familie aufgegeben und lebte von den Zuwendungen verschiedener Männer.«
Ich konnte mir vorstellen, was er damals von Manon gehalten haben musste: Frauen wurden entweder Ehefrauen oder Mätressen – Prostituierte mit anderem Namen. Dazwischen gab es nichts. Für eine Frau wie Manon gab es keine Bezeichnung.
»Doch ihr Glück hatte sie noch immer nicht gefunden«, fuhr er fort. »Damals waren wir beide unglücklich, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Ich trauerte um meine Familie, wusste jedoch, dass dieser Schmerz, damals noch tief und beständig, eines Tages vergehen oder zumindest nachlassen würde.«
Ich konnte es kaum ertragen, Aszulay ins Gesicht zu sehen. Sein Ausdruck war wie immer ehrlich, doch diesmal war er auch verletzlich, zu verletzlich.
»Manons Unglücklichsein hingegen war von anderer Art. Es wurzelte in ihrer Wut. Sie hatte das Gefühl, um ein glückliches Leben betrogen worden zu sein, und war nicht in der Lage, sich ein neues, zufriedenes Leben aufzubauen. Irgendetwas fehlt tief in ihrem Innern. Sie klammerte sich an ihre alten Ressentiments fest, weil sie nicht bekommen hatte, was ihr zustand – und wurde schließlich zu einem seelischen Krüppel.«
Aszulay hatte das Wort »Krüppel« unbewusst benutzt; offensichtlich sah er mich nicht auf diese Weise, noch ahnte er, dass er mich damit verletzte, indem er mich an meine eigene Situation gemahnte. Meine eigenen Ressentiments.
»Doch als Badou geboren wurde – ich glaube, dass sie weder mit einer Schwangerschaft gerechnet noch sie gewollt hatte –, änderte sich etwas in ihr.«
»Und was ist mit Badous Vater?«
Er richtete seinen Blick von der Flamme weg auf mich. »Was soll mit ihm sein?«
»Hat sie denn kein bisschen Glück bei ihm gefunden?«, fragte ich.
Aszulay schüttelte den Kopf. »Ich hatte das Gefühl, dass sich Manons Verzweiflung mit Badous Geburt noch verstärkte. Sie war nicht mehr jung und saß mit einem vaterlosen Kind da. Sie kam mit ihrer Mutterrolle nicht zurecht. Sie duldet ihn nur, doch obwohl sie gewiss keine gute Mutter ist, fügt sie ihm kein Leid zu.«
Während ich beobachtete, wie sich Badous Brust im Schlaf hob und senkte, dachte ich an Falida und ihre zahlreichen blauen Flecken. »Sie vernachlässigt ihn. Manchmal hat er Hunger und ist schmutzig«, sagte ich. Es gefiel mir nicht, dass Aszulay Manon und die Art, wie sie Badou behandelte, rechtfertigte.
»Ich glaube, dass Manon nicht fähig ist, ein Kind auf die Weise zu lieben, wie es für eine Mutter natürlich ist«, erwiderte er. »Wie ich sagte, etwas fehlt in ihrem Inneren. Wenn ich daran denke, wie meine …« Er ließ den Satz unbeendet, ich wusste aber, dass er wieder an seine Frau und zwei Kinder dachte. Er hielt noch immer die kleinen Füße des Jungen umfasst, und ich betrachtete, wie sich seine großen Hände liebevoll darum schlossen.
Bestimmt füllte Badou ein wenig die Leere aus, die der Tod seiner Kinder in seinem Leben hinterlassen hatte.
Der Wind kam jetzt aus einer anderen Richtung und wisperte listig durch die Ritze am oberen Rand des Fahrerfensters, und plötzlich erlosch mit einem Zischen die Kerze.
»Und nun du«, sagte Aszulay.
»Ich?« Ich konnte in der Dunkelheit nichts erkennen.
»Deine Geschichte. Ich habe dir meine erzählt, jetzt bist du an der Reihe.«
»Aber … meine ist überhaupt nicht interessant. Im Vergleich zu deiner, habe ich …«
»Warum glaubst du das?«
»Mein Leben ist unbedeutend.«
Ich hörte ein Rascheln und nahm wahr, wie er Badou auf die Sitzbank zwischen uns legte. Ich spürte die Haare des Jungen an meiner Hand und hob sanft seinen Kopf in meinen Schoß. Dabei stellte ich mir vor, wie Aszulay noch immer dessen Füße umfasst hielt, sodass der Körper des Kleinen eine Brücke zwischen uns bildete. Ich zog die Wolldecke unter mir hervor und breitete sie über Badou.
»Kein Leben ist unbedeutend«, sagte Aszulay leise. »Das Leben eines Vogels ist ebenso wichtig wie das eines Königs. Einfach nur anders.«
Und dann machte ich einen Lufthauch aus und spürte Aszulays Gesicht mehr, als dass ich es sah, vor meinem. Ich streckte die Hand aus und tastete über seine Wangenknochen, und im nächsten Moment senkten sich seine Lippen auf meine.
Badou rührte sich, und wir fuhren auseinander.
»Nun erzähl mir deine Geschichte.« Aszulays Stimme war kaum mehr als ein Flüstern in der Dunkelheit.
Eine Weile schwieg ich, dann begann ich zu erzählen.