NEUNUNDZWANZIG

Seit drei Tagen wohnte ich nun in dem Haus in der Sharia Soura. Dem Hausherrn war ich seit meiner Ankunft nicht mehr begegnet, sondern hörte nur morgens und abends seine Stimme und sah ihn vom Fenster meines Zimmers im Innenhof. Oft war er in Begleitung zweier Jungen von vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahren, der Söhne, die Aszulay erwähnt hatte und die offensichtlich Zwillinge waren – beide gleich groß, hoch aufgeschossen und mit breiten Schultern.

Die alte Dienerin schenkte mir keine Beachtung, doch mir entging nicht, dass die jüngere Ehefrau mich neugierig musterte. Auch wenn wir uns nicht unterhalten konnten, schätzte ich ihr Lächeln, das sie nach dem ersten Tag immer öfter zeigte. Sie sagte mir, sie heiße Mena, und lachte, als sie versuchte, meinen Namen auszusprechen. Sie hatte eine hohe, liebenswürdige Stimme und ein rundes, blasses Gesicht, ein Aussehen, das marokkanische Männer besonders schätzten, wie ich wusste. Sie konnte kaum älter als zwanzig sein.

Ich musste nur fragend auf einen Gegenstand deuten, und Mena nannte mir die arabische Bezeichnung. So lernte ich in kurzer Zeit einige neue Worte und einfache Formulierungen. Sie brannte offensichtlich darauf, sich mit mir zu unterhalten, denn trotz der ständigen Anwesenheit der anderen beiden Frauen schien sie einsam zu sein.

Ohne Unterlass plauderte sie, während sie mir zeigte, wie man Couscous zubereitete – der befeuchtete Hartweizengrieß wurde mit Mehl bestäubt und dann über Dampf gegart. Ich sah zu, wie sie harira machte, einen Linsen- und Kichererbseneintopf mit Lammfleisch. Als ich ihr zu verstehen gab, dass ich auch gern andere Gerichte kennenlernen wollte, ließ sie sich nicht lange bitten. Sie zeigte mir, wie man das dazugehörige Fleisch und Gemüse schnitt und wie lange man es garte. Manchmal nahm sie ungeduldig meine Hand und bedeutete mir, dass ich stärker in einem Topf rühren sollte. Den missbilligenden Blicken der alten Dienerin schenkte sie keine Beachtung, doch sobald die ältere Ehefrau – Nawar – die Küche betrat, schwieg sie.

Am vierten Tag wurde ich unruhig und hielt es nicht länger im Haus, auf dem Dach oder im Innenhof aus. Ich ließ Mena wissen, dass ich gern ausgehen wollte. Sie besprach sich mit Nawar, die ein mürrisches Gesicht machte, dann aber nach Najeeb rief, woraufhin einer der Jungen aus einem Zimmer herauskam. Sie redete kurz mit ihm, wies mit einer Kinnbewegung zu mir, und Najeeb ging zum Tor, wo er wartend stehen blieb. Ich bedeckte das Gesicht und folgte ihm in das Gassengewirr hinaus. Während er vor mir herging, blickte ich auf seine nackten Fersen, an denen sich eine dicke Hornschicht gebildet hatte. Einige Straßen und Ecken erkannte ich wieder, und auf dem Weg zu den Souks kamen wir sogar an der Sharia Zitoun vorbei. Ich sah die Nische in der Wand, in der sich die Kätzchen versteckten und in die Badou und Falida sich setzten, wenn Manon sie wieder einmal hinausschickte.

Als wir die Souks erreichten, ließ Najeeb mich vorausgehen, offensichtlich nahm er an, dass ich Einkäufe erledigen wollte.

Ich überquerte den Dschemma el Fna, passierte das große Tor und betrat das Französische Viertel. Auf dem Weg zum Hôtel de la Palmeraie warf ich immer wieder einen Blick über die Schulter zurück zu Najeeb. Ehe ich die Hotelhalle betrat, bedeutete ich dem Jungen, draußen zu warten, und nahm Gesichtsschleier und haik ab. Augenblicklich wich er vor mir zurück.

Als Monsieur Henri mich hereinkommen sah, bedachte er meinen Kaftan zwar mit einem Stirnrunzeln, nickte mir aber zu. »Ach, Mademoiselle, ja. Ich habe fantastische Neuigkeiten für Sie. Beide Ihrer Bilder wurden verkauft, und die Käufer sind an weiteren Werken von Ihnen interessiert. Es handelt sich um ein junges Paar, das gerade dabei ist, sein Haus in Antibes einzurichten, und sie hätten gern mindestens vier weitere Bilder in der gleichen Anmutung.«

Eine ungekannte Hitze durchströmte mich. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie es sich anfühlte, eine solche Nachricht zu erhalten – dass meine Bilder gefragt waren.

»Mademoiselle? Sie sagten, Sie hätten weitere Bilder. Das Paar reist nächste Woche ab und hätte gern davor die Gelegenheit genützt, sich die Bilder anzusehen.«

Ich nickte. »Ja, ja, natürlich. Ich bringe sie morgen vorbei.«

»Gut. Nun schauen wir einmal«, murmelte er und drehte sich zu einer herausgezogenen Schublade im Schrank hinter dem Tresen um. »Ja, hier ist es. Das Hotel hat die üblichen fünfzig Prozent Kommission einbehalten. Die Einzelheiten des Verkaufs finden Sie auf der beigefügten Quittung.«

Ich nahm den Umschlag entgegen. »Danke, Monsieur Henri, vielen Dank.«

»Dann bis morgen.« Erneut wandte er mir den Rücken zu und machte mir somit klar, dass es nichts mehr zu besprechen gab.

Ehe ich wieder zu Najeeb hinaustrat, bedeckte ich mich rasch, um ihn nicht wieder in Verlegenheit zu bringen. Ich konnte meine Neugier nicht länger bezähmen und riss das Kuvert auf. Zusammen mit der getippten Quittung zog ich einen Scheck hervor, der auf einen Betrag ausgestellt war, mit dessen Höhe ich nicht gerechnet hätte. Ich starrte ihn ungläubig an und dachte zunächst, ich hätte mich verlesen. Aber ich irrte mich nicht. Die Summe, die meine zwei Bilder erzielt hatten, erfüllte mich mit einer ungekannten Euphorie.

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich einen Lohn erhalten.

Nachdem ich den Scheck wieder in den Umschlag gesteckt hatte, ging Najeeb vor mir her in Richtung der Medina, doch ich rief seinen Namen und bedeutete ihm, mir zu folgen. Ich betrat eine Bank, trat zum Schalter und sagte dem Bankangestellten, ich wolle ein Konto eröffnen.

Dieser sah mich an. »Können Sie sich ausweisen, Mademoiselle?«

»Nein, aber ich komme morgen mit meinem Ausweis zurück«, sagte ich und ließ mich dann bereitwillig von Najeeb in die Sharia Soura zurückführen.

Am nächsten Morgen äußerte ich abermals den Wunsch, das Haus zu verlassen, und Nawar sah mich mit dem gleichen mürrischen Blick an, rief aber erneut nach Najeeb.

Zuerst begab ich mich ins Hôtel de la Palmeraie und hinterließ bei Monsieur Henri die vier Bilder, die ich fertiggestellt hatte.

Anschließend suchte ich wieder die Bank auf und eröffnete ein Konto, um dann eine kleine Summe abzuheben. Als Nächstes ging ich in das Geschäft für Künstlerbedarf, um Papier und Farben zu kaufen. Aus einer Laune heraus erstand ich auch eine Schachtel mit Ölfarben in Tuben, ein paar Leinwände und verschiedene Pinsel. Ich überlegte, wie viel mehr Tiefe ich erreichen könnte, wenn ich mit Ölfarben malte. Es würde für mich eine vollkommen neue Technik sein, und ich konnte es nicht erwarten, sie auszuprobieren.

Auf dem Rückweg spazierte ich durch die einzelnen Souks mit ihren verschiedenen Farben und Geräuschen, je nach ihrem Warenangebot. Hier und dort blieb ich stehen und befühlte einen Stoff oder eine Holzschnitzerei oder einen Silbergegenstand. Die ganze Zeit über stand Najeeb hinter mir und trug bereitwillig meine Einkäufe. Ich schenkte ihm eine große Tüte mit Cashewnüssen.

Zu Hause wollte ich sofort mit dem Malen beginnen. In meinem Zimmer war zu dieser Tageszeit zu wenig Licht, also schaffte ich die Staffelei in den Innenhof, spannte eine Leinwand ein und drückte Ölfarben aus den Tuben auf die Palette.

Kurz darauf kam Mena aus dem Haus und zog sich einen Hocker heran. Während sie zusah, wie der Innenhof langsam unter meinen Pinselstrichen erstand, überzogen sich ihre sonst so blassen Wangen mit einer sanften Röte.

Ich drehte mich zu ihr, zeigte auf ihr Gesicht und wandte mich dann wieder der Leinwand zu. Als ich sie zu malen begann, rief sie erschrocken: »La, la!« Nein.

»Was ist denn los?«, fragte ich, und sie bemühte sich, mir mithilfe von Gesten den Grund ihrer Aufregung zu erklären. Ich verstand inzwischen genug Arabisch, um zu begreifen, dass ich sie nicht malen durfte, um ihre Seele nicht auf der Leinwand einzufangen.

Ich nickte und fragte sie in einfachen Worten, ob ich denn einen Mann abbilden könne.

Sie überlegte einen Moment und nickte dann. Gegen einen Mann war nichts einzuwenden. Die Seele eines Mannes war stark genug, um sich nicht einfangen zu lassen, meinte ich ihren Worten und Gesten zu entnehmen. Doch eine Frau oder ein Kind durfte ich keinesfalls malen.

Wir saßen in einvernehmlichem Schweigen da, und Mena sah mir bei der Arbeit zu, als Nawar in den Innenhof kam. Sie blieb stehen und sah sich das Bild an. Sie presste die Lippen zusammen, schüttelte den Kopf und redete in einem Wortschwall auf Mena ein, ehe sie mit wehendem Kaftan wieder ins Haus rauschte.

Ich sah ihr nach und warf dann Mena einen fragenden Blick zu. Sie schüttelte enttäuscht den Kopf und sagte mir, Nawar hätte mir verboten, im Innenhof zu malen, da sie fürchtete, ich würde mit meinen Bildern böse Geister anlocken.

Am nächsten Tag war ich mit Mena und Nawar auf dem Dach, als die alte Dienerin etwas aus dem Innenhof hochrief. Mena beugte sich über den Rand des Daches und sprach mit ihr. Dann sah sie mich an.

»Aszulay ist hier«, sagte sie auf Arabisch.

Ich sprang auf, vielleicht ein wenig zu schnell, und lief in Richtung Treppe.

»Sidonie!«, rief Mena mir nach, und als ich mich zu ihr umdrehte, legte sie die Hand auf Nase und Mund, um mich zu erinnern, dass ich mich bedecken sollte.

Ich nickte, es war mir zu umständlich, ihr zu erklären, warum das nicht nötig sei, und stieg die Treppe hinab.

Aszulay stand mit Badou an der Hand im Innenhof.

»Hallo!«, sagte ich ein wenig außer Atem, weil ich mich so beeilt hatte, und sah von Aszulay zu Badou. »Ist Etienne zurückgekommen?«, fragte ich dann.

Aszulay hob eine Schulter, und ich hatte den Eindruck, dass ihn meine Frage verdross. »Nein.«

»Oder sind Sie gekommen, um mir zu sagen, dass ich nicht länger hier wohnen kann?« Ich schluckte schwer.

»Nein. Ich habe mit meinem Freund gesprochen. Sie können noch bleiben.«

Ich nickte, erleichtert und doch gleichzeitig beunruhigt, weil ich noch immer nichts von Etienne gehört hatte.

Ich ließ den Atem langsam entweichen. »Danke, Aszulay. Und wie geht es dir, Badou?«, sagte ich und sah das Kind an.

Er lächelte. Zufrieden nahm ich zur Kenntnis, dass sein Haar frisch geschnitten war und glänzte und dass seine kleine dschellaba und Baumwollhose einen sauberen Eindruck machten. »Wir sehen uns die Schildkröten an«, sagte er.

»Im Garten«, erklärte Aszulay. »Ich habe heute früher aufgehört, deswegen kann ich mit Badou etwas unternehmen. Weil das Haus quasi auf dem Weg liegt, dachte ich, ich frage Sie, ob Sie vielleicht mitkommen wollen.«

Er sagte es in beiläufigem Ton, und doch hörte ich ein leichtes Zögern in seiner Stimme.

»Oh!« Ich war überrascht.

»Kommst du mit, Sidonie?«, fragte Badou.

Erst jetzt merkte ich wieder, wie sehr ich mich danach sehnte, einmal wieder hinauszukommen. In der vergangenen Woche hatte ich oft darüber nachgedacht, wie beschränkt das Leben von Nawar und Mena doch war. »Ja, gern«, sagte ich. »Ich gehe nur rasch meinen Schleier und haik holen.« Als ich die Treppe hochstieg, begegnete ich Mena, die auf einer Stufe stand und offenbar gelauscht hatte, auch wenn sie kein Französisch verstand. Sie hob die Augenbrauen, als wollte sie fragen, was ich vorhabe.

Ich bemühte mich mehr schlecht als recht, ihr auf Arabisch klarzumachen, dass ich ausgehen wolle, und ließ Aszulays Namen fallen.

Da presste sie die Lippen zusammen, genau wie Nawar, wenn sie unzufrieden mit mir war. Ohne ein Wort zu sagen, drehte sie sich um und ging wieder die Treppe zum Dach hinauf.

In meinem Zimmer nahm ich den Gesichtsschleier vom Bett, doch ehe ich ihn umlegte, betrachtete ich mich im Spiegel, um mit dem Mittelfinger die Augenbrauen glatt zu streichen, so wie ich es bei Manon gesehen hatte.

Bevor wir die Medina verließen, blieben wir an einem Stand mit Süßigkeiten stehen. Aszulay gab dem Jungen ein paar Centimes in die Hand.

Badou hüpfte zu dem Händler, der vor einem Tisch stand, auf dem sich Berge bunter Fruchtgummis türmten, die wie Edelsteine schillerten.

»Ich gehe mir inzwischen die Messer anschauen«, sagte Aszulay und trat an einen anderen Stand in der Nähe.

Währenddessen beobachtete ich, wie Badou selbstständig seinen Einkauf tätigte, wie er stolz das Kinn hob, während er sich mit dem Händler auf Arabisch unterhielt und die Hand mit den Münzen darauf ausstreckte. Der Mann nahm die Geldstücke und wog Fruchtgummis in einer dreieckigen Papiertüte ab, ehe er sie ihm reichte und mit einem freundlichen Nicken etwas zu ihm sagte.

Als Badou wieder zu mir kam, blickte er zu Aszulay hinüber, der mit dem Daumen eine Messerklinge befühlte. Der Junge nahm eine Geleefrucht aus der Tüte und steckte sie in den Mund. Dann hielt er mir die Tüte hin. »Der Mann hat gesagt, ich muss die Süßigkeiten mit meinem Vater und meiner Mutter teilen«, sagte er und lächelte dann. »Ist doch lustig, nicht?«

»Ja«, sagte ich ebenfalls lächelnd und fischte eine mit Zucker bestäubte Geleefrucht aus der Tüte.

Wir verließen die Medina und ließen uns in einem Eselskarren zum Jardin Majorelle fahren.

»Wir gehen zu einem der größeren Teiche«, sagte Aszulay, als wir den Garten betraten. »Dort gibt es die größten Wasserschildkröten.«

Während Badou zum Ufer rannte, entledigte ich mich meines haiks und Gesichtsschleiers und legte beides zusammengefaltet auf eine Steinbank.

Monsieur Majorelle kam an uns vorbei, grüßte Aszulay und blieb stehen, als er mich sah.

»Bonjour, Monsieur Majorelle«, sagte ich. »Ich bin Mademoiselle O’Shea. Wir sind uns vor einiger Zeit schon einmal begegnet, als ich mit Monsieur und Madame Russell hier war.«

Er wirkte überrascht. »Ach ja. Sie scheinen sich ja gut in Marrakesch eingewöhnt zu haben.« Er warf Aszulay einen fragenden Blick zu, doch dieser sagte nichts. »Wir sehen uns dann morgen, Aszulay. Es sind einige neue Pflanzen angekommen.«

Badou ging vor dem reglosen Wasser in die Hocke und blickte gebannt auf die glatte, von Wasserlilien durchzogene Fläche, auf der sich der Himmel spiegelte. Aszulay sagte etwas auf Arabisch zu ihm, woraufhin Badou die Hand ins Wasser tauchte, was aussah, als zerteilte er Glas, und sie hin und her schwenkte. Kurz darauf lugte nur wenige Zentimeter von Badous Hand entfernt der Kopf einer Schildkröte aus dem Wasser. Badou sprang erschrocken zurück und keuchte auf, dann blickte er sich zu uns um und lachte.

»Une tortue«, sagte er mit einem breiten Lächeln. »Sie hat mich erschreckt.« Wieder trat er ans Wasser, ging in die Knie und plantschte mit der Hand im Wasser. »Sie soll das noch mal machen.«

Die Schildkröte schwamm näher, wahrscheinlich weil sie hoffte, einen Bissen zu ergattern, wieder tauchte der runde Kopf aus dem Wasser, öffnete das zahnlose Maul und verschwand wieder.

Badou lachte, freute sich ausgelassen über das Spiel. Mit einem Mal schien er ein ganz anderer Junge zu sein, der ernste Ausdruck, den er sonst immer zeigte, war wie weggewischt.

»Ich habe Sie zum ersten Mal lachen hören«, sagte Aszulay.

Unwillkürlich legte ich die Hand vor den Mund; es war mir gar nicht bewusst gewesen, dass ich mich von Badou hatte anstecken lassen.

Aszulay sah mich an. »Es scheint, Sie bereuen es, gelacht zu haben. Warum denn?«

Ich blinzelte. »Ich weiß es nicht.« Ich dachte an das Baby, an Etienne, an all das, was in den letzten Monaten passiert war. Mir wurde bewusst, dass ich seit Etiennes so plötzlichem Verschwinden nicht mehr gelacht hatte. War ich der Meinung, kein Recht mehr auf das Lachen zu haben? Glücklich zu sein?

Mein Blick schweifte wieder zu Badou, der mit den Fingern im Wasser die Schildkröte lockte. Einen flüchtigen Moment lang hatte er hier in der Sonne dafür gesorgt, dass ich die Last meines früheren Lebens vergaß. Dann streifte mein Blick Aszulay. Er sah mich nicht an, und mich beschlich das leise Gefühl, als bemitleide er mich.

Ich wollte nicht, dass dieser Mann mich bedauerte. Ich stand von der Bank auf, ging zu Badou und kniete mich neben ihn. »Mal sehen, ob wir die Schildkröte noch mal dazu bringen, sich zu zeigen«, sagte ich und plätscherte mit den Fingern im Wasser.

Während wir den Garten verließen, sprach Aszulay auf Arabisch mit Badou. Der Junge sah ihn freudestrahlend an. »O ja, Onkel Aszulay, ja, wann fahren wir?«

»In einer Woche. In sieben Tagen«, erwiderte er und hob Badou in den Eselskarren, der draußen auf uns gewartet hatte. Badou zählte die Tage an seinen Fingern ab und bewegte leise die Lippen dazu. »Ich besuche alle paar Monate meine Familie.« Aszulay drehte sich zu mir um. »Badou kommt gern mit mir, weil er dort mit anderen Kindern spielen kann.«

Seine Familie.

»Oh, Sie haben Kinder?«, fragte ich verwundert, oder besser gesagt bestürzt. Aber warum? Ich war davon ausgegangen, dass er nicht verheiratet sei, keine Kinder hatte. Nicht nur weil ich in seiner Wohnung, abgesehen von der alten Bediensteten, keine Hinweise auf eine andere Frau bemerkt hatte, sondern auch wegen Manon. Irgendwie hatte ich ihm nicht zugetraut, dass er neben einer Frau auch eine Geliebte hatte.

»Nein«, sagte er und wandte sich demonstrativ wieder Badou zu, um sich mit ihm über die Wasserschildkröten zu unterhalten.

Wir stiegen vom Eselskarren, und Aszulay und Badou begleiteten mich in die Sharia Soura zurück. Badou fragte: »Kommst du mit uns ins bled, Sidonie?«

»Nein, Badou«, sagte ich und blieb vor dem Tor stehen. »Aber ich wünsche dir eine wunderbare Zeit dort.« Ich drehte mich um und klopfte.

Während wir warteten, sagte Aszulay: »Würden Sie gerne mitkommen?«

Ich nahm an, dass er es aus reiner Höflichkeit gesagt hatte. Doch wie so oft in letzter Zeit sollte ich mich mit meiner Vermutung, die so typisch amerikanisch war, irren. So dachte Aszulay nicht. »Wir bleiben nur zwei Tage weg«, fügte er hinzu.

Najeeb öffnete das Tor.

Zwei Tage bedeutete, dass wir dort übernachten würden. Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte Aszulay: »Keine Sorge, es gibt einen Frauenbereich.«

Ich rief mir ins Gedächtnis, wie ich mit Mustapha und Aziz unter freiem Himmel übernachtet hatte: die Sterne, die Stille, das wilde Kamel. Wieder sinnierte ich darüber nach, was Aszulay wohl mit »Familie« gemeint hatte. Er hatte keine Kinder, aber vielleicht eine Frau? Oder gar zwei oder drei?

»Ich fahre mit meiner camionnette«, sagte er.

»Einem kleinen Lastwagen? Sie besitzen ein Fahrzeug?«

Er nickte. Wieder war ich überrascht. In meiner Vorstellung ging er wie der erste Blaue Mann, dem ich begegnet war, zu Fuß auf einer Karawanenpiste. Oder saß höchstens auf dem Rücken eines Kamels.

»Finden Sie das merkwürdig?«

Ich lächelte. »Nein, nicht wirklich.«

»Also, kommen Sie mit?«

»Ja, ich komme mit. Es sei denn …« Ich brach ab. Es sei denn, Etienne würde inzwischen zurückkommen.

»Es sei denn …?«, fragte er.

»Ach, nichts.«

»Dann also bis in sieben Tagen. Ich hole Sie nach dem Frühstück ab«, sagte er.

»Bringst du uns morgen wieder etwas zu essen, Onkel Aszulay?«, fragte Badou und sah zu ihm hoch.

Aszulay legte ihm die Hand auf den Kopf. »Morgen muss ich lange arbeiten. Aber ich habe euch Essen dagelassen. Falida wird es für euch aufwärmen.«

»Wird Maman bald wieder zurückkommen?«, fragte Badou.

Aszulay nickte. »Ja, bald.«

Ich sah zuerst den Jungen an, dann Aszulay. »Ich könnte morgen nach Badou und Falida schauen.«

»Ja, bitte komm uns besuchen«, sagte Badou begeistert.

»Wenn Sie mögen«, sagte Aszulay.

»Also, dann bis morgen, Badou«, sagte ich, und der Junge nickte.

Aszulay nahm Badou an der Hand, und ich trat durch das Tor.