SECHZEHN
Da das Schiff nach Tanger erst am nächsten Nachmittag auslief, musste ich in Marseille übernachten. Nach der einwöchigen Schiffsreise war ich seltsamerweise müde und erschöpft, obwohl ich mich, abgesehen von den Spaziergängen an Deck, die ich zweimal täglich unternahm, meistens auf der schmalen Koje ausgeruht hatte.
Während meine Koffer in ein Taxi geladen wurden, blickte ich teilnahmslos auf den Hafen. Dann ließ ich mich zu dem Hotel fahren, das mir jemand an Bord des Schiffes empfohlen hatte.
Dort angekommen, fragte mich die Concierge nach meinem Namen, und ich zögerte, ehe ich sagte: »Madame Duverger.« Der Name war mir einfach entschlüpft, obwohl keine Notwendigkeit bestand, mich unter einem anderen Namen auszugeben.
»Wie viele Tage bleiben Sie?«
»Nur für eine Nacht. Ich nehme morgen das Schiff nach Tanger.« Mir war auch nicht klar, warum ich mich bemüßigt fühlte, vor dieser ernst blickenden, unfreundlichen Frau irgendwelche Erklärungen abzugeben. Das Namensschild an ihrer Bluse wies sie als Madame Buisson aus. Sie streckte die Hand aus.
»Wollen Sie, dass ich im Voraus bezahle?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ihren Pass bitte, Madame. Wir behalten ihn bis zu Ihrer Abreise.«
Ich schluckte. »Aber das ist doch bestimmt nicht nötig.«
»Doch, es ist nötig.« Ihre Hand war noch immer ausgestreckt. »Ihren Pass«, wiederholte sie.
Ich öffnete meine Handtasche, fischte das mit rotem Einband bezogene Dokument heraus und reichte es ihr. Sie schlug es auf und besah sich mein Passbild. Während sie dann meine Daten überflog, veränderte sich ihre Miene kaum merklich. Sidonie O’Shea, stand dort. Geboren: 1. Januar 1900 in Albany, New York. Ehestand: ledig.
Auch wenn sie kein Englisch verstand, musste sie merken, dass ich ihr einen anderen Namen genannt hatte als den, der in meinem Pass stand. Und ich war keine Madame.
Sie sagte nichts, sondern drehte sich um und ging mit meinem Pass in das kleine Zimmer hinter dem Empfangstresen. Kurz darauf kam sie zurück und reichte mir einen großen Metallschlüssel mit einem Lederriemen. »Zimmer Nr. 267, Madame«, sagte sie, und ich nahm dankbar zur Kenntnis, dass sie das letzte Wort ohne Sarkasmus sprach. »Der Junge wird gleich Ihr Gepäck nach oben bringen.«
»Merci.« Ich nahm einen tiefen Atemzug und stieg die Holztreppe in den ersten Stock empor.
Das Zimmer war klein, aber sauber und verfügte über den Luxus eines angrenzenden salle de bains. Ich setzte mich auf den Bettrand und wartete auf meine Koffer, um mein Nachthemd anziehen zu können.
Mir war nicht danach, mir Marseille näher anzuschauen. Die Hafenanlagen waren nicht besonders einladend gewesen, überall stapelten sich Kisten mit Schiffslieferungen und lungerten dunkelhäutige Männer herum, die einen mit verschleiertem Blick beobachteten. Auf der Fahrt ins Hotel hatte ich unzählige verwahrloste Kinder gesehen sowie heruntergekommene, verfallene Wohnblocks, kaum mehr als Ruinen.
Die Stadt kam mir fremd vor, aber mir ging durch den Kopf, welches Band mich mit diesem Land verband: Die Familie meiner Mutter stammte ursprünglich aus Frankreich, also hatte ich französisches Blut in meinen Adern. Und der Vater meines ungeborenen Kindes war ebenfalls Franzose. Also würde unser Kind zu drei Vierteln französisch sein.
Kaum standen meine Koffer in der Nähe des Schranks, öffnete ich einen und zog ein Nachthemd heraus. Es war erst sieben Uhr abends, aber mein Rücken tat weh. Ich sehnte mich nach einer Wärmflasche. Mit einem erleichterten Seufzer ließ ich mich auf das Bett sinken und schlief trotz der Rückenschmerzen augenblicklich ein.
Mitten in der Nacht wachte ich von den Schmerzen auf. Sie waren von meinem Rücken in den Unterleib gewandert und stärker geworden. Unwillkürlich rollte ich mich zusammen. Ich überlegte mir, ob ein heißes Bad vielleicht helfen würde. Langsam schlug ich die Bettdecke zurück, und als ich aufstand, spürte ich, wie sich ein Schwall Flüssigkeit an meinen Beinen hinab ergoss. Entsetzt blickte ich zu der dunklen Lache zu meinen Füßen. Die Hände auf den Bauch gepresst, schleppte ich mich ins Bad und betätigte den Lichtschalter. Der Anblick des Blutes ließ meine Beine schwach werden, weil ich wusste, was es bedeutete.
»Nein!«, schrie ich, und meine Stimme hallte in dem kahlen Badezimmer wider. Ich konnte unmöglich die Treppe hinunter zur Concierge gehen, denn der Blutfluss und die Krämpfe hielten unvermindert an. »Etienne!«, rief ich, denn mir fiel kein anderer Name ein, den ich um Hilfe anrufen konnte. »Etienne«, sagte ich nochmals, leise diesmal, und wieder erhielt ich nur das Echo meiner Stimme zur Antwort.
Ich war vollkommen allein. Da war niemand, der mir hätte helfen können. Und ich konnte nicht verhindern, dass das begonnene Leben aus meinem Körper entwich.
Später lag ich auf einem Handtuch seitlich auf den harten Fliesen des Badezimmerbodens, die Knie an den Bauch gezogen. Ich hatte so viel geweint, dass mein Kopf hämmerte; ich verspürte Durst, doch fehlte mir die Energie, aufzustehen und vom Wasserhahn zu trinken.
Ich blieb so liegen, bis das erste Tageslicht durch die Badezimmertür fiel und auf mein Gesicht schien. Ich beobachtete, wie das Licht über das Bett und die Wand kroch. An der Zimmertür war ein leises Klopfen zu hören, aber ich blieb stumm. Ich konnte weder aufstehen noch die Augen schließen. Es war, als wäre mein Körper eine leblose Muschelschale, die mir nicht gehorchte, mein Geist hingegen ein Muskel, der sich im steten Rhythmus zusammenzog und immer wieder dieselben Worte ausstieß: Dein Kind ist tot. Dein Kind ist tot.
Durch das halb geöffnete Fenster drangen Rufe, dann Kinderstimmen und das unaufhörliche Bellen eines Hundes.
Wieder ein Klopfen an der Tür, kräftiger diesmal, und eine Mädchenstimme ließ sich vernehmen, die sagte: »Madame! Madame, ich möchte gern Ihr Zimmer sauber machen.« Sie rüttelte am Türgriff. Ich sog bebend die Luft ein und hob die Hände zum Gesicht. Meine Wangen waren nass. Das Rütteln hörte wieder auf.
Jede Bewegung tat weh, und meine Glieder schmerzten wie bei einer Grippe. Zitternd gelang es mir, mich aufzusetzen, und mein Blick fiel auf die blutgetränkten Handtücher um mich her.
»Etienne«, flüsterte ich. »Was soll ich jetzt tun? Was soll ich bloß tun?«
Mühsam rappelte ich mich auf und klammerte mich am Waschbecken fest. Dann ließ ich Wasser in die Wanne und nahm ein Bad. Ich zog ein frisches Nachthemd an und knüllte das schmutzige zusammen, um es im Abfalleimer zu verstauen. Ich war zu schwach, um die Handtücher auszuspülen, und warf sie stattdessen in die Wanne, wo sie einen gräulich-rosafarbenen Haufen bildeten, ehe ich wieder ins Bett ging.
Immer wieder berührte ich meinen Unterleib. Ich konnte kaum glauben, dass das winzige Wesen, das Etienne und ich gezeugt hatten, verschwunden war.
Ich muss mich wohl in einem Schockzustand befunden haben, denn es gelang mir nicht, an etwas anderes zu denken als an den Tod des kleinen Wesens. Irgendwann faltete ich die Hände zusammen und betete für seine Seele.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dalag, aber als auf dem Flur wieder Geräusche zu hören waren und abermals am meine Tür geklopft wurde, rief ich, so laut ich konnte: »Bitten Sie Madame Buisson, in mein Zimmer zu kommen. Ich bin krank.« Ich kroch mühsam wieder aus dem Bett und schloss die Tür auf.
Kurz darauf erschien die Concierge. Sie blieb auf der Schwelle stehen und sah mich an. Ich sagte ihr, ich sei krank, sie solle bitte einen Arzt holen. Ich hatte mich in dem schmalen Bett halbwegs in Sitzposition aufgerichtet und die Laken notdürftig über die Beine gezogen.
Sie nickte, und ihre Miene war ebenso unergründlich wie am Tag zuvor. Doch als ihr Blick zu der offenen Badezimmertür huschte, hob und senkte sich ihre Brust rascher. Ich folgte ihrem Blick und bemerkte, dass ich eines der blutgetränkten Handtücher auf dem Boden liegen gelassen hatte. Sie ging zum Bad, spähte hinein und schloss energisch die Tür. Dann starrte sie mich nochmals an, und ich sah, dass sie ihren Kopf kaum merklich schüttelte, ehe sie ging.
Ich musste wohl eingeschlafen sein, denn die Zeitspanne, bis sie wieder zurückkam, diesmal mit einem Arzt in mittlerem Alter, kam mir äußerst kurz vor. Er hatte einen dichten Schnurrbart und zu viel Pomade im Haar. In der Hand trug er eine schwarze Tasche, und mir fiel auf, dass seine Hände rissig waren.
»Mademoiselle O’Shea«, sagte Madame Buisson und fügte hinzu: »Amerikanerin, gestern erst angekommen.« Dabei machte sie eine Miene, als läge ein unangenehmer Geruch in der Luft. Der Arzt nickte mir zu. Mir war nicht entgangen, dass die Concierge diesmal Mademoiselle besonders betont hatte. Sie blieb neben dem Arzt stehen, die Hände fest vor dem Körper gefaltet.
Der Arzt frage sie – ich wunderte mich, warum er sich nicht an mich wandte –, was mir fehle. Ich hätte in der vergangenen Nacht eine Menge Blut verloren. Sie sagte die Worte – perte de sang – beinahe im Flüsterton, als wäre es schändlich, sie auszusprechen. Dann hob sie vielsagend die Augenbrauen.
»Ah«, sagte der Arzt mit einem verstohlenen Blick zu mir. »Une fausse couche?«
»Wahrscheinlich. Alles deutet auf eine Fehlgeburt hin, Doktor«, sagte die Frau. Diese Fragen zu beantworten, schien ihr eine besondere Genugtuung zu bereiten.
Wieder warf mir der Arzt einen kurzen Blick zu, ehe er sich erneut der Concierge zuwandte und rasch fragte: »Ist sie allein?« Und an seinem Ton konnte ich erkennen, dass er die Antwort bereits kannte.
Dann erkundigte er sich nach dem Grund meines Aufenthaltes in Marseille, und sie sagte ihm, dass ich nach Tanger weiterreisen wolle.
Wieder blickte er zu mir und schüttelte den Kopf. »C’est impossible. Oh, aber das ist nicht möglich, Mademoiselle«, fügte er in gebrochenem Englisch hinzu. Er sprach so laut und langsam, als hielte er mich für taub oder schwer von Begriff. »Sie dürfen diese Reise nicht antreten.« Und nun wusste ich, warum er mich die ganze Zeit ignoriert hatte und, statt sich an mich zu wenden, mit der Concierge gesprochen hatte. Weil sie so betont hatte, ich sei Amerikanern, hatte er wohl angenommen, dass ich kein Französisch sprach. Wieder wandte er sich an die Concierge. »Sie wird diese Reise allein nicht schaffen, wenn sie gerade eine Fehlgeburt erlitten hat.«
»Außerdem ist sie verkrüppelt«, sagte die Frau und warf mir einen kurzen Seitenblick zu. Ich war zu schwach, zu verzweifelt, um mich gegen ihre Unverfrorenheit zu wehren.
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nun, ein Grund mehr, dass sie nicht allein an einen so gefährlichen Ort reisen kann. Es wird sicherlich eine Zeit dauern, bis sie sich wieder erholt hat. Sagen Sie ihr, sie soll so bald wie möglich nach Amerika zurückkehren.«
»Monsieur le Docteur«, sagte ich, »ich verstehe Sie durchaus. Bitte sprechen Sie direkt mit mir.«
Er errötete, fing sich aber sofort wieder, nachdem er sich geräuspert und seine ohnehin makellosen Revers glatt gestrichen hatte. »Ich bitte um Verzeihung.« Er warf Madame Buisson einen verstohlenen Blick zu. »Mir war nicht bewusst, dass Sie Französisch sprechen.«
Ich strich ein paar zerzauste Haarsträhnen zurück. »Ich muss nach Nordafrika reisen. Nach Tanger, und zwar so schnell wie möglich. Wann, glauben Sie, werde ich einigermaßen wiederhergestellt sein?«
»Oh, Mademoiselle«, sagte er. »Ich kann Ihnen wirklich nur davon abraten, in absehbarer Zeit eine solche Reise zu unternehmen. Haben Sie Freunde in Marseille? Oder irgendwo sonst in Frankreich, wo Sie eine Zeit lang bleiben können? Bis Sie sich erholt haben.«
»Nein, ich muss unbedingt weiterreisen.« Ich bemühte mich, meiner Stimme einen festen Klang zu verleihen, aber sie gehorchte mir nicht. Sie war schwach, und meine Lippen zitterten.
»Nun, wenn Sie darauf bestehen, aber in diesem Fall kann ich Ihnen nur ans Herz legen, sich von jemandem begleiten zu lassen, um … Sie zu beschützen, wenn Sie dort ankommen. Als ich vorhin davon sprach, dass es ein gefährlicher Ort ist, habe ich das nicht despektierlich gemeint. Marokko ist ein Land, das eine gute körperliche Konstitution erfordert, ebenso wie die Fähigkeit, sich an die Gegebenheiten anzupassen. Gegebenheiten, in der sich eine Frau wie Sie, offensichtlich aus gutem Hause und von zarter Gesundheit, schwertun könnte. Noch dazu eine, die gerade eine Fehlgeburt erlitten hat.«
Meine Augen brannten, und ich blinzelte rasch die aufsteigenden Tränen weg. »Könnte es nicht sein, dass ich mich rasch erhole?«
»Mademoiselle, wie ich bereits sagte, müssen Sie sich ausruhen und sich die Zeit nehmen, die Ihr Körper benötigt, um neue Kraft zu gewinnen. Im wievielten Monat waren Sie?«
»Im dritten.«
Er strich mit Zeigefinger und Daumen den Schnurrbart glatt, dann nahm er seine Tasche und öffnete sie. Er brachte eine grüne Flasche zum Vorschein und stellte sie auf den Stuhl neben dem Bett. »Hat die Blutung aufgehört?«
»So gut wie.«
»Und war es eine vollständige Fehlgeburt?«
»Ich … ich weiß nicht.«
»Haben Sie das Gefühl, dass Ihr Körper alles ausgeschieden hat?«
Ich schluckte. »Ich glaube schon.«
»Wollen Sie ins Krankenhaus gebracht werden? Es gibt eine kleine Klinik in der Nähe, die sich auf Ausländer spezialisiert hat. Ich könnte einen Wagen kommen lassen …«
»Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird.«
»Gut. Aber wenn es Komplikationen gibt, müssen Sie unbedingt ins Krankenhaus. Ansonsten bleiben Sie die nächsten Tage über im Bett und strengen sich in keiner Weise an. Ich lasse Ihnen etwas da« – er wies auf die grüne Flasche –, »ein Mittel, das in einer solchen Situation angebracht ist. Es wird ein wenig Krämpfe verursachen. Doch für den Fall, dass die Fehlgeburt noch nicht vollständig war, sorgt das Mittel dafür, dass Ihre Gebärmutter alles abstößt.«
Bei seinen letzten Worten erfasste ich erst das ganze Ausmaß dessen, was mir zugestoßen war. Ein tiefer Schmerz überwältigte mich, und ich musste die Augen mit der Hand bedecken. Ich zitterte und klapperte leise mit den Zähnen. Ich wusste, da war noch eine Frage, die ich stellen musste, die meine Gedanken beherrschte. Ich nahm die Hand von den Augen und sah den Arzt an.
»Könnte es möglicherweise meine Schuld sein?«, fragte ich. »Wegen der einwöchigen Reise mit dem Schiff von Amerika hierher? Oder … weil ich in letzter Zeit so viele Sorgen hatte.« Ich atmete langsam und zittrig aus. »Vielleicht habe ich mich nicht richtig ernährt. Ich hatte auch Schlafprobleme. Habe ich es verursacht? Muss ich es mir selbst zuschreiben, dass ich das Kind verloren habe?«
»Mademoiselle«, sagte der Arzt mit freundlicher Stimme und trat näher ans Bett. »Manchmal will die Natur es einfach so. Man kann es nie wissen.« Er tätschelte meine Hand. »Machen Sie sich keine Vorwürfe. Versuchen Sie, sich auszuruhen. Madame Buisson, bringen Sie ihr bitte eine weitere Decke und eine Suppe. Sie müssen jetzt wieder zu Kräften kommen. Und bitte, wenn Sie Schmerzen haben oder es Komplikationen gibt, suchen Sie ein Krankenhaus auf. Versprechen Sie mir das, Mademoiselle?«
Seine unerwartete Freundlichkeit brachte mich vollends aus der Fassung. Als der Arzt und die Concierge das Zimmer verließen, schlug ich die Hände vors Gesicht und weinte leise.
Während der nächsten Stunden bemühte ich mich vergeblich zu schlafen. Ein korpulentes, rothaariges Mädchen kam ins Zimmer, warf mir einen verstohlenen Blick zu und stellte eine dampfende Suppe auf den Ankleidetisch, doch ich ließ sie kalt werden. Ich zog die beiden Decken über den Körper und starrte nach oben.
Die Hände auf dem Unterleib, wanderte mein Blick zu den schlaffen weißen Vorhängen, die in der nachmittäglichen Brise flatterten.
Ich malte mir aus, wie das Kind ausgesehen hätte, und stellte es mir mit glänzendem dunklem Haar vor, das dick und gerade war wie Etiennes. Es hatte auch Etiennes hohe Stirn und den leicht besorgten Blick. Und die vollen Lippen meiner Mutter. Wenn es ein Mädchen gewesen wäre, hätte ich sie Camille oder Emmanuelle genannt. Einen Jungen Jean-Luc. Ich hätte die winzigen Finger um einen Pinsel herum gelegt und ein Kätzchen angeschafft. Vor dem Schlafengehen hätten wir zusammen auf Französisch ein Nachtgebet gesprochen.
Noch immer von den tanzenden Bewegungen in Bann gezogen, starrte ich zum Vorhang. Vielleicht hatte der Arzt ja recht. Vielleicht sollte ich besser wieder in die Juniper Road zurückkehren, nach Hause, wo ich sicher war. Würde ich dort für immer leben? Im Geiste sah ich mich mit weißem Haar und gebeugt vor der Staffelei stehen. Meine Hand, die den Pinsel umklammerte, war mit Altersflecken übersät, meine Finger gichtgeplagt. Und ich war allein.
Immer wieder kehrte ich zu diesem einen Gedanken zurück: zu der Tatsache, dass mein Kind nicht mehr existierte, und der Trostlosigkeit meines Lebens ohne Etienne.
Ich wischte mir mit dem Nachthemdärmel über das Gesicht und stand auf, um langsam zum Fenster zu gehen. Ich zog den Vorhang zurück und ließ den Blick über die Dächer von Marseille schweifen. Noch immer waren der Lärm spielender Kinder und das Hundegebell zu hören. Ich hatte diese Reise angetreten, um Etienne zu finden, und nun, da unser Kind nicht mehr war, brauchte ich ihn umso dringender.
Mein Blick glitt von den Dächern nach unten zu den Wäscheleinen mit den bunten Kleidungsstücken, die zwischen die hohen, schmalen Häuser gespannt waren. Ich wusste, dass ich keine Garantie hatte, Etienne oder seine Schwester in Marrakesch zu finden.
Und doch konnte ich jetzt nicht nach Hause fahren. Während es im Zimmer allmählich dunkel wurde, begriff ich, dass ich nicht in mein früheres Leben zurückkehren konnte, ehe ich nicht vollendete, was ich begonnen hatte, gleich, welchen Ausgang mein Vorhaben nahm.