SECHSUNDZWANZIG
Zurück in meinem Hotelzimmer ging ich zum Schrank und holte den kleineren meiner zwei Koffer vom obersten Regal herunter. Ich langte in das Futter und holte das Bündel mit meinem Pass, dem Schiffsticket mit der offenen Rückfahrkarte und dem Umschlag mit dem Geld heraus, um zu sehen, wie viel Geld mir noch zur Verfügung stand. Nachdem ich die Geldscheine gezählt hatte, war mir klar, dass sie nicht mehr weit reichen würden, sollte ich meinen aufwendigen Lebensstil beibehalten.
Während ich mit den vor mir ausgebreiteten Unterlagen am Tisch saß, dachte ich über Aszulays Blick nach. Er hatte mich mit seinen blauen Augen so eindringlich angeschaut, als wollte er mir irgendetwas sagen.
Während die Nacht langsam herabsank, wehte der süße Duft der Rosenbüsche und Orangenbäume durch das offene Fenster herein. Es war April und somit Frühsommer in Marrakesch. In Albany schlugen die Bäume zu dieser Jahreszeit gerade erst aus, die Erde war noch gefroren, und es war noch zu kalt zum Pflanzen. Es regnete viel, der Himmel war grau, aber hie und da spürte man schon die erste Frühlingsbrise.
Ich dache an Aszulays Rat, nach Hause zurückzukehren.
Ich stellte mir vor, wie ich die Haustür aufschloss und mir Staubgeruch entgegenschlug, der Geruch von Räumen, die lange nicht gelüftet worden waren. Dann würde ich zu den Barlows hinübergehen und Zinnober abholen. Ich rief mir den Duft ihres Fells und ihre weichen Pfoten in Erinnerung.
Dann sah ich vor meinem geistigen Auge, wie ich ins Haus zurückging, den Wasserkessel aufsetzte, während Zinnober mir schnurrend um die Beine strich. Ich sah, wie ich in mein Arbeitszimmer ging und meine Bilder betrachtete, die noch immer an den Wänden hingen. Manons wilde Gemälde kamen mir in den Sinn und der ungebändigte Freiheitswillen, den sie ausstrahlten.
Dann sah ich mich in dieser ersten Nacht nach meiner Rückkehr allein in meinem Bett liegen und an die Decke starren. Ich sah mich am nächsten Morgen zu der Nähfabrik gehen, um mich um Arbeit zu bemühen. Anschließend würde ich ein paar Vorräte kaufen, um mir ein einfaches Abendessen zuzubereiten. Nachdem ich gegessen hatte, würde ich mir einen dicken Pullover anziehen und mich auf die Veranda setzen und zu lesen versuchen. Sobald ein Wagen vorbeifuhr, der eine Staubwolke aufwirbelte oder, falls es geregnet hatte, Spurrillen im Schlamm hinterließ, würde ich gespannt aufblicken. Vielleicht würde ich wieder hineingehen und mich mit dem Pinsel in der Hand vor die Staffelei stellen.
Was würde ich malen?
Ich stellte mir vor, wie der Sommer Einzug hielt, wie ich in aller Frühe aufstehen müsste, um zur Arbeit zu gehen, und abends nach Hause kam, müde und erschöpft von der monotonen, öden Arbeit, die mich in keiner Weise forderte. Vielleicht würde ich im Laufe des Sommers ein-, zweimal Mr Barlow bitten, mich nach Pine Bush zu fahren, damit ich im Moor spazieren gehen, nach dem Faulbaumbläuling Ausschau halten und die Natur beobachten konnte.
Dann würden sich die ersten Anzeichen des Herbstes bemerkbar machen, der Zug der Wildgänse, die Tomantenstauden würden welken und beim ersten Frost erfrieren. Im Geiste hörte ich den strengen Nordostwind ums Haus heulen, der Vorbote eines langen, harten Winters, nach dem wieder ein Frühling Einzug hielte, der so viel Regen brächte, dass die Bäume sich darunter biegen würden. Und auf den wiederum ein weiterer feuchter Sommer folgte. Gewiss, das war nur der normale Ablauf eines Jahres, weder besser noch schlechter als anderswo. Aber es war nicht nur der Gedanke an die Jahreszeiten, der mir die Brust einschnürte.
Es war vor allem das Wissen, dass der Alltagstrott, der mein Leben bestimmt hatte, ehe Etienne in mein Leben trat und ich über den Ozean gereist war in dieses verwirrende, faszinierende und bisweilen auch beängstigende Land, wieder von vorn beginnen würde. Das Leben, das ich führte, bevor ich Farben erblickte und Laute hörte, die ich mir bis dahin nicht einmal im Traum hatte vorstellen können. Das Leben, das ich führte, bevor ich den Duft unbekannter Pflanzen einatmete, ehe mein Gaumen ungeahnte exotische Speisen kostete.
Das Leben, bevor ich den tiefen Kummer kennenlernte, der mit dem Verlust eines Kindes einhergeht, und bevor ich erfuhr, was für ein Gefühl es war, ein Kind in den Armen zu halten, den Duft seines Haars einzuatmen und seinen Körper an meinem zu spüren.
Ich wusste genau, wie mein Leben aussähe, wenn ich nach Albany zurückkehrte, nicht nur in den kommenden Monaten, sondern für immer. Ich war dreißig Jahre alt. Konnte ich ein solches Leben weitere dreißig oder noch mehr Jahre führen?
Ich nahm meinen Pass in die Hand, der sich hart und unnachgiebig anfühlte. Nach Hause zurückzukehren würde mir kein Opfer abverlangen, aber ebenso wenig würde eine Belohnung auf mich warten.
Ich wollte dieses Leben nicht mehr, wenn ich es allein führen musste. Dann fiel mir wieder Aszulays Blick ein, als ich ihm sagte, ich wolle bleiben und auf Etienne warten, um ihm beizustehen, während die Krankheit zusehends von ihm Besitz ergriff.
Wie sollte er mich auch verstehen?
Ich ging zum Fenster und blickte in den Palmengarten. Hoch droben am Himmel blinkten die Sterne, und die Dunkelheit jenseits der Hotellichter war erfüllt von Geräuschen: Rufe auf Arabisch und in anderen, mir unbekannten Sprachen, das Trommeln vom Platz her, die Laute der Haus- und Lasttiere. In der Nähe vernahm ich das plötzliche Flügelrauschen eines Nachtvogels, das schnelle, gummiartige Flattern einer Fledermaus und das Summen und Brummen von Insekten.
Würde ich auf Aszulay hören und nach Hause zurückkehren? Oder würde ich meinem Herzen gehorchen und hierbleiben, um auf Etienne zu warten? Nur einen Monat noch. Einen Monat, falls Etienne tatsächlich Wort hielte.
Wie so oft versuchte ich, mir Etiennes warmes Lächeln in Erinnerung zu rufen, den tiefgründigen Blick seiner dunklen Augen. Aber es fiel mir zusehends schwerer; er drohte mir zu entgleiten. So als würde das blendende Sonnenlicht von Marrakesch sein Bild ausbleichen und es weniger bedeutend erscheinen lassen.
Ich verscheuchte den Gedanken an Aszulay, an den besorgten Blick seiner blauen Augen.
Weder Manon noch Aszulay wollten, dass ich auf Etienne wartete, wenngleich jeder sicherlich aus einem anderen Grund. Aber ich musste es doch tun, oder nicht? Ich würde ihnen beweisen, dass sie unrecht hatten. Ich würde ihnen beweisen, dass Etienne mich liebte und mich brauchte, so wie ich ihn liebte und brauchte.
Ich würde bleiben. Irgendwie würde ich einen Weg finden, um es möglich zu machen.
»Inschallah«, sprach ich leise in die sanfte Nachtluft hinein.
Am nächsten Morgen sagte ich Monsieur Henri, dass ich nicht länger im Hôtel de la Palmeraie logieren würde. Er war so höflich, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen, auch wenn er mich seit dem Tag, da ich Aszulay und Badou auf mein Zimmer hatte kommen lassen, noch distanzierter behandelte als zuvor. »Verlassen Sie Marrakesch, Mademoiselle O’Shea?«
»Nein. In ein paar Stunden komme ich wieder, um meine Rechnung zu bezahlen.«
»Wie Sie wünschen, Mademoiselle.«
Die ganze Nacht lang hatte ich mich in meinem Bett hin und her gewälzt, und als das erste blasse Licht durch das Fenster gefallen war, ließ ich den Blick durch das luxuriöse Zimmer schweifen. Dabei stellte ich mir vor, wie ich in den nächsten Wochen nachmittags unter den Palmen des Innenhofs sitzen würde, gemeinsam mit anderen ausländischen Gästen, die zu viele Cocktails tranken und oberflächliche Konversation pflegten. Abgesehen von Mr und Mrs Russell, die Marrakesch wieder verlassen hatten, hatte niemand versucht, Bekanntschaft mit mir zu knüpfen.
Ich dachte auch daran, wie Aszulay und Badou behandelt worden waren, als sie zu mir kamen, um mich zu trösten, und an das Geflüster hinter meinem Rücken, als ich zum ersten Mal nach ihrem Besuch wieder mein Zimmer verließ.
Die Tatsache, dass ich es mir nicht länger leisten konnte, in einem solch kostspieligen Haus zu logieren, war nicht der einzige Grund, warum ich fortwollte: Ich fühlte mich ganz einfach fehl am Platz im Hôtel de la Palmeraie.
Also beschloss ich, mir für die nächsten Wochen, die ich in Marrakesch ausharren würde, eine neue Bleibe zu suchen.
Ich ging hinaus und fand ein kleines, günstiges Hotel in einer kleinen Seitenstraße in einiger Entfernung von der Hauptstraße der Ville Nouvelle. Es war ein ziemlich heruntergekommenes Haus und nicht besonders sauber. Das Bad würde ich mir mit anderen Gästen teilen müssen, aber dafür verfügte es über eine kleine Gemeinschaftsküche, sodass ich mir selbst Mahlzeiten zubereiten konnte und nicht länger auf das teure Essen im Hotelrestaurant angewiesen war. Einen Garten gab es nicht. Aber es würde mir genügen für die Zeit, in der ich auf Etienne wartete.
Zwei Tage nachdem ich in das kleine Hotel umgezogen war, begab ich mich wieder in den Majorelle-Garten. Es war mir unangenehm, Aszulay erneut zu belästigen, aber ich musste ihm sagen, dass ich nicht mehr im Hôtel de la Palmeraie wohnte, sondern umgezogen war, damit er Etienne bei seiner Rückkehr informieren konnte, wo er mich fand. Denn eines war mir klar: Manon würde ihrem Bruder gewiss keine Nachricht von mir bestellen.
Kaum hatte ich den Eingang des Gartens passiert, kam mir Aszulay auch schon entgegen, offenbar hatte er Feierabend.
»Mademoiselle O’Shea«, sagte er und blickte mich mit einem Ausdruck an, den ich abermals nicht zu deuten vermochte, doch diesmal empfand ich ihn als wohltuend. Fast hatte ich den Eindruck, er freue sich über mein unerwartetes Auftauchen. Seine Stimme allerdings verriet dies nicht. »Sie sind also immer noch in Marrakesch.«
»Ja.« Ich trat in den Schatten weit ausladender, überhängender Äste, und er tat es mir gleich. »Ich habe das Hotel gewechselt und bin gekommen, um Ihnen meine neue Adresse zu nennen. Ich weiß, dass Sie so nett sein werden, Etienne bei seiner Rückkehr zu sagen, wo er mich finden kann. Ich wohne jetzt im Hôtel Nord-Africain in der Rue …«
»Ich kenne es«, unterbrach mich Aszulay.
»Oh, umso besser. Also werden Sie es ihm ausrichten?«
»Ja.«
»Und … wie geht es Badou?« Häufig in letzter Zeit hatte ich mich dabei ertappt, wie ich an den kleinen Kerl denken musste.
»Badou geht es gut. Ich habe gestern in der Sharia Zitoun vorbeigeschaut.« Mit einem Mal klang er kurz angebunden.
Ich fragte mich, wie Manon es bewerkstelligte, dass ihre Liebhaber sich nicht über den Weg liefen. Ich war mir ziemlich sicher, dass es neben Aszulay und dem Franzosen, den sie Olivier genannt hatte, noch weitere gab.
»Und Badous Vater, Monsieur Maliki«, sagte ich und war selbst erstaunt, als die Worte heraus waren. »Wo lebt er? Kommt er seinen Sohn manchmal besuchen oder kümmert er sich um ihn?«
Wieder veränderte sich Aszulays Ausdruck. »Es gibt keinen Monsieur Maliki.«
»Aber … Manon heißt doch mit Nachnamen Maliki, außerdem nennt sie sich Madame.«
»Nein, sie ist eine Mademoiselle.«
»Ach ja?«
Mit einem Mal begriff ich, dass außer mir niemand sie mit Madame angeredet hatte. Ich war davon ausgegangen, es sei ihr Ehename. »Aber wie kommt das? Wenn sie nicht verheiratet ist … warum heißt sie dann nicht Mademoiselle Duverger?«
Aszulay wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Wieder sah ich die Spuren roter Erde auf seinen Händen und Handgelenken, den feinen Staub auf seiner dunklen Haut.
»Aszulay, ich verlange nicht von Ihnen, mir irgendwelche Geheimnisse zu verraten. Ich versuche nur, Manon zu verstehen, um vielleicht so Etienne besser zu verstehen. Manon ist Etiennes Schwester, aber … alles ist so verwirrend. Irgendwie werde ich nicht schlau aus ihr. Ihr Hass auf ihren Vater, und auch ihre Wut auf Etienne. Rührt er daher, dass sie nach dem Tod ihres Vaters beim Erbe leer ausging? Ist sie deshalb so verbittert?«
»Begreifen Sie es tatsächlich nicht, Mademoiselle O’Shea?«, sagte Aszulay und blickte mich missbilligend an. Irgendwie schien er verärgert zu sein. Ich wusste, dass es besser wäre, zu gehen und ihn nicht weiter auszufragen. Aber ich konnte nicht einfach so gehen, wollte unbedingt mehr aus ihm herausbringen. »Dass Sie mich so etwas überhaupt fragen«, fuhr er fort.
»Ich weiß nicht, was Sie …«
Er schüttelte den Kopf. »Gewiss ist es in Ihrem Land auch nicht anders. Es ist überall auf der Welt das Gleiche. Der Mann hat eine Ehefrau. Und der Mann hat eine Geliebte. Es gibt Kinder.«
Ich wartete, dass er weitersprach.
»Manons Mutter – Rachida Maliki – war Dienerin im Haus von Marcel Duverger. Monsieur Duverger und sie …« Er stockte. »Sie hatten über eine lange Zeit ein Verhältnis. Manon hat mir erzählt, dass Monsieur Duverger zunächst allein in Marrakesch lebte, dann für mehrere Jahre nach Frankreich zurückging, ehe er erneut herkam, nachdem die Franzosen das Land besetzt hatten. Manon wurde in der Zeit davor geboren. Doch als sich Monsieur Duverger wieder in Marrakesch niederließ, brachte er seine Familie mit, seine Frau und die beiden Söhne aus Paris. Und Rachida Maliki arbeitete weiter im Haus der Duvergers.«
Noch nie hatte Aszulay mir gegenüber so viel auf einmal gesprochen. Ich merkte, dass ich ihn anstarrte, förmlich an seinen Lippen hing. Mit einem Mal fiel mir sein sinnlicher Mund auf. Sein gutes Französisch mit dem arabischen Akzent klang rhythmisch und melodisch.
Er tippte sich an die Schläfe. »Oft ahnt die Frau etwas. Aber wäre Madame Duverger dahintergekommen, hätte sie Rachida nicht länger in ihrem Haus geduldet. Außerdem war sie nett zu ihr und Manon.«
»Sie kannte Manon?«
»Manon wuchs zunächst bei ihrer Großmutter auf, doch als sie älter wurde, nahm ihre Mutter sie mit in das große Haus der Duvergers, um ihr bei der Arbeit zu helfen. Manon hat mir erzählt, dass Madame Duverger ihr oft ein kleines Geschenk machte oder ihr Kleider gab, die sie nicht mehr trug. Manon wusste, wer ihr Vater war. In der Medina von Marrakesch kennen alle den Vater eines Kindes, man macht kein Geheimnis daraus. Aber im Französischen Viertel ist es anders.
Manchmal spielte Manon mit Etienne und Guillaume. Aber man hatte ihr eingebläut, ihnen nicht zu verraten, dass sie denselben Vater hatte wie die beiden, denn sonst hätte ihre Mutter die Stelle verloren. Und auf die Zuwendungen verzichten müssen, die sie von Monsieur Duverger bekam.«
»Also wusste es Etienne gar nicht?«
Aszulays Miene veränderte sich kaum merklich. »Er wusste es lange nicht. Manon war einfach nur die Tochter einer Dienerin. Aber wie Sie selbst bemerkt haben, ist Manon jemand, der genau weiß, was er will. Sie lernte Französisch, als wäre es ihre Muttersprache. Sie war – ist, wie Sie ja selbst sehen – schön. Sehr …« Er schüttelte unwirsch den Kopf und sagte etwas auf Arabisch. »Mir fällt das passende Wort auf Französisch nicht ein. Jedenfalls hat sie die Gabe, Männer verrückt zu machen. Seit sie fünfzehn war, sind die Männer hinter ihr her.«
Ich kannte das Wort, nach dem Aszulay gesucht hatte. Sinnlich. Begehrenswert. Ich konnte mich ja selbst davon überzeugen, als sie mit Aszulay flirtete. Auch war mir nicht entgangen, dass sie sich der Macht, die sie über Männer hatte, durchaus bewusst war. Kannte Aszulay sie denn damals schon? Seit sie fünfzehn war? Liebte er sie schon so lange?
»Manon wollte nie in die Fußstapfen ihrer Mutter treten und eine marokkanische Bedienstete sein, deren Leben sich auf Haus und Innenhof beschränkte«, fuhr Aszulay fort. »Sie wollte einen französischen Mann haben, der sie so behandelte, wie sie es bei anderen französischen Paaren gesehen hatte. Und sie hatte französische Männer, jede Menge.« Wieder musste ich an diesen Olivier denken, der aus ihrem Schlafzimmer gekommen war. »Aber keiner von ihnen hat sie geheiratet; sie sahen das in ihr, was sie war.« Aszulay hielt einen Moment lang inne. »Manon ist weder Marokkanerin noch Europäerin. Aber damit ist sie nicht die Einzige – in Marokko gibt es viele Frauen wie sie. Die meisten schaffen es dennoch, ihren Platz im Leben zu finden. Doch Manons Fehler war, dass sie sich gleichzeitig mehreren Männern hingab. Sie wollte weder eine marokkanische Ehefrau sein noch eine chikha – eine Mätresse. Das ist hierzulande sozusagen ein Beruf.«
Neue Fragen taten sich auf, Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gab. Was für ein verworrenes Netz: Manon, Aszulay, Olivier. Etienne.
»Stattdessen«, fuhr Aszulay fort, »suchte sie Liebe. Immerzu auf der Suche nach Liebe, stürzte sie sich immer wieder in ein neues Abenteuer und war außerstande zu begreifen, warum ihr jedes Mal das, was sie für Liebe hielt, wieder entglitt.«
Ich betrachtete sein Gesicht. Hatte er sie je angefleht, ihn zu heiraten? Und hatte sie ihn zurückgewiesen, weil er ein Tuareg war, und doch liebte er sie noch immer?
»Aber wann hat Etienne herausgefunden, dass Manon seine Schwester ist?«
Unvermittelt trat Aszulay aus dem Schatten des Baums und sagte: »Ich muss jetzt gehen.«
Ich rührte mich nicht von der Stelle, wünschte, er würde bleiben. Seine Geschichte und die Stimme, mit der er sie erzählte, hatten mich in ihren Bann gezogen.
Er blickte zu mir zurück. »Ich werde Ihre Information an Etienne weitergeben, Mademoiselle O’Shea«, sagte er.
»Ich heiße Sidonie«, sagte ich. Es war mir einfach so herausgerutscht.
Er nickte. Ich wollte, dass er meinen Namen aussprach. Ich wollte hören, wie er aus seinem Mund klang. Aber er hatte mir schon den Rücken zugedreht und ging in langen Schritten davon.
In der nächsten Zeit passierte es hin und wieder, dass ich einen Europäer in einem der Straßencafés des Französischen Viertels erblickte und meinte, es sei Etienne. Und wann immer ich einen groß gewachsenen Tuareg in seinen blauen Gewändern stolz eine Straße entlanggehen sah, hielt ich ihn für Aszulay.
Hie und da träumte ich von Etienne: aufwühlende, verstörende Träume, in denen ich ihn verlor oder ich ihm entglitt. Träume, in denen ich ihn fand, er mich aber nicht erkannte. Ich träumte, ihn in der Ferne zu erblicken, doch je näher ich kam, desto kleiner wurde er, bis er gänzlich verschwand.
Träume, in denen ich in den Spiegel blickte, mich selbst aber nicht erkannte, weil sich meine Züge unaufhörlich veränderten.
Wenn ich aus diesen Albträumen erwachte, versuchte ich mich zu beruhigen, indem ich mir in Erinnerung rief, wie wir uns geliebt hatten. Doch es fiel mir zusehends schwerer, mir zärtliche Momente zu vergegenwärtigen, mir seinen Ausdruck vorzustellen, mit dem er mir entgegensah, wenn ich auf ihn zuging.
Eines Morgens, als ich im Bett meines Zimmers im Hôtel Nord-Africain lag und dem Ruf der Muezzins zum Morgengebet lauschte, streckte ich die Hand zum Nachttisch aus und nahm die Fliese in die Hand, die mir der Blaue Mann auf der Karawanenpiste geschenkt hatte. Mit den Fingerkuppen zeichnete ich das Muster aus kräftigem Blau und Grün nach; die Fliese fühlte sich kühl und weich unter meinen Fingern an. Am meisten faszinierten mich die Farben: Wie hatte ihr Erschaffer nur diese Intensität und Tiefe erreicht?
Ich dachte an die ungezähmte Wildheit von Manons Ölbildern und im Vergleich dazu an die zarten Farben meiner Aquarelle, die peinlich genauen Schattierungen der Blüten. An den vorsichtigen, sorgfältigen Pinselstrich, mit dem ich den Kopfschmuck eines Vogels oder einen Schmetterlingsflügel nachgezeichnet hatte. Sicher, ich hatte hübsche Blumen und Vögel und Schmetterlinge kreiert, wahrhafte Replikate der Natur, doch welche Gefühle riefen sie bei mir hervor? Hatte ich etwas von mir selbst und wenn ja welchen Teil davon in diese Nachbildungen hineingegeben?
Wieder sah ich mich vor meinem geistigen Auge in meinem früheren Kinderzimmer in Albany, einen Pinsel in der Hand, während ich mich bemühte, eine kleine, beschauliche Naturszene einzufangen. Doch mit einem Mal wusste ich, dass jene Bilder nicht mehr meiner neuen Welt angehörten, der Welt, in der ich mich nun befand.
Im Geiste ließ ich die Reise mit Mustapha und Aziz Revue passieren, die hellen, am Strand vertäuten Boote auf dem Atlantik, den gelblichen Himmel am Ende eines Tages, der von Möwen wimmelte. Die wachen, hungrigen Hunde unter den Tischen der Fleischverkäufer in den Dörfern, die darauf warteten, einen Bissen der glitschigen Eingeweide der Ziegen und Schafe abzubekommen, die die Metzger auf den Boden warfen.
Ich rief mir die Palmen ins Gedächtnis, die die Boulevards der Ville Nouvelle säumten, und die Blumen, die in verschwenderischem Überfluss in den Gärten wuchsen. Ich schloss die Augen und erblickte vor meinem geistigen Auge die vibrierende Farbenvielfalt marokkanischen Lebens: der Stoffe, Kleider, Mosaikfliesen, Mauern und Jalousien und Türen und Tore. Farben so leuchtend, dass sie beinahe in den Augen schmerzten, Farben so sanft, so dezent und ätherisch, dass ich am liebsten die Hand ausgestreckt hätte, um sie einzufangen.
Ich setzte mich im Bett auf.
Plötzlich verspürte ich Lust, alles zu malen: die Boote, den Himmel mit den Seemöwen und die in Käfigen gehaltenen wunderschönen Vögel auf den Märkten. Auch die dürren Katzen in den Gassen der Medina wollte ich malen, und ja, vielleicht sogar die Köpfe der enthaupteten Ziegen oder die Abgeschiedenheit eines muslimischen Friedhofs. Ich wollte das gewundene Labyrinth der Souks einfangen mit ihren Gassen und ihrem überwältigenden Warenangebot – den gewebten Einkaufstaschen, Teppichen mit ihren ehrfurchtgebietenden Mustern, dem Schmuck mit funkelnden Edelsteinen, den Teekannen aus glänzendem Silber und den regenbogenfarbenen babouches. Ich wollte das kühlende Weiß frisch getünchter Mauern auf die Leinwand bringen; ich wollte die überbordende Fülle der Gewürze auf dem Dschemma el Fna wiedergeben, die zu kunstvollen Pyramiden aufgehäuft waren; und ich wollte das prächtige Blau der Majorelle-Gärten reproduzieren.
Ich hatte keine Ahnung, ob es mir gelingen würde, auch nur eine dieser Szenen glaubhaft wiederauferstehen zu lassen. Aber versuchen musste ich es.
Erneut suchte ich das Geschäft für Künstlerbedarf auf, an dem ich oft vorbeigekommen war und das ich einmal betreten hatte, und kaufte Aquarellfarben, Papier, Staffelei und Pinsel in verschiedenen Größen. Die Ausgaben ließen mein ohnehin schon dünnes Geldbündel weiter schrumpfen, doch mein Drang zu malen war so stark, dass ich nicht anders konnte.
Zurück in meinem Hotelzimmer, stellte ich die Staffelei in die Nähe des Fensters und verbrachte den restlichen Tag damit, meine neuen Utensilien auszuprobieren. Die Pinsel fühlten sich wunderbar zwischen den Fingern an, als gäbe es nichts Natürlicheres auf der Welt. Die Pinselstriche gerieten mir sicher und präzise.
Als das Licht schwand und Nacken und Schultern zu schmerzen begannen, hörte ich auf und besah mir, was ich geschaffen hatte.
Unwillkürlich kamen mir die Aquarelle in der Hotelhalle des Hôtel de la Palmeraie in den Sinn, und ich verglich sie mit dem Bild vor mir.
Da schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Möglicherweise war er absurd, vielleicht aber auch nicht.