DREI
Das zweite Jahr ging vorüber und brachte ganz langsam ein paar Fortschritte mit sich. Irgendwann konnte ich selbstständig aufrecht sitzen, und ich tauschte das Bett gegen den Rollstuhl – ein kleines Stückchen Freiheit. Nach unzähligen Versuchen und Fehlschlägen gelang es mir, mich ohne fremde Hilfe vom Bett in den Rollstuhl zu hieven. Ich musste nicht mehr warten, bis meine Mutter kam und mir die Bettpfanne reichte oder mich wusch; jetzt konnte ich mich im Rollstuhl ins Badezimmer und in die Küche begeben. Ich konnte gemeinsam mit meinen Eltern am Tisch essen. Und wenn meine Mutter oder mein Vater den Rollstuhl über die hohe Türschwelle schob, konnte ich bei schönem Wetter auf der Veranda sitzen.
Damit besserte sich auch meine Laune. Eines warmen Abends amüsierte ich mich über Zinnober, die einen hohen Satz vollführte, weil eine große Grille ihr über die Pfoten gehüpft war und sie in Angst und Schrecken versetzt hatte. Meine Eltern erschienen in der Tür, und ich erzählte ihnen von Zinnobers Mätzchen.
Mein Vater kam heraus, stellte sich hinter mich, legte mir seine Hand auf die Schulter und drückte sie. »Es ist das erste Mal, dass wir dich lachen gehört haben, seit …« Er unterbrach sich unvermittelt, wandte sich um und ging ins Haus zurück.
In diesem Augenblick begriff ich, wie sehr sich meine Eltern diese schlichte und doch so menschliche Regung von mir erhofft, ja ersehnt hatten: mein Lachen. Ich begriff, wie sehr sie sich gewünscht hatten, dass ich lächelte, über alltägliche Dinge redete, mit Leidenschaft malte. Sie wünschten sich so sehr, mich glücklich zu sehen.
In diesem Jahr war ich siebzehn geworden. Auch wenn ich mich niemals mit meinem Schicksal abfinden würde, so könnte ich wenigstens ihnen zuliebe so tun, als fände ich noch immer Gefallen an meinem Leben. Das wenigstens war ich ihnen schuldig.
Am nächsten Tag bat ich Mutter, mir das Nähen mit der Nähmaschine beizubringen. Dann könnte ich ihr, so sagte ich, ein paar der Näharbeiten abnehmen, wenn sie müde war. Ihr Mund zitterte, und sie bedeckte ihn rasch mit ihrer Hand, deren Finger inzwischen ganz verkrümmt waren. Ich bemerkte auch, dass ihr Haar nahezu weiß war: Wann war dies geschehen?
Auch meine Pinsel nahm ich wieder zur Hand und bat meine Mutter, mir aus der Bibliothek Garten- und Botanikbücher mitzubringen.
Und im Laufe weniger Monate lernte ich etwas sehr Wertvolles: dass in einem unbemerkten Moment etwas, wozu man sich bislang hatte zwingen müssen, zur ungezwungenen Routine werden konnte.
Da saß ich nun mit meiner Mutter am Küchentisch und sang mit ihr ihre alten französischen Lieder. Seit ihr die Hände furchtbare Schmerzen verursachten, erledigte ich das Nähen, und mit dem Verdienst durch die Heimarbeit konnten wir uns den ein oder anderen kleinen Wunsch erfüllen.
Wir sprachen über den großen Krieg, davon, dass unsere jungen Männer nun nach Europa geschickt wurden, und sie erzählte mir Neuigkeiten von meinen ehemaligen Schulkameraden – von denen einige bereits die Schule verlassen hatten.
Gegen Ende des zweiten Jahres meiner Erkrankung bewies ich dem Arzt – und Schwester Marie-Gregory –, dass sie sich in ihren Prognosen getäuscht hatten. Wahrscheinlich waren vielerlei Gründe für die überraschende Wendung verantwortlich. Möglich, dass der Arzt aufgrund seiner Überlastung eine zu voreilige Diagnose gestellt hatte, aber es lag wohl auch an der Widerstandskraft meines Körpers, verbunden mit der Unermüdlichkeit meiner Mutter, mit der sie meine Beine bewegte und massierte, und schließlich daran, dass ich mir in den Kopf gesetzt hatte, den verhassten Stuhl zu verlassen. Und, so sagte ich mir selbst, vielleicht auch ein wenig an den vielen Gebeten.
Ich bekam Metallschienen angepasst, die von den Fesseln bis zu den Oberschenkeln reichten. Sie drückten mir ins Fleisch, verhinderten jedoch, dass meine Beine einknickten. Und mithilfe von Krücken war ich nun in der Lage, mich aus dem Rollstuhl zu erheben. Zunächst konnte ich die Beine quasi nur hinter mir herziehen, während meine Arme stark und muskulös wurden und meine Achseln schwielig vom Druck der Krücken, da sie mein ganzes Gewicht tragen mussten. Doch mit der Zeit gelang es mir, die Beine aus der Hüfte heraus zu bewegen und die Füße auf den Boden aufzusetzen. Mein rechtes Bein war nun kürzer als mein linkes, und deshalb mussten orthopädische Stiefel mit verschieden hohen Absätzen für mich gefertigt werden. Meine Art zu gehen war im Grunde eine Parodie des normalen Gangs, doch immerhin stand ich wieder aufrecht auf eigenen Füßen und war in der Lage, mich fortzubewegen, wenngleich sehr langsam.
Auch in anderer Hinsicht bekam mein Leben eine Wendung. Noch immer weigerte ich mich, Haus und Garten zu verlassen. Meine alten Freundschaften hatte ich nie aufgefrischt, denn nach mehr als zwei Jahren – ich wurde bald neunzehn – hatten all meine Klassenkameradinnen die Holy-Jesus-and-Mary-Schule verlassen. Weder Margaret noch Alice Ann waren nach New York gezogen, wie wir es uns einst ausgemalt hatten. Stattdessen machte Margaret eine Lehrerausbildung, wie ich gehört hatte, und Alice Ann war Verkäuferin in einem eleganten Hutladen. Einige der anderen Mädchen ließen sich zu Krankenschwestern oder Stenotypistinnen ausbilden, und wieder andere hatten bereits geheiratet. Der große Krieg war vorüber, und einige der jungen Männer kehrten nach Albany zurück. Andere wiederum nicht.
Zwar bereitete mir das Malen inzwischen großes Vergnügen, und ich verbrachte täglich mehrere Stunden damit, Pflanzen zu zeichnen oder zu malen, doch hatte ich mein letztes Schuljahr noch immer nicht abgeschlossen, obwohl mir die Lehrerinnen angeboten hatten, mit den Prüfungsaufgaben zu mir nach Hause zu kommen, um das Examen unter ihrer Aufsicht abzulegen. Ich hatte ganz einfach das Interesse an der Schule verloren. Außerdem, so sagte ich mir, was änderte ein Schulabschluss schon an meinem Leben? Ich würde nie in die Welt hinausgehen, ja nicht einmal auf die Straßen Albanys.
Mein Vater war schockiert gewesen, als ich ihm eröffnete, dass ich nicht die Absicht hegte, mein Highschool-Diplom zu erwerben.
»Ich bin nicht in dieses Land gekommen, damit mein einziges Kind die Schulbildung ausschlägt, die man ihm ermöglicht. Was hätte ich nicht dafür gegeben, die Chance zu erhalten, die sich dir bietet … willst du denn nicht etwas werden, Sidonie? Du könntest einen Schreibmaschinenkurs machen und in einem Büro arbeiten. Oder als Telefonistin. Oder, Herrgott, als Näherin in einer Kleiderfabrik. Du bist ja bereits so geschickt an der Nähmaschine. Es gibt einige Berufe, bei denen du nicht viel gehen oder stehen müsstest. Du würdest deine Mutter so stolz machen, wenn du einen Beruf erlerntest. Nicht wahr, Mutter? Wärst du nicht stolz auf sie?«
Ich warf meiner Mutter einen verstohlenen Blick zu. Sie antwortete nicht, sondern lächelte mir nur aufmunternd zu, die knotigen Hände im Schoß umschlungen.
»Sie könnte alles Mögliche werden«, sagte sie schließlich.
Ich presste die Lippen fest aufeinander. Natürlich konnte ich nicht alles Mögliche werden. Ich war kein Kind mehr, und ich war ein Krüppel. Dachte sie, dass ich ihr noch immer glaubte? Ich öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, doch mein Vater ergriff erneut das Wort.
»Du müsstest ja nur arbeiten, bis du heiratest«, sagte er.
Ich runzelte die Stirn und sah ihn ungläubig an. Heiraten? Wer würde mich denn heiraten, mit meinen schweren schwarzen Stiefeln mit den ungleich hohen Absätzen und meinem schwerfälligen, humpelnden Gang? »Nein. Ich will weder in einer Nähfabrik noch als Sekretärin oder Telefonistin arbeiten.«
»Was willst du denn dann? Hast du denn keine Träume? Junge Menschen sollten Träume haben. ›Kobolde, Schlösser, Glück und Segen; Wiegenlieder, Träume und ein langes Leben‹«, sagte er – einer der irischen Segenswünsche, die er so gern zitierte. Immer wieder musste er seine Redensarten anbringen, diese nutzlosen irischen Sprüche.
Aber ich sagte nichts, sondern hob Zinnober hoch und schmiegte das Gesicht an ihr kupferfarbenes Fell.
Ob ich keinen Traum hatte? – was für eine Frage.
»Nun komm mir nicht wieder mit einer Entschuldigung, Sidonie«, sagte er, und ich hob den Kopf und starrte ihn an. »Auch wenn es nicht wie früher ist, so kannst du jetzt wenigstens herumgehen. Es gibt keinen Grund mehr, dich nur bis in den Garten vorzuwagen. Ich weiß, dass Alice Ann heute Abend eine Party gibt. Auf dem Nachhauseweg habe ich die vielen jungen, gut gelaunten Leute bei ihnen auf der Veranda gesehen. Es ist nicht zu spät. Du könntest immer noch hingehen, Sidonie. Ich kann dich hinüberbegleiten. Es ist nicht gut, wenn du die ganze Zeit zu Hause herumsitzt und immerzu liest oder malst.«
Natürlich war ich nicht zu Alice Anns Party eingeladen; seit beinahe zwei Jahren hatte ich nicht mehr mit ihr gesprochen, seit dem letzten ihrer Besuche, die mir in so unangenehmer Erinnerung waren. Doch selbst wenn ich eingeladen gewesen wäre, so hätte ich mich furchtbar geschämt mit meinem Hinken, der Art, wie ich bei jedem Schritt ruckartig die Beine nachziehen musste. Und meine Beinschienen kündigten mit lautem Klirren mein Kommen an. Die Krücken stießen manchmal an ein Möbelstück oder gerieten auf glattem Boden ins Rutschen. Außerdem hatte ich das Gefühl, vollkommen den Kontakt zur Außenwelt verloren zu haben; ich wusste nicht mehr, wie man eine Unterhaltung führte. Unmöglich konnte ich mir vorstellen, wie es wäre, eine Party zu besuchen. Und mit einem Mal fühlte ich mich älter als meine Eltern. Wie konnte ich je wieder über dumme Witze lachen oder mich an Klatsch beteiligen?
»Ich will einfach nicht, Vater«, sagte ich und wandte mich ab.
»Pass auf, dass du nicht in Selbstmitleid versinkst, Mädchen. Es gibt viele Menschen, die schlimmer dran sind als du. Unzählige. Du hast eine neue Chance bekommen. Du solltest sie nicht vergeben.«
»Ich weiß«, sagte ich und wappnete mich innerlich für eine seiner Predigten, die von der Hungersnot in Irland handelten, von den Toten, die wie Brennholz aufeinandergestapelt wurden, davon, dass die Menschen die letzten Fetzen auskochten, die sie am Leibe trugen, und verspeisten, nur um etwas zu kauen zu haben. »Ich weiß«, sagte ich nochmals und ging mit Zinnober auf dem Arm in den hinteren Garten. Die Katze auf dem Schoß, setzte ich mich auf die alte Schaukel, stieß mich träge mit dem stärkeren Bein ab, und während ich vor und zurück schaukelte, erinnerte ich mich an das Gefühl der Trunkenheit, das mich als Kind beim Schaukeln immer erfasst hatte. Jetzt verspürte ich diesen Taumel nicht mehr; ich schaukelte einfach nur ein wenig vor und zurück, vor und zurück.
Es war nur der Beginn unzähliger weiterer Auseinandersetzungen, die ich in den folgenden Jahren mit meinem Vater hatte.
»Du solltest in die Welt hinausgehen, Sidonie«, sagte er mir immer wieder. »Das ist doch kein Leben für eine junge Frau, immer daheim bei ihrer alten Mutter und ihrem alten Vater.«
»Aber ich mag es hier, Papa«, erwiderte ich, und inzwischen stimmte das sogar. Seit einiger Zeit gelang es mir, mich fortzubewegen, indem ich das Gewicht ganz auf die Beine verlegte. Gewiss, mein Gang war zwar noch immer langsam und schwerfällig, ich nahm noch immer die Krücken zu Hilfe, und da die Schienen meine Beine steif und unbeweglich werden ließen, ging ich mit leicht vorgebeugtem Oberkörper. Doch schließlich tauschte ich die verhassten Krücken gegen Stöcke aus. Und nachdem ich die Beinschienen insgesamt vier Jahre getragen hatte und meine Beine zusehends kräftiger geworden waren, konnte ich die langen Schienen durch kürzere ersetzen, die nur an den Knöcheln befestigt und nahezu von den Stiefeln verdeckt wurden. Mein linkes Bein war nun ziemlich stabil, doch musste ich noch immer das rechte nachziehen, sodass sich ein leichtes Hinken nicht vermeiden ließ.
Es stimmte, früher war mir mein Gebrechen peinlich gewesen, und ich hatte mich in Selbstmitleid geübt, wie mein Vater zu Recht bemerkt hatte, sodass ich in Bitterkeit zu verfallen drohte. Aber dieser Zustand ging vorüber, und ich fand mich mit meinem kleinen, ruhigen Leben ab. Es war gut so. Jeder im Viertel kannte mich, und so bestand keine Notwendigkeit für irgendwelche Erklärungen. Ich war Sidonie O’Shea: Ich hatte die Kinderlähmung überlebt und half meiner Mutter, den Haushalt in unserem Haus in der Juniper Road zu führen. Und beim Anblick der mehrjährigen Pflanzen, die ich in unserem Garten gesät hatte, blieben die Leute stehen, um sie zu bewundern.
Ich liebte unser kleines Haus, das wir von Mr und Mrs Barlow, unseren Nachbarn, gemietet hatten. Für mich strahlte es etwas Warmes, Menschliches aus: Der Wasserfleck an der Decke meines Schlafzimmers sah aus wie das Gesicht einer alten Frau, die mit offenem Mund lachte; das Kratzen der Lindenzweige am Wohnzimmerfenster hörte sich an, als streiften Schuhe mit weichen Sohlen beim Tanzen über den Boden; der Keller, wo die Kartoffeln und Zwiebeln und anderes Wurzelgemüse den Winter über lagerten, strömte einen vollen, erdigen Geruch aus.
Seit die Arthritis meine Mutter zusehends behinderte, führte ich den Haushalt. Ich kochte und backte, erledigte die Wäsche, bügelte und hielt das Haus sauber. Als am Stadtrand von Albany eine neue Nähfabrik ihre Pforten öffnete, war es mit der Heimarbeit vorbei. Und obwohl uns nun diese Einnahmen fehlten, war ich insgeheim erleichtert, da mich die Näharbeit zuletzt schrecklich gelangweilt hatte. Dennoch war ich froh über die alte Nähmaschine, denn ich hatte begonnen, meine Kleider selbst zu nähen. Wenn ich neue Stoffe und Schnittmuster brauchte, musste ich zwar meinen Vater bitten, Mr Barlows Kleinlaster zu borgen und mich zu einem Laden für Nähbedarf zu fahren, aber wenigstens lief ich auf diese Weise nicht Gefahr, in den Bekleidungsgeschäften anderen jungen Frauen zu begegnen, die ich von früher kannte und die dort einkauften oder als Verkäuferinnen arbeiteten.
Im Herbst kehrte ich die abgestorbenen und mit schwarzen Frostflecken übersäten Blätter und Stängel zusammen und bedeckte die empfindlichen Pflanzenwurzeln mit Stroh, damit sie heil den Winter überstanden. Ich gab weitere Knollen und Blumenzwiebeln in die Erde und sehnte den nächsten Frühling herbei, um zu sehen, wie sie aufgingen. Den Winter über blätterte ich in Gartenbüchern und zeichnete Pläne für neue Blumenbeete, die ich anlegen wollte und die inzwischen den größten Teil des Vorder- und Hintergartens einnahmen. Sobald die letzten Schneereste im Frühjahr geschmolzen waren, ging ich über die Kieswege, die mein Vater auf meine Bitte hin angelegt hatte, und freute mich über die ersten Krokusse und Schneeglöckchen, und etwas später über die Tulpen und Narzissen. Und ich konnte es kaum erwarten, dass sich die ersten zarten rosa Triebe der Pfingstrosen nach der warmen Luft reckten.
Im Sommer bat ich meinen Vater erneut, Mr Barlows Lastwagen auszuleihen und mit mir zum nahe gelegenen Pine-Bush-Moor zu fahren, wo ich die Flora und Fauna skizzierte, um zu Hause anhand meiner Kohleskizzen Aquarelle zu malen.
Und all die Jahre über hielt ich meinen Schwur. In meinen endlosen Gebeten hatte ich gelobt, nie wieder unreine Gedanken zu hegen, wenn ich nur wieder gehen könnte. Seit meinem ersten Gebet waren einige Jahre vergangen, und obwohl ich wusste, dass meine Genesung vor allem meiner körperlichen Robustheit und meiner Willenskraft zuzuschreiben war, redete mir eine winzige abergläubische Stimme ein, eines Tages dafür bezahlen zu müssen, sollte ich mein Versprechen nicht halten.
Es gelang mir, meinem körperlichen Begehren Einhalt zu gebieten, auch wenn es mir nicht leichtfiel. Noch immer wünschte ich, einen Mann kennenzulernen und herauszufinden, wie es wäre, berührt und geliebt zu werden.
Gleichzeitig wusste ich, dass ich nie jemandem begegnen würde, wenn ich mein gewohntes Leben beibehielt, hatte jedoch keine Ahnung, wie ich es hätte ändern sollen. Und ganz bestimmt würde nie ein Mann an die Tür unseres Hauses in der Juniper Road klopfen und nach Sidonie O’Shea fragen.
Kurz nach meinem einundzwanzigsten Geburtstag wurde meine Mutter krank. Es begann mit einer Bronchitis, gefolgt von einer tückischen Lungenentzündung, die sich wieder legte, nur um erneut aufzuflammen. Ich pflegte sie, wie sie mich einst gepflegt hatte, fütterte sie, kämmte ihr das Haar, massierte sanft ihre Hände und Füße, um die Schmerzen zu lindern, half ihr auf die Bettpfanne und machte ihr heiße Brustwickel. Gelegentlich, an Tagen, wenn sie sich mit dem Atmen leichter tat, sang sie mit heiserer, leiser Stimme noch immer ihre französischen Lieder – Momente, in denen mein Vater und ich uns nicht anschauen konnten.
Ein weiteres Mal schaffte mein Vater die Liege von der Veranda in die Küche, doch diesmal lag meine Mutter darauf, im Rücken von einem Berg Kissen gestützt. Sie sah mir beim Kochen zu, doch am meisten freute sie es, wenn sie mich beim Ausschneiden von Schnittmustern und Nähen meiner Kleider beobachten konnte.
Nach einem neuerlichen Rückfall sagte der Arzt, es sei nunmehr eine Frage der Zeit; ihre Lungen würden nicht mehr lange arbeiten.
Nachdem der Doktor an jenem Abend gegangen war, saßen mein Vater und ich an ihrem Bett. Mein Vater redete mit ihr, und auch wenn sie nicht antworten konnte, lasen wir an ihren Augen ab, dass sie ihn verstand. Ihre Brust hob sich, begleitet von schmerzhaftem Rasseln, das sich anhörte wie das Knistern von Papier. Hin und wieder summte Vater ihr eine Melodie ins Ohr. Und was tat ich die ganze Nacht lang? Ich ging in ihrem Schlafzimmer auf und ab und hatte das Gefühl, dass sich meine Lungen ebenfalls mit Flüssigkeit füllten, dass ich Gefahr lief unterzugehen wie meine Mutter. Mein Hals brannte schmerzhaft, und ich konnte kaum schlucken. Mein Mund tat weh. Ebenso meine Augen.
Und plötzlich begriff ich. Ich hatte das Bedürfnis zu weinen. Seit acht Jahren hatte ich nicht mehr geweint, zum letzten Mal mit sechzehn.
Ich wusste nicht einmal mehr, wie das ging, das Weinen. Das Gefühl in Augen, Lippen, Hals und Brust war so überwältigend und so beengend, als ob sich etwas daraus befreien, zerbersten wollte. Mein Herz oder mein Geist.
Ich begab mich zum Bett meiner Mutter, setzte mich auf den Rand und ergriff ihre verkrümmte Hand. Wieder einmal rief ich mir in Erinnerung, wie ihre Hände mich gepflegt und getröstet hatten. Ich ließ ihre Hand auf die Bettdecke zurücksinken, behielt sie aber nach wie vor in der meinen. Ich öffnete den Mund, um den Schmerz hinauszulassen, der sich in meiner Kehle aufgestaut hatte. Doch es kam nichts, und der Schmerz schwoll weiter an.
Mein Vater berührte mich am Arm. Ich sah ihn an, bemerkte die Tränen, die ihm ungehindert über die Wangen strömten, und ich sagte mit erstickter Stimme: »Vater«, wollte, dass er mir half. Meine Mutter lag im Sterben, und ich flehte ihn an, mir zu helfen.
Er rückte seinen Stuhl näher heran und legte mir den Arm um die Schultern. »Weine, Sidonie. Um zu verstehen, braucht es einen ganzen Tränenstrom«, sagte er mit einem verkrampften Lächeln. Noch so ein irisches Sprichwort – nicht der Trost, wonach es mich in jenem Moment wirklich verlangte.
»Papa«, sagte ich wieder, und ein seltsames Wimmern drang aus meiner Kehle. »Papa.«
»Sag es ihr« – er deutete mit einem Nicken zu meiner Mutter –, »sag es ihr.«
Und da wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich legte mich neben meine Mutter und bettete den Kopf an ihre Schulter. Lange blieb ich so liegen. Ihr Atem klang gequält und wie von weit her, meiner ging in hastigen, schmerzhaften Zügen.
Während ich so dalag und mich verzweifelt danach sehnte, endlich weinen zu können, fragte ich mich, warum ich meiner Mutter nie gesagt hatte, dass ich sie liebte. Warum hatte ich ihr nie gesagt, wie sehr ich all das schätzte, was sie für mich getan hatte? Warum hatte ich ihr nie gesagt, dass ich wusste, wie sehr mein Gebrechen und die abweisende Art, die ich als Schutzschild vor mir aufgebaut hatte, ihr zusetzten?
Früher hatte sie mich als ein Wunder betrachtet. Sie hatte so viele Hoffnungen in mich gesetzt, die Hoffnung, dass ich in die Welt hinausgehen würde. Dass ich meine Chancen ergreifen und einen Beruf erlernen würde. Dass ich in einer Arbeit aufginge, darin, anderen zu helfen, und in der Pflege von Freundschaften. Dass ich heiraten und Kinder haben würde. Stattdessen hatte ich mich in meiner Krankheit abgekapselt und nach innen gewandt. Ich, die ich einst ein Wunder für sie gewesen war, hatte mich in meinem Leid verschlossen und war verstummt.
Ich hatte meine Chancen nicht wahrgenommen.
Und während ich all das zu flüstern begann, was ich ihr sagen musste, löste sich der Knoten in meinem Hals. Schließlich weinte ich. Ich weinte und sprach flüsternd mit ihr, bis sie, kurz nach Mitternacht, starb.
Und dann konnte ich nicht mehr aufhören zu weinen.
Mein Vater und ich trauerten auf unterschiedliche Weise. Ich in meinem Zimmer, wo ich versuchte, mein unkontrolliertes Schluchzen zu ersticken, während mich Zinnober ruhig vom Fußende meines Bettes aus beobachtete. Mein Vater im Stillen, und er saß dabei auf den Stufen der Hintertür und starrte zum Gartenzaun. Als ich einmal zu ihm ging und mich neben ihn setzte, sagte er, als hätte ich ihn gerade inmitten eines Gedankens unterbrochen: »Sie wollte Kleider entwerfen, weißt du. Doch stattdessen hat sie mich geheiratet und ihr Zuhause und alles, was sie kannte, zurückgelassen.« Er zupfte einen Splitter aus der Holzstufe und betrachtete ihn, als könnte er ihm irgendeine Erkenntnis bieten. Dass auch meine Mutter einmal einen großen Traum gehabt hatte, war mir neu, ich hörte zum ersten Mal davon. »Du bist ihr so ähnlich, Sidonie. Sensibel, fantasievoll und entschlossen.«
In letzter Zeit war ich so nahe am Wasser gebaut, dass es nur eines winzigen Anlasses bedurfte. Ein malerischer Sonnenuntergang genügte, und schon weinte ich leise an Zinnobers tauben Ohren. Ich weinte, wenn ich ein junges Paar sah, das mit einem Kinderwagen an der Veranda vorbeispazierte. Ich weinte beim Anblick eines winzigen Vogelskeletts, das unter seiner zerbrochenen Schale unter der Linde lag. Ich weinte, wenn das Mehl ausgegangen war.
Drei Monate lang verging kein Tag, ohne dass ich weinte. Während der folgenden zwei Monate weinte ich jeden zweiten Tag. Und noch zwei weitere Monate verstrichen, während deren ich einmal wöchentlich weinte. Irgendwann weinte ich alle zwei Wochen, und als ein Jahr vergangen war, hörte das Weinen eines Tages auf.
Mein Vater war ein sanfter Mann, und seine schöne Stimme hatte diesen beschwingten irischen Akzent. Doch nach dem Tod meiner Mutter sprach er immer weniger. Wir fanden gegenseitig Trost in der Gegenwart des anderen. Mein Vater und ich schufen uns neue Alltagsroutinen, die uns beiden Halt gaben, und bewegten uns durchs Haus wie zwei Rauchschwaden, die sich niemals berührten und sich doch in anmutiger Harmonie ergänzten. Jeden Abend nach dem Abendessen lasen wir sowohl die Zeitung als auch Bücher. Ich las noch immer Romane und er Biografien und Geschichtsbücher. Manchmal unterhielten wir uns über unsere Lektüre, tauschten zum Beispiel unsere Meinung über einen Zeitungsartikel oder über eine besonders erhellende Passage aus unserem jeweiligen Buch aus.
Wir hatten nur uns.
Doch das Hinscheiden meiner Mutter setzte meinem Vater nicht nur emotional zu, sondern auch physisch. Er schien zu schrumpfen, seine Bewegungen wurden zögerlicher. Und schließlich – ob nun etwas mit seinen Reflexen nicht stimmte oder ob es an seinem sich trotz Brille verschlechternden Augenlicht lag – wurde offensichtlich, dass seine Sehkraft nicht mehr ausreichte, um weiterhin seine Stelle als Chauffeur auszuüben. Bei seinem ersten Unfall streifte er beim Einparken des teuren, auf Hochglanz polierten Wagens seines Arbeitgebers nur einen Laternenpfahl, doch bald darauf folgte ein zweiter, als er mit der Motorhaube auf das geschlossene Garagentor prallte.
Nach diesem Zwischenfall erklärte ihm sein Arbeitgeber, er könne ihn nicht länger beschäftigen. Mein Vater sah dies ein, denn wozu war ein Fahrer gut, der zu einem Sicherheitsrisiko geworden war? Doch sein Arbeitgeber, ein freundlicher Mann, zahlte ihm eine Abfindung, die uns ein bescheidenes Auskommen ermöglichte.
Mein Vater war immer gern Auto gefahren und besaß einen 1910 Ford Model T. Einmal hatte er zu mir gesagt, dass man eine geglückte Existenz in Amerika an einem Stück Land und einem Automobil erkenne. Doch trotz ihrer sparsamen Lebensweise waren meine Eltern nie in der Lage gewesen, sich ein Grundstück oder Haus zu kaufen, und mein Vater erwähnte oft, wie glücklich wir uns schätzen könnten, Mike und Nora – Mr und Mrs Barlow – zu haben, die uns all die Jahre über in ihrem Haus wohnen ließen und nur eine bescheidene Miete verlangten. Den Ford Model T hatte er, als er noch angestellt war, bei einer Versteigerung gekauft, doch der Motor war defekt, und er hatte nie genug Geld für die Reparatur gehabt. Lange hatte mein Vater an seinem Traum festgehalten, den Wagen eines Tages zu fahren. Doch er sollte nie wahr werden, und als sich sein Augenlicht rapide verschlechterte, hatte er ihn längst aufgegeben. Trotzdem stand der Wagen in dem Schuppen hinter unserem Haus immer bereit, und bei schönem Wetter ging er samstags, bewaffnet mit einem Eimer voller Seifenwasser, mehreren Lappen und einem Fensterleder, zu ihm, um ihn vom Verdeck bis zu den Rädern zu waschen. An manchen Abenden nahm er hinter dem Lenkrad Platz und rauchte Pfeife; im Sommer setzte auch ich mich hin und wieder in den Wagen, um zu lesen. Die warmen Ledersitze und das glatte Holzlenkrad hatten etwas Tröstliches.
Eines Tages brachte mein Vater nach einem Friseurbesuch eine alte Ausgabe des Motor Age Magazine mit. Er redete mit so viel Begeisterung über seine Liebe zu Autos, wie ich es lange nicht erlebt hatte, und bei meinem nächsten Einkauf besorgte ich ihm die neueste Ausgabe der Automobilzeitschrift. Seite an Seite saßen wir dann auf dem Sofa und blätterten gemeinsam darin. Aus unerfindlichem Grund genoss ich den Anblick dieser schönen, schnittigen Modelle aus der aktuellen Produktion.
Kurz darauf fand er auf einem unkrautbewachsenen Schrottplatz ein Motorhaubenzierelement von Boyce Motometer und polierte es, bis es glänzte. Ein paar Wochen später trieb er in einem Secondhandladen einen Kühlerdeckel von Boyce Motometer auf. Und daraus wurde unser Hobby: Samstagmorgens gingen wir gemeinsam in die Innenstadt von Albany und durchstöberten die Secondhandläden und Autowerkstätten auf der Suche nach Zierelementen für Motorhauben und Kühlerdeckeln von Boyce. Auch durchforsteten wir akribisch die Automobilzeitschriften und bestellten, wenn wir fündig wurden, das gesuchte Stück, indem wir unserem Schreiben einen Scheck mit einer bescheidenen Summe beilegten. Unsere Sammlung wuchs und wuchs. Einmal im Monat nahm ich unsere Fundstücke aus der Kiefernholzvitrine im Wohnzimmer und polierte sie am Küchentisch. Mein Vater saß mir gegenüber und sah zu; ab und zu griff er nach einem Teil, um es näher zu betrachten.
Wir besuchten auch gemeinsam Automobilversteigerungen, einfach nur, um die spannungsgeladene Atmosphäre einer solchen Veranstaltung mitzuerleben und inmitten all der aufregenden Wagen zu sein. Inzwischen konnten wir sogar wieder lachen.
Die Jahre gingen ins Land. Die Jahreszeiten wechselten einander ab, und mein Vater und ich wurden älter, ohne dass sich viel ereignete. Bis zu jenem Tag Ende März 1928, als ein eisiger Ostwind wehte und mein bisheriges Leben ausradierte.