DREIUNDZWANZIG

Ich kann mich nicht erinnern, wie ich zu meinem Hotel zurückfand. Meine Sinne waren dermaßen verwirrt, dass das Leben in den Gassen, den Souks und auf dem Platz zu einem trüben Farb- und Geräuschteppich verschwamm. Während ich durch die verwinkelten Gassen der Medina hetzte, hielt ich mir ein Taschentuch vor Mund und Nase. Wie lange hatte ich gebraucht? Hatte ich mich verirrt? Ich weiß nur noch, dass ich in ein Taxi stieg, das mich auf der Fahrt ordentlich durchrüttelte, bis ich schließlich in die Geborgenheit meines Zimmers gelangte.

Während ich auf dem Bett lag, presste ich noch immer das Taschentuch ans Gesicht. Er ist tot, dachte ich wieder und wieder. Etienne ist tot. Er ist tot.

Wieder fühlte ich mich an die Stunden nach meiner Fehlgeburt erinnert, als fast die gleichen Worte in meinem Kopf widerhallten.

Meine Augen und mein Hals brannten, während ich wieder an mein totes Baby dachte und daran, nun auch Etienne für immer verloren zu haben. Ich hatte meine ganze Energie darauf gerichtet, ihn wiederzufinden. Und selbst wenn er mich zurückgewiesen hätte, hätte ich wenigstens gewusst, dass es ihn gab. Allein dieses Wissen wäre ein Trost für mich gewesen; außerdem hätte ich mich an die Hoffnung klammern können, dass er eines Tages wieder vor meiner Tür in der Albany Road stehen würde – wie damals, als er unverhofft bei mir vorbeigekommen war.

Im Geiste sah ich seine Finger, die sich um meine Hand schlossen. Nie wieder. Nie wieder …

Die Arme um den Oberkörper geschlungen, lag ich auf dem Rücken und wiegte mich hin und her, als ich plötzlich hörte, wie ein Wimmern aus meiner Kehle drang. Es war jetzt dunkel im Zimmer und furchtbar heiß. Vom Djemma el Fna drang ein gedämpftes Dröhnen an mein Ohr.

Meine Brust und mein Kopf schmerzten, und ich bekam kaum Luft. Wie war Etienne gestorben? Hatte er nach mir gerufen, als er im Sterben lag, oder war sein Tod so unvermittelt gewesen, dass kein Wort mehr über seine Lippen gekommen war?

Nun würde ich nie mehr erfahren, warum er mich verlassen hatte. Wieder durchlebte ich die Stunden in dem Hotelzimmer in Marseille, in denen ich mit mir gerungen hatte, ob ich nach Marrakesch weiterreisen oder doch lieber nach Hause zurückkehren sollte. Doch ich hatte mich entschieden, herzukommen und hier Antworten auf meine Fragen zu finden.

Und nun hatte ich sie. Ich hatte eine Antwort. Nicht die auf die Frage, warum er mich verlassen hatte. Sondern eine andere, schreckliche, vollkommen unerwartete Antwort.

Es war nicht gerecht: zuerst das Kind und nun auch Etienne.

Ich bemühte mich, ruhig zu atmen, bemühte mich, meine Angst zu kontrollieren. Doch die Panik war so übermächtig, und mein Herz schlug so wild, dass ich das Gefühl hatte, es würde mich zerreißen. Ruckartig setzte ich mich auf, keuchte in der heißen Luft. Erlitt ich gerade einen Herzanfall und würde ich ebenfalls sterben, hier, wie Etienne?

Du stirbst nicht, Sidonie. Du stirbst nicht. Reiß dich zusammen.

Ich wollte zum offenen Fenster gehen und mich hinauslehnen, um Atem zu schöpfen, aber es kostete mich zu viel Anstrengung, die wenigen Meter zu überwinden, also ließ ich mich aufs Bett zurücksinken und presste die Hände an meine schmerzende Brust.

Wieder musste ich daran denken, wie mein Kind wohl ausgesehen hätte, und unwillkürlich kam mir Badous kleines Gesicht in den Sinn. Er war so gelassen, trotz seines traurigen Schicksals, das ihn mit einer grausamen, gefühlskalten Mutter geschlagen hatte. Ich rief mir in Erinnerung, wie seine kleine Hand meine ergriffen hatte, so voller Vertrauen. Die Augen geschlossen, atmete ich kurz und stoßweise ein, bis ich mich erneut aufsetzte. Ich schnürte die Schuhe auf, kickte sie auf den Boden, knöpfte hastig mein Kleid auf und zog mich vollständig aus. Als ich die Strümpfe abstreifte, spürte ich einen Schmerz und sah, dass meine Knie aufgeschürft waren und dass die Strümpfe an dem getrockneten Blut festklebten. Ich hatte keine Ahnung, wie das geschehen war.

Nackt ließ ich mich wieder auf das weiche Bett zurückfallen und überließ mich abermals meinen Tränen, ohne mich darum zu scheren, ob man mich draußen auf dem Korridor hören konnte.

Ich hatte nicht erwartet, dass ich tatsächlich einschlafen würde, doch am nächsten Morgen wurde ich durch die Sonnenstrahlen geweckt, die mir ins Gesicht schienen. Ein paar Sekunden blieb ich noch ruhig liegen und blinzelte im blendenden Tageslicht, ehe die Erinnerung an das, was geschehen war, wieder wie eine Welle über mir zusammenschlug.

»Etienne ist tot«, sagte ich laut. »Etienne ist tot.« Tot.

In meinem Kopf hämmerte es. Ich schlug das Bettlaken zurück und betrachtete meinen Körper. Nie zuvor hatte ich ohne Nachthemd geschlafen, auch nicht in den gemeinsamen Nächten mit Etienne.

Langsam kam auch die Erinnerung an meinen hysterischen Anfall in der vergangenen Nacht zurück, und ich stellte mir Etiennes Reaktion vor, wenn er mich so erlebt hätte. Er, der immer so selbstbeherrscht und besonnen war. Selbst als ich ihm von meiner Schwangerschaft erzählte und er so ungewohnt schockiert wirkte, hatte er nicht vollkommen die Kontrolle über sich verloren. Doch dann rief ich mir jenen Augenblick im Wagen ins Gedächtnis, als sein Gesicht seine wahren Gefühle verraten hatte, seine Unsicherheit und Angst.

Hinter seiner scheinbar so makellosen Fassade lauerte etwas Zerbrechliches und Dunkles. Aber was? Was hatte er vor mir verborgen? Was hatte ihn so verletzlich gemacht, und warum hatte er versucht, diesen Teil seines Wesens durch seine distanzierte, sachliche Art zu kaschieren?

Den ganzen Tag lang blieb ich im Bett liegen und sah zu, wie die Sonnenstrahlen durch das Zimmer wanderten. Weder nahm ich ein Bad, noch trank oder aß ich etwas. Als es an die Tür klopfte, rief ich, dass ich nicht gestört werden wolle. Ich sah zu, wie die Schatten länger wurden, bis sich die Dunkelheit herabsenkte.

Als die Sonne abermals durch die Fenster schien, hatte ich mit einem Mal schrecklichen Durst. Mir war nach frisch gepresstem Orangensaft. Ich griff nach der weißen Unterhose, die neben mir auf dem Bett lag, und zog sie an. Als ich aufstand, meldeten sich die Schmerzen in meinen Knien zurück. Vage erinnerte ich mich daran, dass sie blutig gewesen waren, als ich mich in der vorletzten Nacht ausgezogen hatte, und besah sie mir erneut. Es hatte sich Schorf gebildet, darum herum prangte ein Bluterguss. Ich zog an der Klingelschnur, um jemanden vom Zimmerservice zu rufen.

Kurz darauf klopfte es sachte an die Tür. Ich wickelte das Laken um die Schultern, ging zur Tür und öffnete sie, um dem Jungen zu sagen, er möge mir einen Krug Orangensaft bringen. Aber statt eines Hoteljungen stand Monsieur Henri vor der Tür.

»Mademoiselle«, sagte er und wirkte zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, nervös. »Unten in der Lobby … es ist mir sehr unangenehm …«

»Was denn?«

»Unten in der Lobby …«, begann er erneut, ohne den Satz zu beenden.

»Ja, Monsieur Henri, bitte, ich bin müde und würde mich gern wieder hinlegen.«

»Da ist ein Mann«, sagte er. »Ein Mann, der sagt, er kenne Sie.«

Mit einem Mal fürchtete ich, meine Beine würden den Dienst versagen. Es war ein Irrtum, oder man hatte mir einen schrecklichen, makabren Streich gespielt. Etienne war nicht tot. Er lebte und wartete unten in der Hotelhalle auf mich.

»Monsieur Duverger?«, rief ich und legte Monsieur Henri die Hand auf die Schulter. Er drehte kaum merklich das Gesicht, und im selbem Moment wurde mir klar, dass ich ihn beleidigt hatte, indem ich ihn anfasste. Ich nahm die Hand wieder weg. »Entschuldigen Sie, aber ist er es? Etienne Duverger?«

Monsieur Henri hob das Kinn ein wenig. »Ich versichere Ihnen, Mademoiselle O’Shea, dass es gewiss nicht Monsieur Duverger ist, von dem Sie sprechen. Es ist ein … Araber, Mademoiselle. Ein Araber mit seinem Kind.«

Ich blinzelte. »Ein Araber?«

»Ja. Sein Name hat irgendetwas mit der Sahara zu tun. Ich habe ihn nicht behalten. Und wirklich, Mademoiselle, ich habe ihm versichert, dass es nicht Stil des Hauses ist, Nicht-Europäer in unser Hotel zu lassen, geschweige denn in die Gästezimmer. Da bestand er darauf, dass ich persönlich mit Ihnen spreche. Er war …« Er unterbrach sich. »Er machte einen ziemlich bedrohlichen Eindruck. Es scheint, als hätte er …«, er beugte sich näher zu mir, sodass ich einen blumigen Duft wahrnahm, Jasmin, wie mir schien, »… Ihnen etwas mitgebracht. Essen.« Er trat einen Schritt zurück. »Das ist unmöglich. Ich habe ihm gesagt, dass Sie etwas von unserer umfangreichen Speisekarte bestellen würden, sollten Sie Hunger haben. Aber er blieb mit seiner tajine und dem Kind stehen, wo er war, und ich bin sicher, dass er sich noch immer nicht von der Stelle gerührt hat. Der Junge hat ebenfalls etwas zu essen in der Hand, eine Art Schnur mit beignets. Ich muss schon sagen, dass das Essen einen unangenehmen Fettgeruch in der Lobby verströmt. Und auch wenn sich zu dieser Tageszeit nur wenige Gäste im Hotel aufhalten, so wünsche ich doch, dass dieser Mann mit dem Kind weg ist, bevor …«

»Sie können sie hochschicken, Monsieur Henri«, sagte ich, und ich sah, wie sich seine Augen weiteten. Dann wanderten sie zu meinem losen, ungekämmten Haar und meinem nur von einem Laken bedeckten Körper. Ich war mir bewusst, dass eines meiner zerschürften Knie hervorschaute, kümmerte mich aber nicht weiter darum.

»Meinen Sie wirklich, Mademoiselle? Die Sicherheit unserer Gäste ist unser oberstes …«

Wieder fiel ich ihm ins Wort. »Ja. Ich bin auch ein Gast. Und ich versichere Ihnen, dass kein Grund besteht, sich Sorgen zu machen. Bitte schicken Sie die beiden herauf. Und vergessen Sie den Krug Orangensaft nicht.« Mir schien, als wäre das nicht meine Stimme, die da sprach. Es war die Stimme von jemand anderem, jemandem, der sich nicht einschüchtern ließ.

Monsieur Henri zog eine pikierte Miene. »Wie Sie wünschen, Mademoiselle«, sagte er, drehte sich grußlos um und ging mit kerzengeradem Rücken den Flur entlang.

Ich hob mein Kleid vom Boden auf und zog es an. Dann zwängte ich die nackten Füße in die Schuhe, ohne mir die Mühe zu machen, sie zuzubinden, und hatte auch nicht die Energie, die Haare zu kämmen.

Kurz darauf klopfte es erneut an die Tür. Ich öffnete, und davor standen Aszulay und Badou. Wie Monsieur Henri gesagt hatte, trug Aszulay eine tajine, während Badou einen starken grünen Zweig in der Hand hielt, an dem mindestens ein halbes Dutzend beignets baumelten, das süße frittierte Hefegebäck, das man in Marokko überall sah.

»Aszulay, Badou«, sagte ich. »Was … was führt Sie zu mir?«

Aszulay musterte mich, während er die tajine in einer Hand balancierte. Ich machte mir keine Illusionen über mein Aussehen, die verquollenen Augen, die zerzausten Haare. Ich strich eine Haarsträhne zurück, die mir an der verschwitzten Wange klebte.

»Wir haben dir beignets gebracht, Sidonie«, sagte Badou. Mir entging nicht, dass er zum vertrauten Du übergegangen war. »Aber was ist mit deinen Augen passiert? Sie …« Aszulay legte dem Jungen seine freie Hand auf den Kopf, und der Junge verstummte.

»Ich dachte, dass Sie vielleicht …« Aszulay beendete den begonnenen Satz ebenfalls nicht. Stattdessen sagte er: »Badou hat mir gestern erzählt, dass er gehört hat, wie Sie am Tag davor aufgeschrien hätten und dann hingefallen seien. Als er zu Ihnen rannte, hätten Sie ihn nur angestarrt, ohne etwas zu sagen. Dann standen Sie auf und … Er sagte, Sie hätten kaum gehen können und seien wieder gestürzt. Aber schließlich hätten Sie den Innenhof verlassen. Da war mir klar, dass Manon Sie aufgebracht haben muss. Es tut mir leid, ihre Worte müssen Sie zutiefst bestürzt haben. Die Sache mit Etienne. Wie ich bereits sagte, spricht oder verhält sich Manon nicht immer, wie es angebracht wäre.«

Schweigen trat ein. Ich hatte aufgeschrien und war hingefallen? Das war also der Grund für meine aufgeschürften Knie. Schließlich fiel mein Blick auf die tajine, und ich sagte: »Vielen Dank. Aber … ich fürchte, es ist besser, wenn ich allein bin. Doch wie gesagt, vielen Dank, Aszulay, und dir auch, Badou.«

Aszulay nickte. Seine Hand lag noch immer auf Badous Kopf. Er nahm sie weg, um die tajine mit beiden Händen auf den Boden des Zimmers zu stellen. Ein köstlicher Duft nach Lamm und Aprikosen stieg von der Keramikpfanne auf. Auch Rosmarin konnte ich ausmachen. »Komm, Badou, gib Mademoiselle O’Shea die beignets, dann werden wir sie allein lassen.«

Ich nahm den Zweig mit den frittierten Gebäckringen, den Badou mir schweigend reichte. Die zögerliche Art, mit der er sie mir übergab, sagte mir, dass Badou eigentlich erwartet hatte, wir würden das Mahl teilen. Auch wenn ich erst seit kurzem in Marokko war, hatte ich begriffen, wie wichtig Gastfreundschaft für die Menschen war und wie unhöflich ich erscheinen musste – selbst in Anbetracht meines Zustandes –, vor allem in den Augen eines Kindes.

»Nein, warten Sie«, sagte ich, während sich die beiden wieder zum Gehen wandten. »Es tut mir leid, aber ich war einfach so durcheinander. Bitte, kommen Sie herein, und essen Sie mit mir.« Im selben Moment erschien ein Hoteljunge hinter ihnen mit einer Karaffe Orangensaft auf einem Silbertablett. Sein neugieriger Blick blieb einen Moment zu lange an Aszulay haften.

»Bitte stellen Sie den Saft auf den Tisch und bringen Sie zwei weitere Gläser für meine Gäste«, sagte ich.

Er nickte, tat wie ihm geheißen und ging wieder.

»Bitte«, sagte ich zu Aszulay und Badou, » setzen Sie sich.« Ich hob die tajine vom Boden hoch und stellte sie neben die Karaffe auf den Tisch. Durch das offene Fenster drang der entfernte, aber durchdringende Schrei eines Esels. Aszulay und ich nahmen auf den einzigen beiden Stühlen Platz, und Badou kletterte Aszulay auf den Schoß.

Ich hob den Deckel von der tajine, und ein aromatischer Duft stieg von der Pfanne auf. »Bitte, essen Sie, ich … ich weiß nicht, ob ich etwas herunterbekomme.«

Während sich Aszulay und Badou bedienten, saß ich zurückgelehnt auf dem Stuhl. Das Schweigen, das entstand, während die beiden aßen, war mir unangenehm, doch sie schien es nicht zu stören.

Der Hoteljunge kam zurück und stellte zwei weitere Gläser auf den Tisch. Wieder warf er Aszulay einen verstohlenen Blick zu, der ihm seinerseits zunickte. Der Junge senkte respektvoll den Kopf.

Als Badou schließlich genug von dem Couscous mit Lamm und Aprikosen gegessen hatte, nahm er sich zwei beignets. Als er sie verschlungen hatte, griff er nach einem dritten, doch Aszulay legte ihm eine Hand auf den Arm. »Das reicht jetzt, Badou«, sagte er. »Du kriegst sonst Bauchschmerzen. Denk an letztes Mal, als du zu viel gegessen hast.«

Badou nickte gehorsam, doch seine Augen waren noch immer sehnsüchtig auf die restlichen Gebäckteile gerichtet.

»Ich muss heute nur ein paar Stunden im Garten arbeiten und werde Badou mitnehmen«, sagte Aszulay.

Ich nickte abwesend.

»Vielleicht haben Sie ja Lust, uns zu begleiten.«

»Nein, danke«, sagte ich, ohne zu überlegen. Ich konnte mir nicht vorstellen, an diesem Tag in die lärmerfüllten Straßen hinauszugehen, mir einen Weg zwischen den Wagen, Eselskarren und Menschen hindurchzubahnen. Sah Aszulay denn nicht, was ich gerade mitmachte? Wie tief meine Trauer war?

»Monsieur Majorelle hat neue Vögel angeschafft. Ich dachte, dass Sie sie vielleicht gern betrachten wollen.« Er redete mit mir, als wäre ich Badou, als ginge es darum, ein kleines Kind zu trösten, und das irritierte mich. Mir kam in den Sinn, dass er im gleichen Ton mit Manon gesprochen hatte, um sie zu beruhigen.

»Ich sagte Nein, Aszulay. Ich habe nicht …« Tränen traten mir in die Augen, und ich wandte den Blick ab, um sie vor ihm zu verbergen.

»Es ist schwer für Sie, ich weiß«, sagte er und stand auf. »Es tut mir leid, dass Sie so weit gereist sind, nur um diese Enttäuschung zu erleben. Komm, Badou.« Er streckte die Hand nach dem Jungen aus.

»Etiennes Tod ist sehr viel mehr als eine Enttäuschung für mich«, sagte ich ruhig. Ich sah zu ihm hoch, und sein Ausdruck ließ mich den Atem anhalten.

»Aber … Mademoiselle O’Shea«, sagte er. »Etienne … er ist doch nicht tot. Wie kommen Sie denn darauf?«

Ich konnte ihn nicht länger ansehen und starrte stattdessen die tajine an, dann die Karaffe mit dem Orangensaft, die Gläser. Die Gegenstände schienen zu pulsieren, als wären sie lebendig. »Aber …« Ich legte die Hand auf den Mund, ließ sie sogleich wieder sinken und wandte den Blick wieder Aszulay zu. »Manon … sie sagte …« Ich hielt inne. »Sie sagte, Etienne ist tot. Auf dem Friedhof begraben. Sie hat gesagt, er ist tot.«

Eine Weile sahen Aszulay und ich uns schweigend an.

»Stimmt es also nicht?«, sagte ich leise, und als Aszulay den Kopf schüttelte, stieß ich einen leisen Schrei aus, und diesmal bedeckte ich mir den Mund mit beiden Händen.

»Hat sie Ihnen das wirklich gesagt?«, fragte Aszulay. Seine Lippen waren noch immer geöffnet, aber er redete nicht weiter.

»Sagen Sie mir die Wahrheit, Aszulay. Sagen Sie mir, was Etienne zugestoßen ist. Wenn er nicht tot ist, wo ist er dann?«

Aszulay schwieg eine Weile lang. »Es geht mich nichts an. Es ist eine Sache zwischen Ihnen und Etienne, Ihnen und Manon. Zwischen Manon und Etienne. Es geht mich nichts an«, wiederholte er. »Aber dass Manon …« Er ließ den Satz unbeendet.

Ich legte ihm meine Hand auf den Unterarm. Er fühlte sich hart und warm unter dem blauen Ärmel an. »Aber warum? Warum tut Manon mir das an, warum belügt sie mich derartig? Warum hasst sie mich so, dass sie mich auf diese entsetzliche Weise aus Marrakesch vertreiben will? Warum geht sie so weit, zu behaupten, er sei tot?« Ich bemerkte, dass ich mich wiederholte, mich im Kreis drehte. Das, was sie mir angetan hatte, war so unglaublich, so verwirrend für mich.

Aszulay sah zu Badou, und ich folgte seinem Blick. Das Gesicht des kleinen Jungen war aufmerksam, seine Augen wirkten intelligent. Voller Leben. Aber noch etwas anderes drückten sie aus. Er hatte schon viel zu viel gesehen und gehört, das wusste ich. Nicht nur heute, sondern im Laufe seines gesamten kurzen Lebens.

»Sie ist zutiefst unglücklich«, sagte Aszulay. »Die Gründe kennt sie allein. Ich weiß nicht, warum sie Ihnen das erzählt hat.«

»Und was ist dann die Wahrheit? Wo ist Etienne? Sie wissen doch, dass sie es mir nicht sagen wird. Ich merke, dass wir, Sie und ich, in einer ähnlichen Lage sind. Oder nicht?« Ich bin – war, bin, ich weiß nicht, was – Etiennes Geliebte, und Sie sind Manons Geliebter.

»In einer ähnlichen Lage? Ich weiß nicht, was Sie damit meinen. Ich weiß nur, dass Etienne in Marrakesch war. Er hat ungefähr zwei Wochen lang bei Manon gewohnt. Dann plötzlich ist er wieder verschwunden.«

»Ist er nach Amerika zurückgekehrt?« Konnte es sein, dass wir aneinander vorbeigereist waren? War er nach Albany zurückgegangen und hatte mich dort vergeblich gesucht?

»Nein. Er sagte, er würde in Marokko bleiben, nun, da er …« Er sah Badou wieder an.

»Ist das alles? Können Sie mir nichts weiter sagen?«

»Vielleicht sollten wir ein andermal weiterreden.«

»Wann?«

»Ein andermal«, wiederholte er. Dann nahm er Badou an der Hand und ging.

Den Rest des Tages verbrachte ich in einem Zustand sich widerstreitender Gefühle. Ich lag auf dem Bett oder saß am Tisch und blickte aus dem Fenster. Am liebsten wäre ich zu Manons Haus gerannt, hätte sie zur Rede gestellt, von ihr verlangt, mir die Wahrheit zu sagen. Aber eine merkwürdige Erschöpfung hatte sich meiner bemächtigt, ich war unfähig, mich mehr als ein paar Meter zu bewegen. Nur wenige Tage zuvor, als ich Manon gefunden hatte, war ich voller Hoffnung gewesen, endlich Etienne zu finden. Dann hatte sie mir gesagt, dass er tot sei, und mich damit in tiefe Verzweiflung gestürzt. Und nun … Wenn ich Aszulay Glauben schenkte, und das tat ich – natürlich glaubte ich ihm mehr als Manon –, war Etienne nicht tot, sondern lebte und hielt sich irgendwo in Marokko auf.

Ich war der Antwort auf meine Frage, warum er mich ohne ein Wort verlassen hatte, keinen Schritt nähergekommen. Doch hatte sich etwas verändert. Eine Nuance. Überzeugt, er sei tot, hatte ich um Etienne getrauert. Etwas in mir war dabei erloschen. Es fehlte nun. Und die Erkenntnis, dass er lebte, hatte nichts daran verändert.

Über all das grübelte ich nach, versuchte, es zu verstehen. Ich aß ein paar Happen des kalten Lamm-Couscous und leckte die fettigen Finger sauber. Ich trank den restlichen Orangensaft. Dann wusch ich meine zerschundenen Knie und untersuchte die Aufschürfungen und Blutergüsse.

Inzwischen war es wieder dunkel geworden. Ich entledigte mich der Schuhe und Kleider, legte mich erneut nackt auf das weiche Bett und spürte die nächtliche Hitze auf meiner Haut.

Am Morgen hatten sich Fliegen über die verkrusteten Überbleibsel in der tajine hergemacht. Ich ließ mir ein Bad ein und steckte das Haar hoch. Dann zog ich mir ein sauberes Kleid an und schüttete die Essensreste in den Abfalleimer. Schließlich verließ ich das Hotel und fuhr mit einem Taxi zu dem Tor in der Stadtmauer der Medina.

Es war an der Zeit, Manon zur Rede zu stellen. Obwohl ich sie am liebsten nie wieder gesehen hätte, konnte ich es unmöglich dabei belassen.

Ich würde sie nicht in dem Glauben lassen, es sei ihr gelungen, mich in die Flucht zu schlagen. Und ich würde bleiben, bis sie mir verriet, wo ich Etienne finden konnte.