ZWEIUNDDREISSIG
Ein beißender Geruch drang mir in die Nase, und ich wandte das Gesicht ab. Doch bei der abrupten Bewegung schmerzte meine Stirn, und als ich die Augen öffnete, nahm ich alles nur verschwommen wahr. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass ich auf der Tagesliege im Wohnzimmer lag und Mena mit einem kleinen, rauchenden Stoffbeutel vor meinem Gesicht wedelte.
»Besmellah rahman rahim.« Immer wieder betete sie diese Worte herunter. Schließlich blickte sie mir in die Augen und sagte etwas, doch ich verstand nur das Wort »Dschinn«.
Ich wollte den Kopf schütteln, sagen: Nein, nein, es ist kein Dschinn, kein böser Geist. Bestimmt kommt es vom Essen, etwas, was ich tagsüber gegessen und nicht vertragen habe. Aber mein Kopf gehorchte mir nicht. Ich wollte, dass sie aufhörte, mir mit dem rauchenden Stoffbeutel vor dem Gesicht herumzuwedeln. Aber bis auf la – nein – fielen mir keine arabischen Worte ein. Und dann sah ich Aszulay. Er erschien neben Mena und sprach mit ihr. Sie wandte das Gesicht von ihm ab und zog sich den Schleier übers Gesicht, dann antwortete sie in kurzen, schnellen Sätzen, während sie wieder mein Handgelenk ergriff und die Stimme erhob.
Aszulay erwiderte etwas, und Mena verließ das Zimmer.
Er kauerte sich neben mir auf die Fersen. »Mena sagt, dass eine böse Frau dich verhext hat.«
Ich versuchte zu lächeln – was für eine absurde Idee –, doch es war, als wäre ich in einem schmerzlichen Traum gefangen. War Aszulay wirklich da, oder bildete ich ihn mir nur ein, wie am Morgen im Hamam? »Nein, ich bin nur … krank. Vielleicht Essen …« Meine Stimme verebbte.
Er nahm meine Hand. Seine Finger fühlten sich so kühl an. Mein Gesicht brannte, die Wange pochte, und ich schmiegte sie an seinen Handrücken und schloss die Augen. Dann drückte ich die Lippen auf seine Haut und atmete seinen Duft ein, versuchte, das Indigo zu riechen.
»Was ist mit deinem Gesicht passiert, Sidonie?« Seine Stimme war so sanft. Er zog seine Hand nicht weg.
Ich öffnete die Augen, und plötzlich sah ich seine Züge klar und deutlich und nah, und mir wurde bewusst, was ich tat. Dies war kein Traum. Er musterte mein Gesicht. Ich ließ seine Hand los und fuhr mit den Fingern über meine Narbe, doch er besah sich die andere Seite. Ich betastete die Wange, sie fühlte sich geschwollen an.
»Ich bin ohnmächtig geworden und gestürzt. Wahrscheinlich bin ich auf die Wange gefallen«, sagte ich verlegen. »Tut mir leid, dass man Sie herbemüht hat.« Ich wollte mich aufsetzen, war jedoch zu schwach. »Morgen, wenn ich geschlafen habe, wird es mir wieder besser gehen.«
»Wer ist die Frau, von der Mena gesprochen hat?«, fragte Aszulay und drückte mich sanft an der Schulter, sodass ich wieder auf das Kissen zurücksank.
»Manon. Ich war heute Nachmittag dort, um nach Badou und Falida zu sehen. Aber sie waren nicht zu Hause, nur Manon war da.«
»Und? Was ist mit deiner Hand passiert?«
Ich wollte es mit einem kurzen Lachen abtun, aber der Laut missglückte mir. »Ach, nichts. Sie wollte mir ein Geschenk geben. Keine Ahnung, warum. Sie mag mich ja nicht.«
Er kauerte reglos neben mir.
»Ein alter Füllfederhalter mit einem Tintenfass. Als sie es mir geben wollte, hat sie mich mit der Feder gestochen. Das ist alles.«
Sein Ausdruck veränderte sich. »Vielleicht ist es besser, wenn ich dich in die Klinik im Französischen Viertel bringe.«
»Nein«, sagte ich. »Auf meinem Zimmer habe ich eine Wundsalbe, die hilft bestimmt.« Plötzlich klapperte ich mit den Zähnen; ich fühlte mich nicht mehr fiebrig, sondern hatte Schüttelfrost.
Aszulay drehte den Kopf und rief etwas, dann nahm er wieder meine Hand und musterte die Wunde. Ich bemerkte, dass mein Handballen noch geschwollener war, der Schnitt eiterte bereits. Ich versuchte, die Finger auszustrecken, doch es gelang mir nicht.
Das Gesicht der alten Dienerin erschien über Aszulays Schulter; er sagte etwas zu ihr, und sie ging wieder hinaus. »Sie bringt dir eine Decke. Außerdem habe ich ihr gesagt, sie soll einen der Jungen zu mir nach Hause schicken, um etwas zu holen. Du brauchst jetzt mehr als nur Gebete und Räucherkräuter.« Sein Blick glitt von meinem Gesicht abwärts zu meinem Hals, und er streckte die Hand aus. »Oder ein Amulett.«
Ich blickte auf das Amulett in seiner Hand: ein kreisrunder Anhänger mit einem Auge darin, der an einer Goldkette hing und Mena gehörte. Es war mir aufgefallen, als wir uns im Hamam umzogen. Sie musste es um meinen Hals gelegt haben, als ich schlief.
Als die Dienerin mit einer Decke hereinkam und sie vor sich hinmurmelnd auf Armeslänge von sich hielt, ließ Aszulay das Amulett los und stand auf, um sie ihr abzunehmen, und deckte mich zu.
Ich döste wieder ein, während ich mir Aszulays Gegenwart bewusst war, der sich einen Hocker herangezogen hatte und nun neben mir saß. Dann spürte ich, wie er erneut meine Hand nahm. Nur mühsam gelang es mir, die Augen wieder zu öffnen, und ich sah, wie er sich, einen Gegenstand zwischen Daumen und Zeigefinger, über meine Hand in seinem Schoß beugte. Plötzlich spürte ich einen schmerzhaften, tiefen Stich und verspürte den Impuls, die Hand zurückzuziehen, doch er hielt sie fest. Ich stöhnte, während er mit einem scharfen, heißen Gegenstand in meiner Wunde stocherte.
Er murmelte etwas auf Arabisch, tröstende Worte, und auch wenn ich sie nicht verstand, wusste ich, dass er mich beruhigen wollte, mir zu verstehen gab, dass es gleich vorbei sei und es ihm leidtue, mir Schmerzen zuzufügen.
Ich hielt den Atem an.
Schließlich hob er den Kopf, und ich stöhnte nochmals auf, doch diesmal vor Erleichterung, da das schmerzhafte Pochen aufgehört hatte. »Ich habe es«, sagte er, aber ich verstand nicht, was er meinte, und es war mir auch gleich.
Meine Hand brannte höllisch, und ich sog scharf den Atem ein und hob den Kopf, um zu sehen, woher das Brennen rührte. Aszulay träufelte eine scharf riechende Flüssigkeit über meinen Handballen, wahrscheinlich ein Desinfektionsmittel. »Es tut schrecklich weh«, sagte ich.
»Ich weiß, aber gleich ist es vorbei.« Er wickelte eine saubere Binde um meine Hand. »Nun trink«, sagte er, indem er mir ein Glas an die Lippen hielt. Es schmeckte sirupartig, aber die Süße vermochte den bitteren Geschmack nicht zu übertünchen. »Ein Mittel, das die Schmerzen stillt und das Fieber senkt.«
Ich trank das Glas aus und sank wieder auf das Kissen zurück. Meine Hand pochte vor Schmerz. Aszulay saß schweigend neben mir, und irgendwann, ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, bemerkte ich, dass die Schmerzen abgeklungen waren, und eine friedvolle Schläfrigkeit legte sich auf mich. »Es tut nicht mehr weh«, murmelte ich.
»Gut«, sagte Aszulay und streichelte mir über die Stirn.
»Ich habe heute über deine Hände nachgedacht«, murmelte ich, »im Hamam.« Und dann schlief ich ein.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, blinzelte ich in dem dämmrigen Licht und fragte mich einen Moment lang, warum ich nicht oben in meinem Zimmer lag.
Dann hob ich den Arm und erblickte den ordentlichen Verband um meine Hand.
Mena kam mit einem Glas Tee herein, und ich richtete mich mühsam auf. »Kayf al-haal?«, fragte sie, während sie mir das Glas reichte.
Ich hielt es vorsichtig mit beiden Händen. »Es geht mir gut«, antwortete ich auf Arabisch. Das stimmte; ich hatte kein Fieber mehr, und im Handballen spürte ich nur noch ein leichtes Ziehen.
Ich dachte daran, wie sich Aszulay über mich gebeugt hatte. »Aszulay?«, sagte ich. »Ist er noch hier?«
»La«, erwiderte Mena.
Eine Stunde später fühlte ich mich stark genug, in mein Zimmer hinaufzugehen, mich zu waschen, umzuziehen und die Haare zu bürsten, auch wenn ich immer noch recht zittrig auf den Beinen war. Meine Bewegungen waren wegen des Verbands an meiner Hand ein wenig unbeholfen, und auf meiner Wange prangte ein dunkelroter Bluterguss, der schmerzte, wenn ich ihn berührte.
Kurz darauf saß ich im Innenhof, als Aszulay hereinkam. Verlegen sah ich ihn an; welche meiner Erinnerungen an den gestrigen Abend waren wirklich geschehen, und was davon hatte ich geträumt? Die Erinnerungen vermischten sich mit den Fantasien über ihn, die mich im Hamam bestürmt hatten.
Doch er sah mich mit einem Lächeln an, und ich erwiderte es. »Es scheint dir viel besser zu gehen«, sagte er und nickte zufrieden. Erst da fiel mir auf, dass er mich die ganze Zeit schon vertraulich duzte. »Ich bin bis heute früh hiergeblieben, doch als ich sah, dass du kein Fieber mehr hast und die Schwellung abgeklungen war, bin ich nach Hause gegangen.« Er hockte sich neben mich auf die Fersen und nahm meine Hand, ehe er sanft den Verband löste. »Ja, schau mal. Die Wunde ist fast schon verheilt, das Gift ist heraus.«
»Das Gift?«, fragte ich und betrachtete die Innenseite meiner Hand, die in Aszulays Hand lag. Der Ballen war nicht mehr geschwollen, und nur noch eine kleine Wunde war in der Mitte zu sehen.
Mit einem Mal erinnerte ich mich wieder, wie ich in der vergangenen Nacht die Lippen auf seine Hand gedrückt hatte. Es war mir peinlich, doch dann beruhigte ich mich: Gewiss hatte er doch bemerkt, dass ich im Delirium war und nicht Herr meiner selbst.
Aszulay verband die Hand wieder. »Lass die Binde heute noch darauf, um die Wunde vor Verschmutzung zu schützen. Aber morgen wird kaum mehr was zu sehen sein.«
»Gift?«, sagte ich nochmals. »Was für ein Gift?«
Er stand auf und wandte den Blick ab. »Da war ein kleiner Splitter in deinem Fleisch, den ich entfernt habe. Ein Knochensplitter. Daraus wurden früher manchmal die Spitzen für Federhalter gemacht.«
Unwillkürlich sah ich vor meinem geistigen Auge wieder Falida, die auf dem Friedhof in der Graberde wühlte. Ihre schaurige Suche nach den Ingredienzien für ihre Herrin. Ich fröstelte, als wäre der Schüttelfrost der vergangenen Nacht wieder zurückgekehrt. »Aber warum sollte ein alter Knochensplitter eine Infektion hervorrufen?«
Er blickte mich an. »Ein alter Knochen allein nicht. Vielleicht … wurde die Spitze in eine Substanz getaucht …« Er unterbrach sich. »Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher.«
»Und wenn du den Splitter nicht entfernt hättest? Wenn Mena nicht nach dir geschickt hätte?«
»In zwei Tagen fahre ich mit Badou aufs Land.« Er hatte unvermittelt das Thema gewechselt und machte mir damit klar, dass er nicht länger darüber reden wollte. »Was ist mit dir? Willst du immer noch mitkommen?«
Ich nickte. Ich wagte nicht, ihn zu fragen, ob er – so wie ich inzwischen – glaubte, dass Manon mich absichtlich verletzt hatte. Als sie hörte, dass ich mit Aszulay und ihrem Sohn aufs Land fahren würde, hatte sie beschlossen, es zu verhindern.
Natürlich hatte Manon niemals vorgehabt, mir den Füllfederhalter zu schenken. Sie hatte mich absichtlich mit der Spitze geritzt, um mich zu vergiften. Der Gedanke ließ mich schaudern.
Ich wollte diese Frau nie mehr wiedersehen.
Und verdrängte den Gedanken, dass sich Badou und Falida in ihrer Obhut befanden.
Zwei Tage später – die Wunde auf meiner Hand war tatsächlich abgeklungen – kam Aszulay mich abholen. Badou wartete draußen vor dem Tor, während Aszulay in den Innenhof trat. Ich war gerade dabei, den haik über den Kopf zu ziehen, als Aszulay meinen Namen sagte, und zwar in einem Ton, der mich innehalten ließ.
»Ja?«
Er wirkte merkwürdig, so als fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut. Ich hatte ihn noch nie so erlebt.
»Bist du sicher, dass du mitkommen willst?«
»Aber ja. Warum fragst du?«
»Bei Manon …« Er machte eine Pause, ehe er fortfuhr. »Als ich Badou abgeholt habe …«
»Nein«, sagte ich, und er schwieg. Ich stellte mir das Gespräch vor, das sie geführt hatten. Gewiss hatte Aszulay Manon vorgeworfen, was sie mir angetan hatte. Sie hatten sich gestritten. Und nun wollte Aszulay mir erzählen, was Manon gesagt hatte, wollte mir vielleicht erklären, warum sie es getan hatte. Wahrscheinlich hatte sie ihn auch gefragt, ob ich mitkäme, und gehofft, er würde Nein sagen, ich sei krank. Sie wollte nicht, dass ich mit Aszulay Zeit verbrachte; natürlich war sie eifersüchtig auf mich. Und als sie herausfand, dass ich doch mitkommen würde … Meine dunkle Seite in mir ließ mich die Vorstellung genießen, wie sie wütend wurde, als sie feststellen musste, dass es ihr nicht gelungen war, mir Schaden zuzufügen. Sie sollte ruhig glauben, ich sei stärker als sie.
»Was immer du gerade mit Manon gesprochen hast, ich will es nicht wissen«, sagte ich. »Ich will nicht mehr an Manon und die Sharia Zitoun denken. Wenigstens für zwei Tage, Aszulay. Bitte rede nicht mehr von ihr.«
Eine Weile sah er mich an, als ränge er mit sich, dann nickte er widerstrebend. Wir traten durch das Tor hinaus zu Badou und gingen dann zu dritt durch die Medina. Aszulay hatte sich zwei große Jutesäcke auf die Schultern geladen, und ich trug meine gewebte Schultertasche. Er schlug eine mir unbekannte Richtung ein, und wir gelangten durch ein Gewirr enger Gassen, die ich bislang noch nicht erkundet hatte.
Als wir durch einen überdachten Souk kamen und dann einen Torbogen in der Stadtmauer passierten, spürte ich sofort, dass in diesem Viertel eine andere Atmosphäre herrschte. Die Menschen waren etwas anders gekleidet als in der restlichen Medina; einige der Frauen trugen zwar Kopftücher, aber keine Gesichtsschleier. Die Gebäude waren höher und schmaler, die Türen hatten kunstvolle Verzierungen.
»Wo sind wir, Aszulay?«, fragte ich.
»In der Mellah, dem jüdischen Viertel.« Er sah mich an. »Weißt du etwas über die marokkanischen Juden?«
Ich verneinte. Etienne hatte sie nie erwähnt.
»Melh heißt Salz. Eine Legende besagt, dass es in früheren Zeiten den Juden oblag, nach einem Kampf die Köpfe der enthaupteten Feinde einzusalzen. Anschließend wurden sie dann auf der Stadtmauer aufgereiht.«
Ich runzelte die Stirn und erinnerte mich wieder daran, woher der Dschemma el Fna seinen Namen hatte.
»Heute spielen die Juden, vor allem die Jüdinnen, eine wichtige Rolle für die wohlhabenden Marokkanerinnen. Sie bieten den Frauen, die nie ihre Häuser verlassen dürfen, verschiedene Dienste an. Sie versorgen sie mit hochwertigen Stoffen, nähen ihre Kleider und verkaufen ihnen Schmuck. In den Harems sind jüdische Händler gern gesehen.«
Ich blickte mich in dieser Stadt in der Stadt um und machte eine andere Sprache aus. Als wir an einem Tor vorbeikamen, sah ich in einem Innenhof eine Schar kleiner Jungen Schulter an Schulter auf rauen Holzbänken sitzen. Sie hatten kleine Bücher in der Hand und schaukelten mit dem Oberkörper vor und zurück, während sie mit ihren hohen Stimmen laut vorlasen.
»Schau, Onkel Aszulay, eine Schule«, sagte Badou und zog an meiner Hand, um anzuhalten. »Die Jungen lernen.«
Da Aszulay nicht stehen geblieben war, ließ er meine Hand los und rannte ihm nach. »Nicht wahr, Onkel Aszulay, bald werde ich auch in die Schule gehen?«
Aszulay sagte nichts, doch Badou sah fragend zu ihm empor, während er neben ihm herlief.
»Warum geht er noch nicht zur Schule?«, fragte ich. »Er ist alt genug, oder nicht?« Die Jungen, die ich ab und zu in der Medina gesehen hatte und die zu dritt oder viert meist an der Hand eines älteren Bruders zur Schule gingen, konnten kaum älter als Badou gewesen sein.
Doch Aszulay schüttelte kaum merklich den Kopf, und mir wurde klar, dass ich dieses Thema besser ruhen ließ. »Kommt mit«, sagte er und bog scharf in einen dunklen Durchgang ein. »Mein Lastwagen steht vor der Mauer der Mellah.«
Wir passierten eine Reihe weiterer Torbögen, bis Aszulay schließlich eine weiße Doppeltür aufschloss. In der Garage stand ein Fahrzeug, das wie eine große Kiste anmutete. Es war staubig und verbeult; wie alle Fahrzeuge, die ich in Marokko gesehen hatte, schien es ziemliche Strapazen aushalten zu müssen.
Aszulay verstaute die beiden Säcke auf der Ladefläche, die mit einer Segeltuchplane bedeckt war. Ich ging um den kleinen Laster herum und ließ die Hand über die Stoßstange gleiten.
»Was ist das für eine Marke?«, fragte ich.
Aszulay sah mich über die Kühlerhaube hinweg an. »Ein Fiat-Lastwagen, Baujahr 1925.«
»Ach so, ein Fiat«, sagte ich nickend. »Ich habe noch nie einen Lastwagen dieser Marke gesehen, aber schon darüber gelesen. Wir hatten einen …« Ich hatte sagen wollen, wir hatten einen Silver Ghost, überlegte es mir aber anders. »… ein Auto.«
»Besitzt in Amerika jeder einen Wagen?«, fragte er.
»O nein, bei weitem nicht jeder.«
»Komm, Badou«, sagte er, »steig ein.«
Der Kleine kletterte auf den Fahrersitz, kniete sich hinters Lenkrad und drehte es mit aller Kraft von einer Seite auf die andere. »Schau, Sidonie, schau! Ich fahre.« Er grinste über beide Backen. Sein linker Schneidezahn hing quasi nur noch an einem Faden. Ich lächelte und stellte meine Tasche zu meinen Füßen auf den Boden. Als Aszulay einstieg, rutschte Badou auf der Sitzbank zu mir herüber. Aszulay wickelte das Ende seines Turbans um Mund und Nase und drehte den Zündschlüssel um. Erst hustend, dann dröhnend erwachte der Fiat zum Leben.
Am Stadtrand von Marrakesch hielten wir an. Aszulay ging zu einem Stand und kam mit einer Lattenkiste mit vier Hühnern zurück. Als er sie auf die Ladefläche stellte, die durch die Segeltuchbespannung vom Fahrerhaus getrennt war, protestierten die Hühner laut gackernd.
Als wir die Stadt verlassen hatten und von einer Straße auf eine Karawanenpiste abbogen, fragte ich Aszulay, wie lange die Fahrt dauern würde.
»Fünf Stunden, wenn alles glattgeht.« Seine Stimme klang gedämpft durch den Turban. »Wir fahren in südwestlicher Richtung in das Ourika-Tal. Von Marrakesch aus sind es zwar nicht einmal siebzig Kilometer, aber die Pisten sind nur schwer befahrbar.« Ich sah ihn von der Seite an und genoss den Anblick: ein Blauer Mann, ein Sohn der Sahara, der einen holpernden Lastwagen fuhr, statt ein Kamel zu führen. »Meine Familie wohnt in dem Tal in einem kleinen Dorf.«
Die vorherrschenden Farben an diesem Nachmittag waren Blau, Rot und Weiß: Der Himmel spannte sich klar und riesig über uns, die Erde um uns herum zeigte sich in ihrem typischen rötlichen Braun, und im Hintergrund die schneebedeckten Gipfel des Atlasgebirges. Aszulay entblößte das Gesicht und sang mit leiser, volltönender Stimme ein arabisches Lied, und Badou klatschte rhythmisch dazu und stimmte ein.
Was würde Etienne von mir denken, wenn er mich jetzt sehen könnte?, fragte ich mich. Ich war nicht mehr die Frau, die er in Albany gekannt hatte.
Aber ebenso wenig war er noch der Mann, den ich gekannt zu haben geglaubt hatte.
Ich hatte keine Lust, an Etienne zu denken, und riss mich aus meinen Gedanken, um in Badous Klatschen einzustimmen. Während ich vom Lastwagen auf der schmalen Sandpiste hin und her gerüttelt wurde, kam mir in den Sinn, dass ich mir keineswegs klein vorkam inmitten dieser weiten Landschaft, so wie ich es zunächst erwartet hatte. Im Gegenteil, die Erhabenheit des Himmels und der Berge vermittelten mir nahezu das gegenteilige Gefühl.
Wie Aszulay gesagt hatte, waren die Pisten äußerst tückisch und noch schwieriger zu befahren als die Routen, auf denen ich mit Mustapha und Aziz gereist war. In den hügeligen Ausläufern des Atlasgebirges hatten wir es mit Haarnadelkurven und Geröllfeldern zu tun. Manchmal mussten wir uns einen Weg zwischen Eseln, Pferden oder Kamelen hindurchbahnen. Immer wieder wurden wir von unseren Sitzen emporgehoben oder schwankten zur Seite, sodass Badou ständig zwischen uns hin und her schaukelte. Wenn der Lastwagen mal wieder in eine besonders tiefe Bodenwelle geriet und er auf und ab hüpfte, lachte er ausgelassen.
Nach ungefähr drei Stunden machten wir Halt bei einer Gruppe von Bäumen mit fedrigen Blättern. Aus einer Felsgruppe sprudelte eine Quelle und bildete einen schmalen Bach. Eine Frau und ein Mann – Berber, wie ich ihren unverhüllten Gesichtern entnahm – kauerten am Rand des Wassers und füllten ihre Ziegenhautschläuche. Zwei Esel mit vollen Lastkörben auf dem Rücken verlagerten ungeduldig ihr Gewicht auf den kurzen, kräftigen Beinen, bis man sie endlich zum Bach führte, um sie zu tränken.
Drei kleine Kinder – ein Mädchen und zwei Jungen, einer davon noch ein Kleinkind – plantschten in dem niedrigen Gewässer, und als ich Badou vom Sitz hob, sah ich, dass er sie neugierig beobachtete. Ich ließ haik und Gesichtsschleier im Wagen.
Mit Badou an der Hand ging ich zu dem Bach, wo ich mich ans Ufer kauerte, die Hände wölbte und Wasser zum Mund schöpfte. Badou tat es mir gleich. Dann wusch ich mir das Gesicht, das staubig von der Fahrt war. Ich bemerkte, wie sich Aszulay entfernte; er erklomm eine sanfte Anhöhe und verschwand dahinter. Badou und ich setzten uns an den Bach, und ich nahm Käse, Walnüsse und Brot aus einer gewebten Tasche. Während wir aßen, sah Badou mit ernstem Ausdruck den Kindern zu.
Plötzlich rannte der ältere Junge, der ungefähr in Badous Alter war, auf uns zu und sagte etwas auf Arabisch zu ihm. Badou schüttelte den Kopf. Der Junge lief zu den Eseln zurück, langte in einen der Körbe und brachte eine Orange zum Vorschein. Er kam damit erneut zu uns, kauerte sich vor Badou ins Gras und begann, die Orange zu schälen. Als er fertig war, teilte er die Frucht in zwei Hälften und reichte eine Badou.
Der sah zuerst die Orange und dann mich an. »Nimm sie, Badou«, sagte ich, und er nahm sie aus der schmutzigen Hand des Berberjungen. »Sag Danke!«, forderte ich ihn auf, und er kam murmelnd meiner Aufforderung nach. Ich gab Badou eine Handvoll geschälte Walnüsse und deutete mit einem Kopfnicken zu dem Jungen. Badou reichte sie ihm, und der Junge stopfte alle auf einmal in den Mund. Als er mit vollem Mund etwas sagte, spuckte er einen Teil der Nüsse wieder aus. Badou schüttelte abermals den Kopf, und der Junge sprang zu seinen Geschwistern zurück.
»Willst du nicht mit ihm spielen?«, fragte ich, doch Badou antwortete erneut mit einem Kopfschütteln. Er hatte die Orangenhälfte immer noch nicht gegessen, sondern hielt sie in der Hand. Saft tropfte von seinen Fingern.
Die Kinder hoben Steine vom Ufer auf, warfen sie hoch in die Luft und sahen zu, wie sie ins Wasser plumpsten. Schließlich stand Badou auf und aß die Orange, indem er Scheibe um Scheibe ablöste. Dann hob auch er einen Stein auf und tat es den Kindern gleich. Er warf ihn hoch in die Luft und beobachtete, wie er ins Wasser fiel. Er wiederholte es und näherte sich langsam den Kindern. Mein Herz begann etwas schneller zu schlagen; ich wünschte mir so sehr für Badou, dass er weniger Angst hatte, und hoffte, er würde sich zu ihnen gesellen und wie ein ganz normaler Junge mit ihnen spielen.
Schließlich watete er bis zu den Knien ins Wasser und stellte sich zu den dreien, um wie sie Steine in die Luft zu werfen.
Erleichtert stand ich auf und schlenderte ein Stück weit am Ufer entlang, während ich immer wieder stehen blieb, um einen nassen, in der Sonne glänzenden Stein aufzuheben. Ich blickte zu Badou zurück und sah, dass er noch immer im Wasser stand. Er beobachtete jetzt das Kleinkind, das sich inzwischen von den älteren Geschwistern entfernt hatte und sich an das Gewand seiner Mutter klammerte, während sie geschäftig hin und her ging. Ich fragte mich, wo Aszulay abgeblieben war.
Kurz darauf rief die Mutter die beiden älteren Kinder zu sich, und sie stiegen aus dem Wasser und liefen zu der Stelle, wo sie Essen ausgebreitet hatte.
Badou sah sich suchend nach mir um. Als er mich entdeckte, kam er plantschend durch das Wasser auf mich zu. Er lächelte, und ich sah, wie er mit der Zungenspitze an dem losen Zahn spielte. Als er mich erreicht hatte, bückte ich mich und umarmte ihn. Ein Anflug von Stolz überkam mich angesichts der kleinen Mutprobe, die er bestanden hatte. Er roch nach Orange.
»Komm, lass uns Steine sammeln«, sagte ich, doch das tat er nicht. Stattdessen hielt er sich hinter mir, während ich langsam dem Bachufer folgte, und klammerte sich an meinem Kaftan fest.
Schließlich setzten wir uns in den Schatten der Bäume. Die Familie hatte fertig gegessen, und der Vater hielt in der Sonne ein Nickerchen. Die Mutter saß mit dem Rücken an einen Baum gelehnt und hielt das jüngste Kind in den Armen; der Kleine war an ihrer Schulter eingeschlafen. Die anderen beiden Kinder saßen sich im Schneidersitz gegenüber und häuften Steine auf. Die Esel grasten in der kargen Vegetation, die zwischen den Felsen wuchs. Nur das Plätschern des Bachs war zu hören sowie das Rascheln der langen, schlanken Blätter in der sanften Brise und das Rupfen der Esel an den dürren Gräsern.
Badou legte sich hin und bettete den Kopf in meinen Schoß. Als er die Augen schloss, sah ich, wie seine langen Wimpern Schatten auf seine Wangen warfen.
Als Aszulay zurückkam, saßen wir noch immer so da. »Er schläft«, sagte ich leise, eine Hand auf Badous Kopf. »Magst du etwas essen?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir müssen bald wieder los, damit wir nicht so spät ankommen.« Er blickte gen Himmel und wirkte seltsam distanziert; ich vermutete, dass er wegen der noch vor uns liegenden Wegstrecke angespannt war. Er spritzte sich Wasser in Gesicht und Nacken und benässte sich das Haar. In der Sonne hatte es einen blauschwarzen Glanz, und winzige Wassertropfen glitzerten darin. Dann setzte er sich neben uns.
»Du hast vorhin gefragt, warum Badou nicht zur Schule geht«, sagte er und blickte auf den Jungen hinunter. »Aber das ist völlig ausgeschlossen.«
»Aber warum denn?«
»Seine Mutter lässt ihn nicht als Moslem aufwachsen, also gilt er als Ungläubiger und darf weder eine Moschee noch eine madrasa – eine Schule – betreten, wo den Kindern der Koran gelehrt wird. Und eine der französischen Privatschulen in der Ville Nouvelle kann er auch nicht besuchen, weil er offiziell nicht französischer Abstammung ist. Kurz und gut, es gibt keine Schule, in der Badou willkommen wäre.«
»Aber … Manon will doch gewiss, dass er eine Schulbildung bekommt«, sagte ich. »Warum bringt sie ihm nicht wenigstens Lesen und Schreiben bei? Sie ist eine intelligente Frau, das zumindest kann man ihr nicht absprechen.« Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme sarkastisch klang, obwohl ich es nicht wollte. Schließlich hatte ich stets im Hinterkopf, dass er Manon liebte, trotz ihrer Verschlagenheit und grausamen Ader.
Aszulay sah mich an und berührte dann Badou an der Schulter.
»Wir müssen weiterfahren«, sagte er, und Badou stand schläfrig auf.
Wir folgten der Piste die Anhöhe hinauf, die Aszulay zuvor erklommen hatte, und nun sah ich, dass oben ein Friedhof lag. Warum hier, in dieser Einsamkeit des bled?, fragte ich mich. Die kleinen spitzen Steine, die auf dem leicht ansteigenden Feld aus der Erde ragten, erinnerten mich an unregelmäßige Reihen schartiger Zähne.
Je weiter wir fuhren, desto unruhiger und besorgter wurde ich. Was würde Aszulays Frau von mir halten, einer Ausländerin, die mit ihrem Mann und dem Kind einer anderen Frau in ihr Dorf kam? Am liebsten hätte ich Aszulay nach seiner Frau gefragt.
Plötzlich wünschte ich, nicht mitgekommen zu sein. Ich hätte auf die leise Stimme in meinem Kopf hören sollen und auf Manon, als sie verkündete, er habe eine Frau.
»In nicht ganz einer Stunde sind wir da«, sagte Aszulay.
Ich nickte und blickte aus dem Beifahrerfenster.