ZEHN
Zwei Monate nachdem Dr. Duverger mit mir über meine Narbe gesprochen und ich ihm gesagt hatte, dass ich kein Interesse daran hätte, sie operieren zu lassen, meinte ich ihn auf der Straße zu sehen, während ich meine Einkäufe erledigte. Ich hielt den Atem an, weil ich ihm nicht begegnen wollte. Doch als der Mann in ein Schaufenster blickte und ich sein Profil sah, war ich erneut von meiner Reaktion überrascht: Diesmal war ich enttäuscht. Es war nicht der Arzt.
Ich war mir meines Aussehens durchaus bewusst und wollte ihm deswegen aus dem Weg gehen. Andererseits hätte ich nichts gegen ein Wiedersehen gehabt, denn während der letzten Monate waren meine Gedanken zu ihm zurückgekehrt und daran, wie sich seine Berührung auf meinem Gesicht angefühlt hatte.
Meine Narbe war abscheulich und entstellte mich weitaus mehr als mein Hinken. Natürlich entgingen mir die Reaktionen der Leute nicht; sie sahen mich an, um rasch wieder den Blick abzuwenden, entweder weil es ihnen peinlich war, mich angestarrt zu haben, oder aber weil mein Anblick sie abstieß. Ich hatte nie die Aufmerksamkeit anderer Menschen auf mich ziehen wollen, und nun forderte ich sie geradezu heraus. Es stimmte schon, was ich Dr. Duverger gesagt hatte: Ich war überhaupt nicht eitel. Und doch hatte ich mich kürzlich eines Morgens dabei ertappt, wie ich meinem eigenen Spiegelbild auswich, weil ich den Anblick meines Gesichtes nicht ertrug. Wollte ich so durch mein restliches Leben gehen? Sicher, die Narbe war ein furchtbares Mahnmal an das, was ich meinem Vater angetan hatte, doch nun fragte ich mich, ob es unbedingt so sichtbar sein musste. Das Gewicht meiner Schuld trug ich doch in mir. Ich trug sie, als wäre sie ein irdener Topf voller Wasser. Deswegen musste ich behutsam mein Leben führen, um ja keinen Tropfen zu vergießen. Diese Schuld war meine eigene persönliche Bürde, und ich musste sie nicht mit allen teilen, die mich ansahen.
An jenem Abend musterte ich das Gesicht im Badezimmerspiegel. Ich stellte mir vor, wie mein Körper beim Betreten des Krankenhauses reagieren würde. Die Vorstellung ließ meinen Mund noch immer trocken werden und meinen Magen rebellieren. Doch dann rief ich mir Dr. Duvergers Finger auf meiner Wange ins Gedächtnis, wie sie sanft das wuchernde Narbengewebe inspizierten. Seine Augen hatten so besorgt geblickt, und seine einfühlsame Art, sein tiefes Verständnis für meine Gefühle hatten mir gezeigt, dass er ebenfalls seine Eltern verloren hatte.
Wieder sah ich seine rosigen Wangen und seine ebenmäßige Stirn vor mir.
Am nächsten Tag rief ich vom Telefon der Barlows im Krankenhaus an und vereinbarte einen Beratungstermin für eine Operation bei Dr. Duverger. Er fand eine Woche später statt. Ich zog mein bestes Kleid an – es war aus blassgrüner Seide und hatte einen breiten Stoffgürtel – und frisierte sorgfältig mein Haar. Ich ermahnte mich, nicht albern zu sein. Er interessierte sich ja nur für meine Narbe, etwas anderes würde er ohnehin nicht bemerken. Ich war einfach nur eine seiner zahlreichen Patienten; bestimmt behandelte er alle gleich freundlich. Doch all meine Überlegungen fruchteten nichts, denn als er mir die Hand schüttelte, war sie feucht vor Nervosität, und meine Lippen zitterten leicht, als ich ihn lächelnd ansah. Ich hoffte, er hatte es nicht bemerkt.
»Also haben Sie Ihre Meinung geändert?«, fragte er, indem er mein Lächeln erwiderte und mir einen Stuhl anbot.
»Ja. Ich habe ein wenig Zeit gebraucht, nehme ich an. Um darüber nachzudenken.«
Er antwortete nichts.
»Es sei denn, es ist zu spät. Komme ich zu spät? Habe ich zu lange gewartet?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber die Operation ist jetzt mehr aufwendig, fürchte ich, weil viel Zeit vergangen ist. Und, Miss O’Shea, Sie müssen wissen, dass Sie immer eine Narbe haben werden. Aber, wie ich Ihnen schon sagte, sie wird feiner sein, und nach einiger Zeit glatter und ohne eine solche … Farbe. Verfärbung.« Dann begann er, mir die Operation zu erklären, doch ich unterbrach ihn.
»Das muss ich nicht wissen«, sagte ich mit einem entschuldigenden Lächeln. »Tun Sie einfach, was in Ihrer Macht steht, um die Narbe weniger auffällig zu machen.«
Der Operationstermin fand drei Wochen später statt, an einem schwülen Junitag. Dank der Betäubung mit Äther erinnerte ich mich kaum an den Eingriff.
Als ich erwachte, hatte ich einen dicken Verband an der Wange. Dr. Duverger stand an meinem Bett und erklärte mir, ich müsse in zehn Tagen wiederkommen, um die Fäden ziehen zu lassen.
»Diesmal komme ich bestimmt«, sagte ich. Meine Zunge fühlte sich noch immer schwer an von der Narkose. Er lächelte, und ich versuchte, ebenfalls zu lächeln, doch da die Betäubung allmählich nachließ, schmerzte die Wunde.
Zehn Tage später war ich wieder im Krankenhaus und trug abermals mein bestes Kleid. Wieder ermahnte ich mich, mich nicht wie ein Schulmädchen zu benehmen. Mr Barlow bestand darauf, mich zu fahren. »Sie brauchen nicht zu warten«, sagte ich zu ihm, als er mich vor dem Krankenhaus absetzte. »Ich möchte gern zu Fuß zurückgehen. Es ist so ein schöner Tag.«
»Bist du sicher? Es ist eine weite Strecke.«
»Ja.« Beim Wegfahren winkte ich ihm nach.
Während ich auf Dr. Duverger wartete, nahm ich den Stift und den kleinen Zeichenblock aus der Handtasche, die ich immer mit mir herumtrug, und arbeitete an der Skizze, die ich kürzlich begonnen hatte, der Abbildung eines Faulbaumbläulings. In Pine Bush gab es diese Schmetterlinge, die zu den bedrohten Arten zählten, aber man bekam nur selten einen zu sehen. Im Sommer zuvor war es mir endlich geglückt, einen dieser fantastischen kleinen Schmetterlinge auszumachen, deren Flügelspannweite gerade einmal zweieinhalb Zentimeter beträgt. Es war ein männliches Exemplar, was am klaren Azurblau seiner Flügeloberseite zu erkennen war. Ich wusste, dass die Weibchen einen ins Gräuliche spielenden Farbton hatten. Sie hielten sich vornehmlich dort auf, wo wilde Lupinen wuchsen, deren Blüten ebenfalls blau und erbsenförmig waren. Ich wollte einen Faulbaumbläuling malen, während er auf einer Lupine saß, war mir jedoch nicht sicher, ob es mir gelänge, die beiden sich nur leicht unterscheidenden Blauschattierungen richtig herauszuarbeiten. Als Dr. Duverger hereinkam, legte ich Zeichenblock und Stift auf den Stuhl neben mir.
»Nun, Miss O’Shea«, sagte er, »dann werden wir mal das Ergebnis betrachten.«
Ich nickte und fuhr mir mit der Zungenspitze über die Lippen.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich glaube, Sie werden glücklich sein.«
Behutsam entfernte er den Verbandsmull und beugte sich über mein Gesicht, um die Fäden zu ziehen. Sein Gesicht so nah an meinem, wusste ich nicht, wohin ich schauen sollte. Er hatte eine Brille aufgesetzt, und ich konnte mein Spiegelbild in den Gläsern erkennen. Als er kurz von meiner Wange weg- und mir in die Augen sah, senkte ich verlegen den Blick, denn ich wollte keinesfalls den Eindruck erwecken, ich hätte ihn angestarrt. Diesmal nahm ich weder den Geruch von Desinfektionsmittel noch Tabak an ihm wahr, sondern nur den sauberen Duft seines frisch gewaschenen Hemdes und steifen Kragens.
Plötzlich kam mir der Gedanke, dass er womöglich verheiratet war.
Während Dr. Duverger die Fäden zog, war ein leises Klappern zu hören, und ich verspürte ein leichtes Ziehen, das mich gelegentlich wimmern ließ, woraufhin er unbewusst »Pardon« murmelte. Als er den letzten Faden entfernt hatte, lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und musterte mein Gesicht, indem er die Hand unter mein Kinn legte und es einmal nach links und dann nach rechts drehte. Seine Finger waren trocken und warm.
»Oui. C’est bien«, sagte er und nickte. Er hatte unbewusst Französisch gesprochen.
»Sie sind also zufrieden?«, fragte ich.
»Ja.« Wieder nickte er und sah mir diesmal in die Augen. »Es ist eine Erfolg, Miss O’Shea. Guter Erfolg. Und mit der Zeit wird die Narbe noch besser heilen. In einem Jahr wird sie kaum mehr zu sehen sein, sie wird … verblassen. Außerdem Sie können sie bedecken mit …« – er zögerte – »mit Puder oder was die Frauen auf ihre Gesicht tun. Schauen Sie.«
Er reichte mir den Handspiegel.
»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte ich und betrachtete flüchtig mein Gesicht, ehe ich ihm den Spiegel zurückgab. »Für die Operation. Und für … dafür, dass Sie mir dazu geraten haben. Sie hatten recht.«
»Ich bin froh, dass Sie es auch so sehen.« Er stand auf, und ich tat es ihm gleich, sodass wir einander gegenüberstanden. Er sah mich eindringlich an, nicht nur meine Wange, sondern schien mich ganz in Augenschein zu nehmen. Es war nur ein kurzer, aber unbehaglicher Moment, und ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog. Doch diesmal war die Reaktion meines Körpers nicht verbunden mit dem Gefühl der Übelkeit, das mich sonst immer überkam, wenn ich das Krankenhaus betrat. Diesmal fühlte es sich anders an.
»Gut«, sagte ich, um das Schweigen zu unterbrechen, das unangenehm, aber irgendwie auch spannungsgeladen war, und im selben Moment sagte Dr. Duverger: »Très bien«, wie als Echo meiner Worte.
Wir schmunzelten beide, dann sagte Dr. Duverger: »Es ist ein guter Tag, Mademoiselle. Bitte rufen Sie an, wenn Sie eine Frage haben, aber ich denke, es wird keine Komplikationen mehr geben.« Kurz darauf wiederholte er sich: »Aber, bitte, falls Sie eine Frage haben … oder Schmerzen … dann rufen Sie an, oui?«
»Oui«, erwiderte ich zustimmend.
Während ich an dem warmen Vormittag nach Hause spazierte, dachte ich darüber nach, welche Wirkung der Arzt auf mich hatte. Ich versuchte, mir über die Empfindungen klar zu werden, die mich bestürmten, während ich so nah vor ihm stand, im Hintergrund die Geräuschkulisse des Krankenhauses. Derartige Gefühle hatte ich nicht mehr gehabt, seit … Ich hielt inne und dachte darüber nach. Hatte ich überhaupt je so empfunden? Ich rief mir meine Jugend ins Gedächtnis und die Fantasien, die ich in Bezug auf Luke McCallister gesponnen hatte. Doch damals war ich ein albernes junges Mädchen gewesen und nicht die erwachsene Frau, die ich nun war, die ein ruhiges, beschauliches Leben führte, in dem kein Platz war für wunderliche Tagträumereien.
Ich bildete mir alles nur ein. Dr. Duverger hatte mich gar nicht einen Moment zu lange angeschaut und die gleiche Verwirrung erkennen lassen, wie ich sie empfand.
Ich bildete mir alles nur ein.
Als ich am Abend des folgenden Tages die Vordertür öffnete, um Zinnober hinauszulassen, sah ich, wie ein Wagen vor dem Haus hielt. Ich wollte die Tür gerade wieder schließen, da sah ich Dr. Duverger aussteigen.
Sein Besuch war so überraschend, dass ich gar nicht dazu kam, über meine Gefühle nachzudenken. Während er den Gartenweg entlangkam, bemerkte ich, dass er meinen Zeichenblock in der Hand hielt.
»Sie haben das hier vergessen«, sagte er, die Stufen heraufkommend. »Ich habe Ihre Adresse in Krankenakte gefunden und gesehen, dass ich in der Nähe einen Patienten besuchen muss. So habe ich gedacht, dass ich Ihnen das hier bringe.« Er hielt mir den Block hin.
»Vielen lieben Dank«, sagte ich und nahm ihn. »Ich habe ihn heute Morgen schon gesucht, konnte mich aber nicht mehr erinnern, wo ich ihn liegen ließ … Ich arbeite gerade an einem Bild, das mir nicht so recht gelingen will, und …« Ich redete zu schnell, plapperte einfach drauflos, nur um etwas zu sagen. »Wie gesagt, vielen Dank. Es ist äußerst nett von Ihnen, einen Umweg zu machen und mir den Zeichenblock zu bringen.«
»Ich habe mir Ihre Arbeiten angeschaut«, sagte er und sah zu Boden. Mein Blick folgte ihm, und ich bemerkte, dass Zinnober ihm um die Beine strich. Er schaute mich wieder an. »Sie sind sehr gut. Ihre Arbeiten.«
»Danke. Aber es sind ja nur Skizzen«, sagte ich verlegen und gleichzeitig erfreut bei dem Gedanken, dass er durch die Seiten geblättert hatte.
»Aber Sie lieben es zu …« Er unterbrach sich. »Mein Englisch«, sagte er und befeuchtete die Lippen. »Aber Sie mögen es zu zeichnen. Sie haben wirklich … Talent.«
»Nochmals danke.« Ich kam mir lächerlich vor, indem ich immer nur wieder »Danke« sagte, und suchte fieberhaft nach einem anderen Thema. Es wäre mir angenehmer gewesen, wenn er auf meine Narbe zu sprechen gekommen wäre. Aber das tat er nicht, und ich fuhr nervös mit den Fingern über den Rücken meines Zeichenblocks.
»Hätten Sie vielleicht Lust, hereinzukommen und eine Tasse Kaffee zu trinken?«, fragte ich, um das peinliche Schweigen zu unterbrechen. Kaum hatte ich die Worte gesprochen, bereute ich sie auch schon wieder. Was tat ich da? Was, wenn er nun höflich ablehnte? Aber mindestens ebenso unangenehm wäre es, wenn er sie annahm.
»Ja, ich würde gern einen Kaffee trinken. Merci«, sagte er, und mir blieb nichts anderes übrig, als ihn hereinzubitten.
Nachdem er weggefahren war, saß ich auf der Veranda und starrte die Straße hinunter. Mit meinen neunundzwanzig Jahren war ich zum ersten Mal in meinem Leben allein mit einem Mann in meinem Haus gewesen, abgesehen von meinem Vater oder dem Nachbarn. Als Dr. Duverger mir durch das Wohnzimmer in die Küche gefolgt war, raste mein Herz, und mein Hals war wie zugeschnürt. Als er dann am Küchentisch saß und ich Kaffee kochte, spürte ich, dass Dr. Duverger an diesem Tag irgendwie anders war. Binnen weniger Sekunden wurde mir klar, dass seine ruhige, professionelle Art, die er im Krankenhaus – dem Ort, an den er zu gehören schien und der ihm vertraut war – an den Tag legte, einer gewissen Beklommenheit gewichen war. Kaum hatte er meine Veranda und dann das Haus betreten, schien er sich unbehaglich zu fühlen, und sein Englisch wurde stockender, doch seine Miene ausdrucksstärker. Als Arzt mit Stethoskop und Krankenakte hatte er alles unter Kontrolle. Doch fern des Krankenhauses erkannte ich an ihm eine Unsicherheit, wie auch ich sie empfand, wenn ich aus der Geborgenheit der Juniper Road heraustrat. Ihn so zu erleben verlieh mir seltsamerweise ein ungekanntes Selbstvertrauen.
Er ist Arzt, aber ansonsten ist er auch nur ein Mann, sagte ich mir.
Er stellte mir noch ein paar Fragen zu meinen Skizzen in meinem Zeichenblock, und da ich bemerkte, wie sehr er auf Englisch um die richtigen Worte rang, bot ich ihm an, Französisch zu reden, falls ihm das lieber sei. »Ihr Französisch ist zwar anders als das meiner Mutter«, sagte ich, »und da ich es seit ihrem Tod vor sechs Jahren nicht mehr gesprochen habe, würde ich gern auf Englisch antworten, aber ich höre es wirklich sehr gern.«
Er nickte und nippte lächelnd an seinem Kaffee. »Obwohl ich jeden Tag Englisch spreche und normalerweise auch keine Probleme damit habe, gibt es doch … Situationen, in denen mir die Worte einfach nicht so leicht über die Lippen gehen.« Und dieses kleine Geständnis verstärkte mein Selbstvertrauen noch. Machte ich ihn nervös, so wie er mich nervös machte, und wenn ja, warum?
Wir unterhielten uns noch ein wenig über meine Malerei, dann fragte ich ihn, woher aus Frankreich er komme, und er sagte, er habe in Paris Medizin studiert.
In Amerika lebte er seit etwas mehr als fünf Jahren, erklärte er.
Nach einer halben Stunde und zwei Tassen Kaffee stand er auf. »Danke für den Kaffee.«
Ich folgte ihm zur Haustür. Er zog sie auf, drehte sich aber auf der Schwelle nochmals zu mir um und sah mich an. Plötzlich konnte ich kaum mehr atmen.
»Ich bin sehr froh, dass Sie sich zur Operation entschlossen haben«, sagte er. »Nun werden Sie wieder so schön sein wie vor Ihrem Unfall.«
Ehe ich antworten konnte, ging er in die einsetzende Dämmerung hinaus. Nachdem er die Wagentür geöffnet hatte, blickte er zu mir zurück. »Vielleicht werden wir wieder einmal einen Kaffee zusammen trinken!«, rief er, und da ich seinem Ton nicht entnehmen konnte, ob es eine Frage oder eine Feststellung war, nickte ich nur. Hinterher schalt ich mich, dass ich nicht fröhlich gelächelt oder »Ja, gern!« gesagt hatte, so als wäre es für mich etwas Alltägliches, von einem französischen Arzt auf einen Kaffee eingeladen zu werden.
Ich blickte den Scheinwerferlichtern seines Wagens nach, bis sie verschwunden waren, und blieb auf der Veranda sitzen, während sich um mich herum die Dunkelheit herabsenkte.
Schön, hatte er gesagt. Nun werden Sie wieder so schön sein wie vor Ihrem Unfall. Als ich versuchte, mir seinen Ausdruck in Erinnerung zu rufen, während er die Worte sprach, gelang es mir nicht, oder besser gesagt, gelang es mir nicht, ihn zu deuten.
Gewiss hatte der Arzt diese Worte geäußert – und nicht der Mann –, der zufrieden war mit seinem Werk. Ganz bestimmt, denn schön war ich auch ohne Narbe nicht gewesen.
Ich ging ins Haus zurück, knipste das Licht über dem Badezimmerspiegel an und betrachtete mein Gesicht, während ich mit der Fingerspitze die neue Narbe nachzeichnete, die noch immer rosa, aber wesentlich zarter war als vor der Operation.
Vielleicht werden wir wieder einmal einen Kaffee zusammen trinken. Hatte er das einfach so dahingesagt, wohl wissend, dass es nie eintreffen würde, oder hatte er es ehrlich gemeint?
Ich knipste das Licht aus, sodass mein Gesicht nur noch als vages Oval zu sehen war.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich die Worte oder Gesten eines Mannes deuten sollte.
Während der nächsten vier Tage war ich nervös und unruhig. Es widerstrebte mir sogar, auch nur zum Lebensmittelladen zu gehen, aus Angst, Dr. Duverger könnte vorbeischauen, wenn ich nicht zu Hause war. Jeden Tag zog ich eines meiner beiden guten Kleider an – entweder das blassgrüne Seidenkleid oder ein pflaumenfarbenes, das die Taille betonte –, und immer wieder überprüfte ich meine Frisur. Über den Esszimmertisch breitete ich eine gestärkte Spitzendecke. Ich backte einen Gewürzkuchen. Wann immer ich ein Motorengeräusch oder das Zuschlagen einer Wagentür zu hören meinte oder mir einbildete, Schritte auf dem Gartenweg zu vernehmen, begab ich mich zum Wohnzimmerfenster, das zur Straße hinausging.
Am fünften Tag hatte ich mein teenagerhaftes Benehmen dermaßen satt – natürlich hatte Dr. Duverger es nicht ernst gemeint, als er davon sprach, wir könnten uns wieder einmal auf einen Kaffee treffen –, dass ich den trocken gewordenen Kuchen in Scheiben schnitt und die Vögel vor dem Fenster damit fütterte. Ich zog die Spitzendecke vom Tisch und faltete sie ärgerlich zu einem ordentlichen Quadrat, ehe ich sie wieder im Wäscheschrank verstaute.
Dann streifte ich mir ein altes Hemd von meinem Vater über, schlüpfte in einen Overall mit erdverkrusteten Knien und rollte die Hemdsärmel hoch. Ich flocht mein Haar zu einem lockeren Zopf und ging in den Hintergarten hinaus, um Unkraut zu jäten. Nachdem ich den Garten während der vergangenen Wochen in der feuchten, alles beschleunigenden Sommerhitze ziemlich vernachlässigt hatte, war er ziemlich verwildert. Ich hackte und riss büschelweise Unkraut aus und rückte Disteln und Winden grimmig zu Leibe. Die Sonne schien warm auf meine nackten Arme, und es war wohltuend, die harte Erde umzugraben und zu sehen, wie das Grünzeug unter der Hacke willig nachgab. Ich war wütend auf Dr. Duverger, weil er mir zu verstehen gegeben hatte, er fände mich immerhin so interessant, dass er mich wiedersehen wollte. Aber mindestens ebenso wütend war ich auf mich selbst, weil ich vier Tage mit Tagträumen vergeudet hatte.
Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen, und rief mir stattdessen die delikaten Flügel des Faulbaumbläulings vor Augen. Und nahm mir vor, Mr Barlow zu bitten, mich an einem der kommenden Tage nach Pine Bush zu fahren. Und Ockergelb zu kaufen, das allmählich zur Neige ging.
Bei diesem Gedanken unterbrach ich meine Arbeit und hielt, auf die Hacke gestützt, einen Moment lang inne. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass meine Gedanken nicht länger vom Tod meines Vaters beherrscht wurden. Er war noch immer gegenwärtig, doch die überwältigende Traurigkeit ließ, zumindest in gewissen Stunden, allmählich nach.
Ich nahm das Jäten wieder auf.
»Ich habe geklopft, aber es kam keine Antwort.«
Als ich mich erschrocken umdrehte, sah ich Dr. Duverger am Gartenrand stehen. Er hatte Französisch gesprochen.
»Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe, Mademoiselle O’Shea. Wie gesagt, ich habe geklopft … dann habe ich ein Pfeifen gehört.«
»Pfeifen?« Ich hätte ihm gern auf Französisch geantwortet, fürchtete jedoch, mich zu blamieren, weil es ziemlich eingerostet und so anders war als seine Hochsprache. Weniger kultiviert.
»Wenn ich mich nicht irre, war es Grieg. ›Solvejgs Lied‹, nicht wahr?«
Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich gepfiffen hatte.
»Mademoiselle O’Shea? Nun, offensichtlich störe ich Sie bei der Arbeit …«
»Nein, nein, Dr. Duverger, ich …« Ich rollte die Ärmel herunter, nachdem ich gesehen hatte, dass meine Unterarme und Hände mit Erde verschmiert waren. »Ich hatte einfach niemanden erwartet.« Wenige Augenblicke zuvor war ich noch wütend gewesen auf ihn, doch nun war ich glücklich, dass er gekommen war. Aber auch aufgeregt.
»Ich weiß, es ist unhöflich, einfach so vorbeizuschauen. Aber während der letzten Tage habe ich ziemlich viele Überstunden gemacht und heute überraschend ein paar Stunden freibekommen. Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass ich bei Ihren Nachbarn anrief, um sie zu bitten, Sie ans Telefon zu holen, doch es war niemand da. Also bin ich aufs Geratewohl …«
Ich schluckte, als mir meine zerzausten Haare und mein unförmiger Overall bewusst wurden. Schnell wischte ich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn. Dr. Duverger hingegen sah aus, als ob ihm die Hitze nichts anhaben konnte, mit seinem frischen Hemd unter dem luftigen Leinenjackett.
»Aber das ist doch in Ordnung, wirklich. Ich muss nur kurz die Hände waschen und mich umziehen«, sagte ich.
Er deutete auf die zwei alten Gartensessel aus Holz im Schatten einer Linde. »Das ist nicht nötig. Wir können uns hier draußen hinsetzen. Bitte, bleiben Sie, wie Sie sind. Sie sehen sehr …« – er legte den Kopf schief – »entspannt aus. Ja, sehr entspannt, und wenn Sie erlauben, dieser Aufzug steht Ihnen gut, Sie sehen reizend aus. Abgesehen von meinem letzten Besuch habe ich Sie nur unter weniger glücklichen Umständen erlebt. Oh«, fügte er hinzu, »bin ich zu unverblümt? Ich scheine Sie überrumpelt zu haben.«
Ich lächelte vorsichtig, denn die Narbe verursachte noch immer ein leichtes Spannungsgefühl. Ich wollte den Anschein erwecken, als sei ich es gewohnt, bei der Gartenarbeit von irgendwelchen Männerbesuchen überrascht zu werden, die mir Komplimente machten, als wäre mein Lächeln wieder etwas ganz Normales für mich. »Wie gesagt, Sie haben mich einfach nur überrascht. Ich … ich habe nicht erwartet …« Ich unterbrach mich, weil mir bewusst wurde, dass ich mich wiederholte.
»Also kommen Sie?«, sagte er und deutete mit einer einladenden Geste zu den beiden Gartensesseln. »Ich bleibe nur kurz. Aber dieses Wetter ist so herrlich. Und ich bin froh, aus dem Krankenhaus herauszukommen, auch wenn es nur für ein paar Stunden ist.«
Ich setzte mich auf die Kante des einen Sessels, und er nahm mir gegenüber Platz.
»Stört es Sie, wenn ich mein Jackett ausziehe?«, fragte er.
»Aber nein. Und es ist wirklich ein herrlicher Nachmittag.« Ich rutschte weiter nach hinten in eine bequemere Position. Zinnober, die im Gras Insekten gejagt hatte, gesellte sich zu uns und sprang mir auf den Schoß.
»Wie heißt Ihre Katze?«, fragte er und hängte sein Jackett über die Armlehne. Zum ersten Mal sah ich, dass er breite Schultern hatte.
»Zinnober. Sie ist taub.«
»Der Name passt zu ihr.« Dr. Duverger lächelte mich an.
Ich nickte und grub das Gesicht in ihr Fell, damit er nicht sah, wie mich sein Lächeln berührte.