VIERZEHN
Als kurz darauf Mrs Barlow mit dem Brotlaib an der Küchentür erschien, hatte ich bereits Mantel und Stiefel an. Der Laib war in ein Geschirrtuch eingeschlagen und verströmte einen fruchtigen Hefeduft. »Ich wollte ihn dir bringen, solange er noch warm ist. Oh«, sagte sie, während sie ihn mir hinhielt, »du wolltest gerade weggehen?«
Ich nickte, woraufhin sie sagte: »Ist alles in Ordnung, Sidonie?«
»Ja … das heißt nein. Ich mache mir Sorgen um Etienne – Dr. Duverger. Er hätte schon gestern vorbeikommen sollen.«
»Nun«, sagte sie. »Die Ärzte sind viel beschäftigte Männer, wie man weiß. Bestimmt gibt es einen Grund, warum er nicht erschienen ist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe wirklich Angst, dass ihm etwas zugestoßen ist.«
»Aber warum denn? Weil er eure Verabredung nicht einhielt? Es gibt bestimmt keinen Grund, dir Sorgen zu machen, meine Liebe. Warte doch noch einen Tag ab.«
Ich scheute mich davor, ihr zu sagen, was man mir gerade am Telefon erzählt hatte. Endlich fiel mein Blick auf den Brotlaib, den sie noch immer in der Hand hielt.
Schließlich legte sie ihn auf den Tisch und tätschelte mir die Hand. »Gib ihm etwas Zeit, Sidonie. Er wird bestimmt kommen, sobald er kann.« Sie wandte sich zum Gehen und fügte dann hinzu: »Meine Güte, du ähnelst deiner Mutter von Tag zu Tag mehr.«
Ich wollte Mr Barlow nur ungern bitten, mich ins Krankenhaus zu fahren, weil ich wusste, dass seine Frau meine Sorgen für übertrieben hielt. Aber sie kannte freilich nicht die ganze Geschichte. Etwas musste ihm zugestoßen sein. Es sah ihm nicht ähnlich zu versprechen, dass er kommen würde, und sich dann einfach nicht blicken zu lassen. Besonders nicht, wenn es bei der Verabredung darum ging, unsere Trauung zu organisieren.
Also machte ich mich zu Fuß auf den Weg zum Krankenhaus. Ich brauchte gute anderthalb Stunden, doch nach dem schweren Schneefall war es erstaunlich warm für Mitte Februar, und als ich endlich ankam, war mir heiß.
Ich fragte an der Rezeption nach Dr. Duverger. Irgendwie hoffte ich wohl, ihn allein durch meine physische Anwesenheit herbeizaubern zu können. Doch als ich die gleiche Antwort erhielt, dass er nicht länger im Krankenhaus tätig sei, bat ich, einen seiner Kollegen zu sprechen, deren Namen mir entfallen waren.
»Dr. Hilroy oder Dr. Lane«, sagte die Frau am Schalter.
»Ja. Mit einem von beiden würde ich gern reden.«
Die Frau blickte in einen Terminblock vor sich. »Brauchen Sie einen Termin? Aber vor nächster Woche wird es nicht möglich sein. Ich könnte Ihnen zum Beispiel nächsten Montag um die Mittagszeit einen anbieten.«
»Nein, ich brauche keinen Untersuchungstermin. Ich will einem der Kollegen einfach nur eine Frage stellen, nichts Medizinisches.« Die Frau blickte von ihrem Terminkalender auf und runzelte die Stirn.
»Ich habe wirklich nur eine Frage«, wiederholte ich und ärgerte mich, weil ich mich rechtfertigen musste.
»Nehmen Sie bitte Platz. Dr. Hilroys Schicht ist bald zu Ende. Wenn er fertig ist, werde ich ihm sagen, dass er sich kurz mit Ihnen unterhalten soll.«
Ich zog den Mantel aus, setzte mich und tupfte mir mit den Handschuhen die Stirn ab. Ich fühlte mich krank, die Kleider klebten mir am Leib, und mir war übel. Das Warten kam mir unendlich lange vor, bis endlich ein großer weißhaariger Mann durch die doppelte Schwingtür trat.
»Ich bin Dr. Hilroy«, sagte er, nachdem die Frau am Schalter mit ihm gesprochen hatte. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Ich stand auf und erklärte ihm, dass ich vergeblich auf eine Nachricht von Dr. Duverger gewartet hätte.
»Ich nehme an, Sie sind eine Patientin von ihm. Machen Sie sich keine Sorgen. Dr. Lane oder ich werden uns um Sie kümmern.«
Ich schüttelte den Kopf und räusperte mich. »Es ist so …« Ich befeuchtete mir die Lippen. »Ich war zwar mal Patientin von Dr. Duverger, aber jetzt … bin ich mit ihm befreundet. Eng befreundet«, fügte ich hinzu. »Ich mache mir Sorgen um ihn. Wie gesagt, warte ich auf eine Nachricht von ihm, aber da ich nichts hörte, fürchte ich, dass ihm etwas zugestoßen ist.« Ich hoffte, nicht ganz so verwirrt und am Boden zerstört zu wirken, wie ich mich fühlte. »Natürlich mache ich mir Sorgen.«
Der Arzt runzelte die Stirn. »Es geht ihm bestimmt gut.«
»Glauben Sie nicht, dass ihm etwas passiert ist? Hat jemand Nachforschungen angestellt?«
»Nun, ich weiß nicht, aber ich glaube nicht, dass es einen Grund zu dieser Annahme gibt … Sehen Sie, er hat seine Stelle zwar einen Monat zu früh aufgegeben, aber er hat sich abgemeldet.«
»Einen Monat zu früh? Was meinen Sie damit?«
Dr. Hilroy wirkte, als fürchtete er, zu viel gesagt zu haben, und schüttelte den Kopf.
»Hat er … Wann erwarten Sie ihn zurück?«, fragte ich.
»Wollen Sie nicht wieder Platz nehmen, Mrs …?«
»Nein, danke. Aber es passt überhaupt nicht zu Etienne – zu Dr. Duverger –, so überstürzt zu handeln, da stimmen Sie mir doch gewiss zu. Einfach abzureisen. Vollkommen überraschend. Dafür muss es doch einen Grund geben.«
Dr. Hilroy machte einen noch betreteneren Eindruck. Doch ich beruhigte mich, indem ich mir sagte, dass ich manchmal befremdlich auf Menschen wirkte, auch unter normalen Umständen. »Wie ich sagte, hat er uns einen Monat vor Ablauf seines Jahresvertrages als Gastchirurg verlassen.«
Ich blinzelte. »Sein Vertrag hätte in einem Monat ohnehin geendet? Wohin wollte er danach gehen?«
»Ich habe keine Ahnung von seinen weiteren Plänen. Aber offen gesagt, hat niemand von uns Dr. Duverger näher kennengelernt. Er hat nie von seiner Familie gesprochen, aber ich nehme an, dass sie in Frankreich lebt.«
Ich nickte, versuchte, alles zu verarbeiten, was Dr. Hilroy mir gesagt hatte. Etiennes Familie? Aber … sie waren doch alle tot. »Ist er nach Frankreich gereist?«
Dr. Hilroy trat von einem Fuß auf den anderen und blickte auf seine Uhr; allmählich schien er die Geduld zu verlieren. »Er hat einfach nur erklärt, dass er wegen dringender Familienangelegenheiten nicht länger bleiben könne und nach Hause zurückkehren müsse.«
Nach Hause zurückkehren. Familienangelegenheiten. Ich dachte, ich hätte die Worte lautlos vor mich hin gemurmelt, doch der Arzt musste sie gehört haben, denn er sagte: »Ja. Also dann, auf Wiedersehen, Mrs … Ma’am.«
»Gibt es also keine Möglichkeit, wie man ihn erreichen kann? Hat er keine Adresse hinterlassen?« Es war mir jetzt gleich, wenn man mir meine Verzweiflung anmerkte. Mochte dieser Mann von mir denken, was er wollte.
Plötzlich sah Dr. Hilroy nach unten, und mein Blick folgte ihm. Da bemerkte ich, dass meine Hände seine umklammerten. Ich ließ sie los und trat einen Schritt zurück. Er begann, auf den Zehenspitzen zu wippen.
»Nein, tut mir leid.« Ein leiser Aufschrei entwich mir, und ich starrte Dr. Hilroy an, sodass ich mein Spiegelbild in seinen Augen ahnte.
Ich hatte das nächstbeste Kleid angezogen, das mir unter die Finger kam, und mein Haar … ich wusste nicht einmal, ob ich es gekämmt hatte. Plötzlich erinnerte ich mich daran, wie blass und ausgehöhlt mein Gesicht gewesen war, als ich in der vergangenen Nacht in den Spiegel geblickt hatte. Der Arzt musste von mir denken, ich sei eine Geisteskranke.
»Es tut mir leid«, sagte er nochmals.
»Gibt es nichts, gar nichts, was Sie mir noch sagen könnten?« Ich hörte den flehenden Ton in meiner Stimme. »Können Sie mir die Adresse nennen, wo er gewohnt hat? Es war ein Wohnheim in der Nähe, das weiß ich.«
Das weiß ich. Die Worte riefen mir ins Bewusstsein, wie wenig ich wusste.
Dr. Hilroy legte die Stirn in Falten. »Ich glaube nicht, dass ich diese Information herausgeben sollte.«
»Ich bin Miss O’Shea.« Ich zwang mich, mich gerade hinzustellen, wusste, dass ich so nicht weiterkam. Mir war nicht entgangen, wie irritiert Dr. Hilroy durch mein Verhalten war. In ruhigem Ton sprach ich weiter. »Miss Sidonie O’Shea. Sie können meinen Namen in der Krankenhausakte nachsehen, um festzustellen, dass ich letztes Jahr Dr. Duvergers Patientin war. Und ich weiß nicht, warum es ein Problem sein sollte, wenn Sie mir die Adresse des Wohnheims nennen. Wenn Dr. Duverger tatsächlich Albany verlassen hat, spielt es ohnehin keine Rolle mehr, nicht wahr?«
Er musterte mich einen Augenblick lang.
»Bitte«, sagte ich beinahe flüsternd, doch er schüttelte nur den Kopf und ging zum Schalter hinüber, wo er leise mit der Rezeptionistin sprach, während er verstohlen zu mir herübersah. Dann winkte er mich an den Schalter, ging jedoch weg, ehe ich ihn erreichte und den Zettel ergriff, den die Dame mir hinhielt.
Das Haus, in dem Etienne gewohnt hatte, befand sich zehn Häuserblocks vom Krankenhaus entfernt. Ich redete mir ein, dass er bestimmt noch da war, dass er Albany noch nicht verlassen hatte. Er würde mich nicht einfach zurücklassen, vor allem nicht unter diesen Umständen. Er hatte gesagt, er würde mich heiraten. Er hatte von unserem Kind gesprochen.
Bestimmt wäre er nicht nach Frankreich abgereist, ohne vorher mit mir gesprochen zu haben. Ohne mir zu sagen, was geschehen war – welche Familienangelegenheiten ihn so dringend zur Abreise zwangen. Und wann er wieder zu mir zurückkehren würde.
Das Ziegelsteinhaus war hoch und schmal und machte einen gepflegten Eindruck; der cremefarbene Anstrich von Fenstern und Türen schien erst vor kurzem erneuert worden zu sein. In einem der vorderen Fenster stand ein Schild, auf dem zu lesen war: Möblierte Zimmer zu vermieten. Ich sagte mir, das Haus müsse viele Zimmer haben und das Schild sich nicht unbedingt auf Etiennes Räume beziehen.
Ich betätigte den Türklopfer, und eine ältere Dame in einem ordentlich gebügelten braunen Kleid mit Spitzenkragen öffnete.
»Tur mir leid«, sagte sie sogleich. »Die Zimmer sind noch nicht gereinigt worden. Wenn Sie vielleicht in ein paar Tagen wiederkommen könnten. Ich kann Ihnen aber …«
»Nein«, sagte ich, indem ich sie unterbrach, und atmete tief ein. »Ich suche keine Zimmer, sondern bin eine Freundin von Etienne Duverger.«
»Er wohnt nicht mehr hier.« Schon wieder machte sie Anstalten, die Tür zu schließen, doch ich stemmte die Hand dagegen.
»Ich weiß.« Wieder stieg Panik in mir auf. »Ich weiß, aber …« Ich sah ihr ins Gesicht. »Er hat mich gebeten, vorbeizukommen und nachzusehen, ob er einen schwarzen Aktenkoffer stehen hat lassen.« Ich war selbst verwundert, dass mir dieser Satz so schnell eingefallen war. Meine Verzweiflung musste ihn mir eingegeben haben, denn ich wollte – musste – unbedingt Etiennes Zimmer sehen. Ich musste mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass er abgereist war.
»Einen Aktenkoffer?«
»Ja. Schwarz mit einer Messingschließe. Er bedeutet ihm sehr viel, deshalb bat er mich … wie ich Ihnen bereits sagte, herzukommen und danach zu suchen.« Ich drückte die Tür auf und trat in den Flur. Der Geruch nach gekochtem Rindfleisch hing in der Luft. Etienne hatte tatsächlich einen solchen Aktenkoffer besessen; ich hatte ihn auf dem Rücksitz seines Wagens gesehen, als er mich zur Klinik fuhr. Das wenigstens entsprach der Wahrheit.
»Nun, es würde mich nicht überraschen, wenn der Doktor etwas vergessen hätte. Er ist völlig überstürzt abgereist.«
»Ich brauche nicht lange, wenn Sie mir nur sagen, wo ich seine Zimmer finde.« Wieder blickte ich der Frau fest in die Augen.
»Nun gut.« Die Frau drehte sich um und zog die Schublade einer Kommode auf, die im Flur stand, und reichte mir dann einen Schlüssel. »Im ersten Stock auf der linken Seite, die erste Tür. Es sind zwei miteinander verbundene Zimmer.«
»Danke«, sagte ich und ging die Treppe hinauf. »Oh« – ich drehte mich nochmals zu ihr um –, »hat Dr. Duverger daran gedacht, Ihnen seine Adresse zu hinterlassen, um ihm seine Post nachschicken zu können?« Ich bemühte mich, meiner Stimme einen möglichst beiläufigen Ton zu verleihen, konnte aber mein Herz pochen hören.
»Nein. Aber er hat ohnehin nur ein, zwei Briefe erhalten, in der Zeit, als er hier wohnte. Aus dem Ausland.«
Ich nickte, doch als ich den Fuß auf die nächste Stufe setzte, fügte sie hinzu: »Einen hat er nur wenige Tage vor seiner Abreise bekommen.« Wieder hielt ich inne und blickte zu ihr zurück. »Die gleichen ausländischen Briefmarken«, fügte sie hinzu.
Ohne zu antworten, eilte ich weiter die Treppe hoch, bis ich den ersten Stock erreichte. Außer Sichtweite dieser Frau hielt ich inne und lehnte mich an die Tür. Ich atmete tief ein. Schließlich richtete ich mich wieder auf und steckte den Schlüssel ins Schloss.
Im ersten Zimmer waren die Jalousien heruntergelassen, und die Luft roch abgestanden. Es war einfach möbliert mit einer gesteppten Couch, zwei Stühlen mit geraden Lehnen sowie einem robusten Schreibtisch mit drehbarem Holzstuhl. Auf dem Schreibtisch lag ein Papierstapel. Ich schloss die Tür, durchquerte den Raum und zog die Jalousie hoch. Blasses Licht flutete in das Zimmer, und in den matten Lichtstreifen tanzten Staubkörner. Ich kämpfte mit dem Schiebefenster, doch schließlich gelang es mir, es so weit hochzuschieben, dass ein wenig kühle Luft hereinströmte, die das Papier raschelnd bewegte und den Raum mit frischem Duft erfüllte.
Durch die offene Tür des angrenzenden Zimmers erblickte ich ein ordentlich gemachtes Bett mit einer Piquétagesdecke.
Ich setzte mich in den Stuhl hinter dem Schreibtisch und durchsuchte mit zitternden Fingern den Papierstapel. Aber es handelte sich nur um eine Studie über Halskrankheiten. Ich zog die Schublade auf der rechten Seite auf. Bis auf eine Brille war sie leer. Ich nahm sie und fuhr mit dem Finger über die dünne Fassung. Ich stellte mir vor, wie Etienne hier gesessen hatte, während er mit der Fingerspitze abwesend auf den Brillensteg klopfte.
»Etienne«, flüsterte ich. »Wo bist du? Was ist passiert?«
Ich legte die Brille auf den Schreibtisch und zog nacheinander die anderen Schubladen auf. Abgesehen von den üblichen Schreibtischutensilien – Büroklammern, einem halb leeren Tintenfass, einigen Stiften mit zerkauten Enden – waren sie leer.
Ich blickte unter den Schreibtisch, wo ein Papierkorb stand. Er enthielt ein zusammengeknülltes Blatt Papier und ein leeres Tablettenfläschchen. Ich glättete das Blatt und sah, dass es nur das Einwickelpapier einer Pfefferminzpackung war. Das Etikett der Tablettenflasche zeigte den unaussprechlichen Namen Oxazolidin und Etiennes Namen, auf den die Arznei verschrieben worden war. Die Fläschchen mit seinem Schmerz- und Schlafmittel kannte ich. Doch er hatte auch noch eines mit einer anderen Sorte Pillen gehabt, die er manchmal morgens genommen hatte, ehe er ins Krankenhaus fuhr. Um mir den langen Arbeitstag über die Konzentration zu erhalten, hatte er beiläufig erklärt. Doch diese Flasche hatte ich noch nie bei ihm gesehen.
Ich verstaute die Brille und das leere Medikamentenfläschchen in meiner Handtasche. Ich brauchte etwas, egal was, das Etienne gehört hatte. Dann lehnte ich mich auf dem Stuhl zurück und schloss in einem jähen Anflug von Erschöpfung und Verzweiflung die Augen.
Doch ehe ich nach Hause ginge, musste ich erst noch den anderen Raum betreten. Hier wehte ein beharrlicher Luftzug durch einen Riss im Schieberahmen. Bis auf das Bett, eine Ankleidekommode und einen Schrank war der Raum leer. Wieder untersuchte ich jede einzelne Schublade, ohne etwas zu finden. Auch der Schrank enthielt nichts. Doch gerade als ich mich wieder abwenden wollte, entdeckte ich ein Buch auf dem Schrankboden. Es war der Band über berühmte amerikanische Aquarellmaler, den ich Etienne zu Weihnachten geschenkt hatte. Mehr als einmal hatte er gesagt, dass er über die andere Seite des Lebens, die nichts mit Wissenschaft zu tun hatte, zu wenig wusste und er sich gern ein paar Kenntnisse angeeignet hätte.
Irgendwie überkam mich beim Anblick des zurückgelassenen – verlassenen – Buchs ein unbeschreiblicher Schmerz, und ich sank auf die Knie und starrte es an. Ich hob es hoch und fuhr mit den Fingern über den Einband. Nur wenige Seiten vom Anfang entfernt ragte am oberen Rand ein Stück Papier heraus, ein Lesezeichen, wie ich vermutete. Ich schlug das Buch an dieser Stelle auf und entdeckte ein kleines, gefaltetes Stück Papier, so dünn, dass die Schrift hindurchschimmerte.
Noch immer auf den Knien, schob ich das Buch aus meinem Schoß auf den Boden und faltete das Blatt auseinander. Es war zerknittert, als wäre es immer wieder zusammen- und auseinandergefaltet worden. Die zarte, mit feiner Federspitze geschriebene Handschrift war in Französisch und so delikat, dass sie vermutlich von einer Frau stammte. Ich starrte auf den Brief und hörte meinen flachen Atem. Ich spürte, wie sich unter meinen Achseln und am Rücken Schweiß sammelte und trotz der kalten Luft das Wollkleid an mir klebte.
Marrakesch, 3. November 1929
Mein lieber Etienne,
wieder einmal schreibe ich dir. Obwohl du auf keinen meiner Briefe geantwortet hast, flehe ich dich erneut und mit noch größerer Verzweiflung an, uns nicht im Stich zu lassen. Ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, dass du dir nach all dieser Zeit – es sind nun mehr als sieben Jahre, seit du zuletzt zu Hause warst – ein Herz fassen und mir vergeben wirst. Ich weiß, dass du ein gutes und liebendes Herz hast …
Nie werde ich aufhören, dich anzuflehen, mein lieber Bruder. Bitte, Etienne, komm nach Hause, zu mir, nach Marrakesch.
Manon
Das Dünndruckpapier in meiner Hand zitterte heftig.
Manon.
Komm nach Hause, hatte sie geschrieben, nach Marrakesch.
Wieder sah ich auf den Brief hinunter. Mein lieber Bruder. Es sind nun mehr als sieben Jahre. Manon war seine Schwester … aber er hatte mir doch nur von Guillaume erzählt. Es gibt niemanden mehr in Marrakesch, hatte er gesagt.
Zu viele Geheimnisse. Zu viel, was ich nicht verstand. Hatten die dringenden Familienangelegenheiten, die er dem Krankenhaus als Grund für seine verfrühte Abreise genannt hatte, mit diesem Brief zu tun? Hatte er mich seiner Schwester willen ohne ein Wort verlassen – so wie er das Buch zurückließ?
»Haben Sie den Aktenkoffer gefunden?«, fragte eine Stimme, und als ich den Kopf drehte, erblickte ich ein Paar derbe Schnürschuhe. Ich sah zu ihr hoch.
Die Frau in dem braunen Kleid starrte mich an.
Den Brief umklammernd, stand ich auf. »Nein«, sagte ich und schob mich an ihr vorbei.
Während ich die Treppe hinabhumpelte und mich am Handlauf festhielt, um nicht zu stürzen, rief die Frau mir nach. »Wie war noch mal Ihr Name?«
Ich antwortete nicht, sondern ging durch die Tür hinaus, ohne sie zuzumachen.
Von einer unbändigen Verzweiflung getrieben, wollte ich nur noch nach Hause. Ich floh, als wäre eine Meute Bluthunde hinter mir her. Ich wusste nur noch, dass ich in der Sicherheit meiner vier Wände sein wollte, wo ich den Brief wieder hervorziehen und ihn wieder und wieder lesen konnte, um zu versuchen, irgendeinen Sinn darin zu entdecken.
Der Brief war mein einziges Bindeglied zu Etienne.
Etienne. Mehr als zuvor spürte ich, wie wenig ich ihn kannte.