FÜNFZEHN

Man ist nie darauf gefasst, jemanden zu verlieren. Als meine Mutter starb, trauerte ich; es war eine lange anhaltende, beständige Trauer, aber ich verstand meine Gefühle. Obwohl ich meine Mutter schrecklich vermisste, wusste ich, dass ich weitermachen konnte wie bisher, indem ich mich um den Haushalt und meinen Vater kümmerte. Ihr Tod war unvermeidlich, und instinktiv spürte ich, dass der Schmerz mit der Zeit nachlassen würde, bis er schließlich ganz verblasste.

Als mein Vater starb, empfand ich etwas anderes. Ich ließ mich in einen Strudel aus Schuldgefühlen und Verzweiflung hineinziehen und durchlebte immer wieder von Neuem, wie ich dickköpfig darauf bestanden hatte, ihn zu fahren. Dann den Augenblick, als ich kurz von der Straße wegschaute und das Lenkrad ein klein wenig zu stark nach rechts einschlug. Die Reue nagte an mir, die Endgültigkeit, mit der ich wusste, nie mehr die Gelegenheit zu haben, ihn um Verzeihung zu bitten, mich von ihm zu verabschieden. Nachdem er mir durch ein tragisches Ereignis so jäh und unerwartet entrissen worden war, folgte für mich eine Zeit der blanken Einsamkeit.

Aber das hier war etwas ganz anderes … Was ich an jenem Nachmittag empfand, als ich in die Juniper Road zurückkehrte, war von erschreckender, roher Gewalt. Es brach in Wellen über mich herein, legte sich so schwer auf mich, dass es mich schier erdrückte. Meine Beine wollten mich nicht mehr tragen, und ich musste ein Taxi nehmen.

Die Verwirrtheit erfüllte mich mit einem lauten Dröhnen. Zu Hause angekommen, legte ich mich aufs Bett und starrte die länger werdenden Schatten an.

Ich wusste, dass Etienne mich liebte. Er wollte bei mir – und mit unserm Kind – bleiben. Im Geiste ließ ich so viele gemeinsame Augenblicke Revue passieren und versuchte, irgendeinen Hinweis zu finden, irgendetwas, was mir bislang entgangen war. Deutlich sah ich vor meinem geistigen Auge, wie er mich angesehen, wie er mit mir gesprochen, wie er über eine Äußerung von mir gelacht hatte. Wie er mich berührt hatte. Ich dachte an unser letztes Beisammensein und wie er mir die Hand auf die Taille gelegt und gesagt hatte, er stelle sich vor, wie ich unserem Kind ein Wiegenlied vorsänge.

Nein. In der beginnenden Dunkelheit setzte ich mich auf. Nie hätte er mich absichtlich so mies behandelt. Nie hätte er mich auf diese niederträchtige Weise verlassen. Irgendetwas musste ihm zugestoßen sein, etwas, worüber er die Kontrolle verloren hatte. Es hatte mit einem Geheimnis aus seinem früheren Leben zu tun, vielleicht sogar mit mehr als einem.

Nichts, was er getan oder nicht getan hatte, war unverzeihlich. Ich war bereit, ihm alles zu vergeben. Das sollte er wissen.

Als ich am nächsten Morgen aufstand, fror ich. Meine Glieder waren steif, und mein Kopf war schwer, so als hätte ich Mühe, aus einem schlimmen Albtraum zu erwachen.

Ich war unruhig, ruhelos, wie damals, als mein Vater starb. Von einer seltsamen, elektrisierenden Energie angetrieben, wanderte ich den ganzen Tag lang durch die kleinen Zimmer meines Hauses, und ich wusste, dass ich etwas tun musste, aber nicht, was genau.

Mein Malzimmer war klamm und eisig und kam mir irgendwie ungewohnt vor. Im vergangenen Monat hatte ich nicht gemalt; ich war zu sehr mit meinem neuen Leben beschäftigt gewesen und damit, mir die gemeinsame Zukunft mit Etienne auszumalen.

Hinter mir nahm ich eine leise Bewegung wahr, ehe ich spürte, wie sich Zinnober um meine Fesseln schlängelte und dann auf den Tisch mit meinen Malutensilien hopste. Die Vorderpfoten unter die Brust gezogen, legte sie sich vor mich hin und sah mich mit ihren breiten topasfarbenen Augen an. Mit einem Mal fiel mir auf, wie alt sie geworden war: Ihre Hüftknochen standen ab, und ihre Wirbel zeichneten sich in einer holprigen Linie unter dem Fell ab. Der tiefe Kupferton ihres Fells war einem stumpfen Braun gewichen.

An den Wänden hingen die letzten Bilder, die ich gemalt hatte. Sie waren freundlich und mit Sorgfalt ausgeführt – mit präziser, ruhiger Hand, wie Etienne einmal bemerkt hatte, jeder Pinselstrich bedacht und sicher gesetzt.

Plötzlich war ich unzufrieden mit meinen Arbeiten, unzufrieden mit mir, der Frau, die tatenlos zusah, wie sich ihr Leben ereignete. Die gedacht hatte, dass ihr dieses winzige Grundstück, nichts weiter als eine Stecknadel auf der Erdoberfläche, für den Rest ihres Lebens genügen könnte.

Die Augen halb geschlossen, schlief Zinnober ein.

Während ich die alte Katze betrachtete, dachte ich über mein Leben nach. Ich hatte weder eine reguläre Ausbildung genossen, noch war ich weltgewandt. Auch wenn Etienne mich als schön bezeichnet hatte, machte ich mir keine Illusionen über meine äußere Erscheinung. Ich war schlank, hatte große Augen, die unter den dichten, gewölbten Augenbrauen neugierig in die Welt blickten. Mein dickes, lockiges Haar war schwer zu bändigen, nicht für eine dieser modischen, raffinierten Haarschnitte geeignet, die ich an modernen Frauen sah. Dickköpfig hatte ich mich geweigert, es zu einem Bop frisieren zu lassen, wie er zurzeit in Mode war.

Mit meinen dreißig Jahren war ich nicht mehr jung. In manchen Gesellschaften galt eine Frau wie ich fast schon als alt. In den Augen der Menschen, die mich in Albany kannten, war ich wahrscheinlich so etwas wie eine alternde Jungfer.

Ich ging ins Badezimmer und betrachtete mich in dem fleckigen Spiegel über dem Waschbecken. Mein normalerweise gebräunter Teint wirkte aschfahl, und der stumpfe Farbton meiner Lippen passte zu den halbmondförmigen Schatten unter den Augen. An den Schläfen machten sich erste blassere Strähnen bemerkbar. Zwar noch nicht grau oder weiß, aber es sah aus, als würde mein ansonsten tiefschwarz glänzendes Haar allmählich verbleichen. War das schon seit längerem so, und ich hatte mich einfach geweigert, es zu sehen? Und was meine Augen betraf, so sah ich nichts in ihnen. Ihre Farbe hatte einen unbestimmten Ton angenommen. Geheimnisvoll hatte Etienne sie einmal genannt. Deine Augen sind geheimnisvoll, Sidonie. Geheimnisvoll und, so wie du, unergründlich wie der Frühnebel.

Bildete ich mir nur ein, dass er das gesagt hatte?

»Und jetzt?«, sagte ich, und wieder hörte ich einen Laut hinter mir. Ich drehte mich um – Zinnober war mir gefolgt und stand in der Badezimmertür. Sie sah mich an, als wollte sie fragen: Warum setzt du dich nicht einfach hin? Dann kann ich endlich auf deinen Schoß springen.

Ich begab mich zum Wohnzimmerfenster. Hinter der Glasscheibe lag nur die Dunkelheit, nichts als das leise, beharrliche Klopfen des Lindenzweigs war zu vernehmen. In dieser Nacht gemahnte mich das Klopfen nicht an einen Tanz, ein Gedanke, der mir früher einmal gekommen war. In dieser Nacht war es das Verticken der Zeit, ein knochiger Finger, der mir auf die Schulter pochte. Mit einem Mal hatte ich meine eigene Vorhersehbarkeit und den armseligen Kompass meines Lebens satt.

Wieder bemerkte ich mein Spiegelbild, diesmal im Fensterglas, wo es sich schattig und vage abzeichnete wie mein eigener Geist.

Ich ging zum Sofa, ergriff meine Handtasche, die ich tags zuvor dort hingelegt hatte, und nahm sie in die Küche mit. Die Sachen, die ich aus Etiennes Zimmer darin verstaut hatte, breitete ich auf dem Tisch aus: seine Brille, das Tablettenfläschchen und den Brief. Dann setzte ich mich davor und starrte die Sachen an. Ich las den Brief noch dreimal, obwohl es sinnlos war, kannte ich seinen Wortlaut inzwischen auswendig.

Nachdem ich das Fläschchen mit den Tabletten nochmals betrachtet hatte, stand ich auf und ging zum Buchregal im Wohnzimmer, wo ich ein dickes Medizinhandbuch zwischen einem Wörterbuch und einem Atlas hervorzog. Ich ging damit in die Küche zurück und schlug das Register auf. Oxazolidin – da war es.

Ich schlug die angegebene Seite auf und las den Eintrag: Es war ein Medikament für neurologische Erkrankungen und wurde sowohl zur Linderung von Epilepsie als auch Lähmungen verschrieben.

Aber Etienne war doch kein Epileptiker, sagte ich mir. Nie hatte er in meiner Gegenwart einen epileptischen Anfall gehabt. Ebenso wenig wie Lähmungserscheinungen. Nur manchmal war mir aufgefallen, dass er ein wenig ungeschickt war, gegen ein Möbel stieß oder über den Rand eines Läufers stolperte. Ich erinnerte mich, wie er eines Abends, als ich ein Huhn zum Abendessen gekocht hatte, beim Zerteilen mit dem Messer plötzlich abgeglitten und es zur Seite geschnellt war. Etienne hatte es fallen lassen und es angestarrt wie ein unbekanntes Objekt, dann hatte er sich von mir abgewandt, war zum Spülbecken gegangen und hatte sich die Hände gewaschen, wieder und wieder. Damals hatte ich mir nichts dabei gedacht, doch jetzt fiel mir ein, wie diese scheinbar kleinen, bedeutungslosen Zwischenfälle ihn irritiert, ja wütend gemacht hatten, etwas, was ich gar nicht an ihm kannte. Er hatte etwas Unverständliches gemurmelt und weder auf meine Fragen noch Bemerkungen reagiert.

Ich konnte mir keinen Reim auf das auf seinen Namen verschriebene Medikament machen. Wenn Etienne eine Krankheit hatte, hätte ich es doch mitbekommen. Oder nicht? Ich nahm die Brille in die Hand und zeichnete mit der Fingerkuppe das Gestell nach. Dann legte ich sie wieder hin und ergriff abermals den Brief.

Diese Frau, seine Schwester Manon, hatte irgendwie mit dem Geheimnis zu tun: dem Geheimnis, von dem Etienne glaubte, es nicht mit mir teilen zu können. Daher seine überstürzte Flucht. Er hatte nicht begriffen, dass er sich mir anvertrauen konnte, was immer es auch war. Er sollte wissen, dass ich ihn liebte, so sehr, dass ich mich mit seiner Vergangenheit abfinden würde, gleich was geschehen war. Dass unsere Zukunft alles reinwaschen würde, was auf seiner Seele lastete.

Aber wie sollte ich ihn finden? Meine einzigen Anhaltspunkte waren der Taufname seiner Schwester – einer Frau, die er nie erwähnt hatte – und die Stadt, in der sie lebte. In der Etienne aufgewachsen war. Ich würde dorthin reisen. Ich würde ihn in Marrakesch finden und ihm all dies sagen.

Aber war es nicht ein törichter Plan, eine Schnapsidee? Ja, sicher. Hatte ich je einem Impuls nachgegeben und etwas Unüberlegtes getan? Ja, als ich Etienne in mein Haus und Bett gelassen hatte. In mein Leben gelassen hatte.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich immer wohl überlegt gehandelt, kopfgesteuert. Meine Vergangenheit fühlte sich seltsam entfernt an, als wäre ich eine Figur eines Romans, den ich halb gelesen zur Seite gelegt hatte, weil er mich nicht zu fesseln vermochte.

Doch vielleicht sollte ich besser über die Frau nachdenken, die ich jetzt zu sein glaubte: eine Frau, die auf ihr Herz hörte und aus einem Impuls heraus handelte. Ich stellte mir mein Herz vor, wie es früher war – als einen leberfarbenen Klumpen, der dumpf in meiner Brust schlug. Doch nachdem Etienne in mein Leben getreten war, hatte es sich in einen scharlachroten Muskel verwandelt, der machtvoll pumpte.

Ich musste unbedingt einen Anhaltspunkt für das bekommen, was Etienne zugestoßen war, sonst, so fürchtete ich, lief mein Herz Gefahr, sich in das farblose Organ zurückzuverwandeln, das gleichförmig und anspruchslos war wie die Motive meiner Aquarelle.

»Ich werde nach Übersee reisen, Mrs Barlow«, sagte ich, während ich bei ihr in der Küche stand. »Um …« Ich war versucht zu sagen, um Dr. Duverger zu suchen, sprach die Worte jedoch nicht aus. Ansonsten hätte ich ihr erklären müssen, warum ich mir seiner Liebe so sicher war. Dass es an mir war, ihm zu zeigen, dass ich ihn akzeptierte, wie er war, auch mit den Schatten seiner Vergangenheit. »Nach Europa.«

»Nach Europa?« Mrs Barlow hob die Augenbrauen. »Aber wie das denn?«

Ich schluckte. Eine Woche zuvor hatte ich den Entschluss gefasst und seither die Zeit genutzt, meine Reise zu planen und zu organisieren, einen Pass zu beantragen. Ich war mit dem Bündel Banknoten, das ich für den Erlös des Silver Ghost bekommen hatte, zur Bank gegangen und hatte den Großteil in Francs umgetauscht. Außerdem hatte ich, bis auf ein paar wenige Dollar, die übrig gebliebenen Ersparnisse meines Vaters von meinem Bankkonto abgehoben. Anschließend war ich zu dem Reisebüro in der Drake Street gegangen, um eine Schiffspassage auf einem Schiff zu buchen, das in zwei Wochen in New York mit Kurs auf Marseille ablegen würde. Bis dahin würde auch mein Pass da sein. Außerdem hatte ich zwei Koffer gekauft. »Es ist schon alles organisiert.«

»Und wann willst du zurückkommen?«

»Ich weiß es noch nicht. Aber können Sie und Ihr Mann sich während meiner Abwesenheit um das Haus und Zinnober kümmern? Würden Sie Zinnober bis dahin zu sich nehmen?«

Mrs Barlow presste den Mund zusammen, ehe sie sagte: »Also, Sidonie, aber wirklich. Du bist doch nicht jemand, der Hals über Kopf eine Ferienreise antritt und sein ganzes Erspartes dafür ausgibt. Korrigiere mich, falls ich mich irre, aber hat dein Entschluss nicht vielleicht mit dem Doktor zu tun, der sich seit einiger Zeit nicht mehr blicken lässt?«

Ich antwortete nicht. Stattdessen betrachtete ich ein Bild hinter ihr an der Wand, das drei Schnepfen zeigte. Ein Jahr zuvor hatte ich es den Barlows geschenkt.

»Denn wenn du vorhast, dem Mann nachzureisen, um ihn zu überzeugen, dass er zu dir zurückkommt, nun, so lass dir gesagt sein, dass man keinen Mann dazu bringen kann, etwas gegen seinen Willen zu tun, Sidonie. Wenn er nicht aus freien Stücken bei dir bleiben will, so macht es keinen Sinn, ihm bis auf die andere Seite der Welt zu folgen.« Ihre Stimme klang ungewohnt tadelnd und war eine Nuance lauter als sonst. »Wäre es nicht besser, ihn ziehen zu lassen und dein Leben weiterzuleben? Glaub mir, man kann einen Mann nicht umstimmen, wenn er sich einmal zu etwas entschlossen hat. Ich weiß das.«

»Aber es ist ihm etwas zugestoßen, Mrs Barlow. Ich muss ihm sagen, dass … Ich muss …« Wieder brach ich den begonnenen Satz ab. »Ich muss einfach mit ihm reden, Mrs Barlow.«

»Was ist ihm denn zugestoßen?«

Ich strich eine Haarsträhne zurück. »Es gab einen Notfall. In seiner Familie.«

»Aber warum hast du denn nicht mit ihm gesprochen, als er noch hier war? Oder warum rufst du ihn nicht an? Dort, wo er wohnt, wird es doch sicherlich auch Telefone geben, nicht wahr? Ich verstehe nicht, Sidonie.«

Natürlich, wie sollte sie es auch verstehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Mrs Barlow je ähnlich für ihren Mann empfunden hatte wie ich für Etienne. Und wenn, dann war es so lange her, dass sie sich nicht mehr daran erinnerte.

»Mrs Barlow, bitte, diese Reise muss einfach sein.«

»Fährst du nach Frankreich?«

Ich nickte. Es war ja nicht ganz gelogen: Marseille war eine Etappe meiner Reise. Ich durfte keinesfalls zu viel verraten. Wenn ich ihr erzählte, dass mein eigentliches Ziel Marokko sei, würde sie weitere Fragen stellen. Dann müsste ich ihr von dem Brief erzählen, den Etienne von einer Frau namens Manon erhalten hatte.

Plötzlich zitterten mir die Lippen und das Kinn. Ich bedeckte mit der Hand den Mund und drehte mich zur Seite.

»Im Übrigen solltest du an deine Umstände denken.«

Ich sah sie wieder an.

Sie nickte, und ihr Blick glitt zu meinem Bauch.

Ich ließ die Hand wieder sinken. »Woher wissen Sie es?«

Sie legte den Kopf schief. »Eine Frau sieht gewisse Anzeichen, wenn sie Augen im Kopf hat. Und ich nehme mal an, dass es bald offensichtlich sein wird. Wie stellst du dir also deine Reise vor, als alleinstehende Frau ohne Ehering, aber mit einem dicken Bauch, den sie wie eine Fahne vor sich herträgt? Sodass jeder sieht, was für eine Sorte Frau sie ist?«

Mrs Barlow hatte nie zuvor so mit mir gesprochen. Ich räusperte mich. »Es ist mir egal, was die Leute von mir denken. Das wissen Sie. Es war mir schon immer egal.«

Sie senkte kaum merklich die Augenlider. »Vielleicht wäre es aber besser gewesen, du hättest dir etwas daraus gemacht, Sidonie. Vielleicht befändest du dich dann nicht in der Situation, in der du dich jetzt befindest. Ach, wenn deine Mutter sehen könnte, wie du einen Mann ins Haus lässt und …«

»Es hilft jetzt auch nichts mehr, wenn Sie mich beschimpfen, Mrs Barlow«, sagte ich, ebenso laut und im gleichen barschen Ton wie sie. »Meine Mutter ist schon lange tot. Außerdem geht es Sie nichts an.«

Mrs Barlow wich zurück, als hätte ich sie geohrfeigt, und mir war klar, dass ich sie verletzt hatte. Aber ich war wütend auf sie, weil sie meinen wunden Punkt getroffen hatte.

»Es tut mir leid, Mrs Barlow«, beeilte ich mich zu sagen. »Sie waren immer so gut zu uns. Vor allem zu mir.« Ich verscheuchte den Gedanken, dass ich seit Monaten keine Miete mehr bezahlt hatte, seit Mr Barlow es mir nach dem Tod meines Vaters angeboten hatte. Ich wusste nicht, ob seine Frau darüber im Bilde war. »Es ist einfach so, dass ich … ihn liebe. Ich liebe ihn, Mrs Barlow. Und er liebt mich auch. Das weiß ich.«

Mrs Barlow zog mich in ihre Arme. »Es ist immer das Gleiche: Sie geben vor, dass man ihnen wirklich etwas bedeutet, wenn sie etwas von einem wollen, Sidonie.« Sie seufzte, und ich lehnte mich an sie. »Du weißt so wenig von der Welt, mein Mädchen. Und den Männern«, fügte sie hinzu. »Ich habe den Schlamassel von Anfang an kommen sehen. Ich habe es gesehen, Sidonie, aber du hast ja so sehr um deinen Vater getrauert, dass ich dachte, ach Nora, lass das arme Mädchen doch ein wenig Spaß haben.«

Sie machte sich von mir los. »Aber es gibt kein Vergnügen ohne Schmerz, Sidonie. Darauf kannst du dich verlassen wie auf das Amen in der Kirche.«

Am Tag bevor ich mein Zuhause verließ, suchte ich den Schuppen auf. Der alte Model T stand noch immer dort, von einer dicken Plane bedeckt. Ich zog sie weg und fuhr mit der Hand über die Motorhaube, stieg aber nicht ein. Ich rief mir das Bild meines Vaters hinter dem Lenkrad vor mein geistiges Auge, seine Pfeife zwischen den Lippen. Ich dachte an meine Mutter, wie sie in der Küche an ihrer Nähmaschine saß. Und ich dachte daran, wie Etienne von unserem Kind gesprochen hatte.

Ich zog die Plane wieder über den Wagen.

Dann ging ich zu Fuß den weiten Weg zum Teich, um ein letztes Mal den Blick über das Wasser schweifen zu lassen. Es war die erste Märzwoche, ein warmer Tag, und ein stetes Tropfen war zu hören. In der Mitte des Teichs taute das Eis, und an den Rändern war es bereits geschmolzen. Ein sanfter Wind kräuselte das Wasser, und die zarten Ringe leckten anmutig am Strand. Das Wasser glänzte im späten Nachmittagslicht, und es roch nach Frühling, frisch und einen neuen Anfang verheißend.

Ich legte die Hand auf den Bauch und spürte die leichte Wölbung.