ELF

Die Welt wurde für mich eine andere. Ich wurde eine andere. In den folgenden Monaten, in denen ich mich in Etienne Duverger verliebte.

Zweimal in der Woche kam er mich besuchen. Der Zeitpunkt hing jeweils von seinem Krankenhausdienst ab, doch falls es nicht gerade einen Notfall gab, traf er zu den ausgemachten Zeiten ein.

Während der ersten beiden Wochen saßen wir im hinteren Garten, auf der Veranda oder im Wohnzimmer und unterhielten uns. Dann gingen wir zweimal in Albany zum Abendessen aus, einmal besuchten wir ein Theaterstück.

Immer verließ er mein Haus gegen zehn Uhr abends; erst nachdem wir uns schon viermal getroffen hatten, nahm er beim Abschied meine Hand und drückte die Lippen darauf. Und am Ende unseres ersten Monats zog er mich auf der Türschwelle in seine Arme und küsste mich, ehe er ging.

An der Art, wie er mich ansah und daran, dass er jedes Mal beim Abschied ein bisschen näher rückte, war mir klar gewesen, dass es bald passieren musste. Und als es so weit war, zitterte ich vor Angst und Erregung. Ich schämte mich, weil es mein erster Kuss war, und wollte nicht, dass er es merkte. Doch ich war so überwältigt von der Empfindung, die sein Kuss in mir hervorrief, und davon, wie sich sein eng an mich gepresster Körper anfühlte, dass sich mein Zittern noch verstärkte.

Nachdem der Kuss vorüber war, hielt er mich noch eine Weile in den Armen. »Es ist gut, Sidonie«, sagte er, und ich lehnte den Kopf an seine Schulter. Ich hörte sein Herz schlagen, in langsamem, gleichmäßigem Takt, ganz anders als meines, das flatterte wie Blütenblätter im Wind. »Es ist gut«, sagte er nochmals und drückte mich stärker an sich. Da musste er geahnt haben, dass ich noch unschuldig war.

Doch dieser eine Kuss hatte meinen Körper wachgerüttelt. Mir wurde klar, dass er die ganzen Jahre über geschlafen hatte: Ich selbst hatte ihn in die Winterstarre gezwungen, als Jugendliche mit meinen Gebeten, um wieder geheilt zu werden, und später weil es einfacher gewesen war, ein Leben im Zölibat zu führen, ohne es zu hinterfragen.

Nachdem er gegangen war, setzte ich mich im Dunkeln aufs Bett und ließ den Moment im Geiste Revue passieren. Ich wollte diese wunderbaren Gefühle festhalten, spürte aber auch eine unbestimmte Sorge.

Dr. Duverger sah gut aus. Er war klug und geistreich und lachte gern. Er hatte einen interessanten Beruf und war schon in der Welt herumgekommen.

Ich verstand nicht, warum er mit mir zusammen sein wollte. Mit einer Frau mit einer wilden Lockenfrisur und dunklen Augen und gebräunter Haut. Einer, die hinkte und zwei Schuhe mit ungleich hohen Absätzen trug. Mit einer bleibenden, wenngleich langsam verblassenden Narbe im Gesicht. Einer Frau wie mir mit ihrem kleinen, unbedeutenden Leben, der es auf so vielen Gebieten an Erfahrung mangelte.

Natürlich wusste ich durch meine regelmäßige Lektüre der Tageszeitung und von Büchern, was in der Welt vor sich ging, und ich schaltete jeden Morgen das Radio ein, um Nachrichten zu hören. Doch was das eigentliche Leben anging … Ich bemühte mich zu verbergen, wie wenig ich davon auch nur ahnte – dem Leben jenseits der Juniper Road, jenseits Albanys –, indem ich Etienne dazu ermunterte, von sich zu erzählen. Immer wieder stellte ich ihm Fragen und hörte ihm aufmerksam zu.

Er hatte einen exotischen Hintergrund. Zwar war er in Paris geboren worden und hatte dort sein Studium absolviert, doch einen Großteil seiner Kindheit und Jugend hatte er, wie ich nach und nach von ihm erfuhr, mit seiner Familie in Marokko verbracht, in Marrakesch. Als er zum ersten Mal Marokko erwähnte, versuchte ich im Geiste, das Land auf dem Atlas zu orten, doch vergeblich. Das Einzige, was mir im Zusammenhang mit diesem Namen einfiel, war der delikate Einband eines teuren Buches, das in Marokkoleder eingeschlagen war. Und was Marrakesch betraf, so hätte ich nicht einmal den Namen buchstabieren können.

»Aber wie kommt das?«, fragte ich, als er zum ersten Mal davon erzählte. »Warum lebten deine Eltern in Marokko?« Auf seinen Wunsch hin sprach ich nun Französisch mit ihm. Mein provinzielles kanadisches Französisch war wenig kultiviert und, wie mir allmählich bewusst wurde, mit umgangssprachlichen Wendungen gespickt. Also bemühte ich mich von Anfang an, sein Pariser Französisch nachzuahmen. Freilich entging es ihm nicht, aber er sagte mir, er finde es rührend.

»Wegen des französischen Protektorats. Die Franzosen haben das Land zu Beginn dieses Jahrhunderts besetzt, sodass zahlreiche Franzosen nach Marokko zogen. Mein Vater, der ebenfalls Arzt war, hatte schon vor der französischen Besetzung mit Marokko zu tun. Er war mehrmals mit dem Schiff dorthin gereist und hatte geholfen, ein paar Krankenhäuser zu errichten. Er erzählte mir, dass damals in Nordafrika die Medizin noch in den Händen von Wunderheilern lag, deren Kunst in krassem Widerspruch zu unserer rationalen Wissenschaft stand.« Er lächelte. »Doch offensichtlich sind die Marokkaner auch ohne die Franzosen zurechtgekommen.«

Ich erwiderte sein Lächeln und legte die Hand an die Wange, um meine Narbe zu verbergen. Diese unbewusste Geste war noch eine Angewohnheit von mir aus der Zeit vor der Operation, und gelegentlich erinnerte mich Etienne, dass ich sie noch immer nicht abgelegt hatte.

»Tu das nicht, Sidonie«, sagte er jetzt. »Bitte. Ich habe dir schon so oft gesagt, dass es nicht mehr nötig ist. Du bist schön.« Er hielt inne. »Deine Schönheit ist von melancholischer Art. Ja, in der Tat.« Er streckte den Arm aus, um meine Hand von meinem Gesicht wegzuziehen. »Die Narbe verleiht dir einen Hauch von Anrüchigkeit. Als führtest du ein verwegenes Leben.«

Ein verwegenes Leben. In meinem Leben gab es nichts dergleichen. Kein Abenteuer und keine damit verbundenen Konsequenzen. Ich hatte tiefen Kummer erlebt, aber nie schwindelerregende Freude. Ich lachte. »Etienne. Also von meinem Leben sprichst du da bestimmt nicht. Bitte, erzähl mir mehr von Marokko.«

Er nickte, ohne meine Hand loszulassen. »Du bist eine gute Zuhörerin, Sidonie. Du siehst mich immerzu an, und dein Gesicht ist dabei so ruhig. Ich glaube … Ich glaube, dass du es gewohnt bist, in die Stille hineinzulauschen.«

»Deswegen bin ich so gern in den Sümpfen von Pine Bush, ich habe dir ja davon erzählt. Und ich liebe es, im Garten zu arbeiten oder zu malen. Oder spätabends auf der Veranda zu sitzen, wenn das Leben in den Straßen erlischt. Die Stille lässt mich besser nachdenken.«

Wieder lächelte er. »In Marrakesch gibt es keine Stille.«

»Wie meinst du das?«

»Die Stadt ist so voller Farben und Geräusche und Bewegung, als würde alles ineinanderfließen. Und doch hatte dieser Geräuschpegel im Grunde eine beruhigendere Wirkung auf mich als die Stille. Es ist wie ein konstantes Sirren, ein Vibrieren unter den Füßen. Und die Sonne …« Er blickte zum Wohnzimmerfenster. Er trank Bourbon – er hatte selbst eine Flasche mitgebracht – und ich Limonade. »Die Sonne ist von einer ganz anderen Intensität als hier. Auch die Luft fühlt sich anders an. Mein erster Winter in Amerika …« Er schauderte theatralisch. »Natürlich hatte ich auch in Paris einige Winter erlebt, aber hier wird die Luft im Winter so dünn, dass einem das Atmen schwerfällt. Der Schnee roch für mich anfangs metallisch. Wie Blut. Der marokkanische Himmel hingegen, die Sonne …« Sein Gesichtsausdruck war belebt, seine Wangen erhitzt.

»Wann warst du zuletzt dort?«

Seine Miene veränderte sich, und statt meine Frage zu beantworten, kam er auf unser ursprüngliches Thema zurück. »Dank des französischen Protektorats bekam mein Vater eine permanente Stelle in Marrakesch, und unsere Familie zog ebenfalls dorthin. Ich war damals noch ein Junge. Mein Vater behandelte nur Franzosen; die Marokkaner hielten sich an ihre eigenen Heiler. Vor allem die Frauen in den Harems.«

»Gibt es dort tatsächlich Hunderte wunderschöner Frauen? In den Harems?«, fragte ich und bemühte mich, nicht allzu beeindruckt zu klingen angesichts des ungewöhnlichen Lebens, das dieser Mann geführt hatte. Mir meinen Stolz nicht anmerken zu lassen, weil er ausgerechnet mir davon erzählte.

Etienne hob die Augenbrauen und lächelte wieder. Wenn er von Marokko sprach, hatten sein Gesicht und seine Stimme meistens einen leidenschaftlichen Ausdruck. Ich wusste, dass er dieses Land, das während des Großteils seiner Jugend seine Heimat gewesen war, zutiefst liebte. »Die meisten westlichen Vorstellungen von einem Harem basieren auf romantisierenden Romanen und Gemälden. Doch ein Harem in Marokko ist ganz einfach der Frauenbereich innerhalb eines Hauses. Das Wort stammt von dem arabischen Begriff haram«, erklärte er, »das schändlich‹ oder sündhaft‹ bedeutet. Doch im heutigen Sprachgebrauch meint es einfach nur verboten‹ oder tabu‹. Männern mit Ausnahme von den Ehemännern, Söhnen, Brüdern und Vätern der Frauen ist der Zutritt zu den Frauenbereichen verboten.«

»Also … bekommen sie keine anderen Männer zu Gesicht außer denen, mit denen sie verwandt sind?«

Er nickte. »Den Frauen der Oberschicht ist es nicht einmal gestattet, das Haus zu verlassen, abgesehen vom Besuch gewisser ritueller Veranstaltungen. Das Leben ist nicht einfach für sie. Je nach seinem wirtschaftlichen Erfolg kann ein Mann bis zu vier Ehefrauen haben. Das ist eine muslimische Tradition.«

Er musste mir die Verblüffung wohl am Gesicht abgelesen haben.

»Für uns ist das nur schwer zu verstehen, ich weiß. Mein Vater erzählte, dass die Frauen im Harem nicht selten einem Machtkampf unterworfen waren. Manche versuchten sogar, sich einer Art Zauberei zu bedienen, wenn sie ihre Stellung festigen wollten. Sie sahen darin den einzigen Weg, ihre Männer zu lenken, aber auch ihren Status unter den anderen Frauen zu regeln.«

»Was meinst du mit Zauberei? Was machen sie genau?«

Er blickte in sein Glas. »Für mich ist es nichts weiter als rückständiger Aberglaube.« Er sah mich wieder an, und ich bemerkte, dass seine Miene wieder verschlossener war. »Sie glauben an okkulte Dinge und versuchen, entweder zu ihrem eigenen Nutzen Macht zu erlangen oder aber böse Kräfte abzuwehren, mit denen andere sie belegt haben.« Seine Stimme klang jetzt wieder ganz sachlich, als handelte es sich um ein medizinisches Phänomen. »Sie stellen allerlei Tränke her, denen sie entweder eine positive oder negative Wirkung zuschreiben, um gewisse Ereignisse herbeizuführen – die Geburt eines Kindes, eine Krankheit, Liebe oder sogar den Tod – oder um sich selbst vor den bösen Geistern zu schützen, die, wie sie glauben, überall lauern. Ihr Leben wird zum großen Teil von Unwissenheit und Aberglaube beherrscht.« Seine Stimme hatte einen harten Klang angenommen. »Dabei gefährden sie am meisten sich selbst, obwohl sie auch …« Er unterbrach sich.

Nach einem Moment des Schweigens, währenddessen Etienne sein Glas leerte, sagte ich: »Natürlich«, als verstünde ich, wovon er sprach, obwohl ich damals von Marokko kaum mehr wusste, als dass es, wie ich in einem Geschichtsbuch über die Besetzung Marokkos durch die Franzosen im Jahre 1912 nachgeschlagen hatte, im nordwestlichen Zipfel Afrikas lag. Zwar erzählte er meist bereitwillig und fröhlich von seinem früheren Leben, doch hin und wieder bemerkte ich auch ein Zögern, als würde Etienne seine Erinnerungen durchsieben nach jenen, die er mit mir teilen wollte. Als gäbe es etwas, was er mir bewusst vorenthielt.

»Die Männer verlangen also von ihren Frauen, in einem getrennten Bereich zu leben«, fuhr er fort und schenkte sich noch einen Bourbon ein, »wobei es für sie vollkommen normal ist, sich nebenbei Mätressen zu halten – chikhas –, sofern sie es sich leisten können«, fuhr er fort, und seine Miene wirkte unwirsch. »Das Land ist ein einziges Paradox. Einerseits ist es voller Spiritualität, doch der gegenüber steht eine ausgeprägte Sinnlichkeit.«

»Hast du vor, bald wieder einmal dort hinzureisen? Lebt deine Familie noch in Marokko?«

»Nein. Nein.« Ich wusste nicht, ob sich sein Nein auf eine oder beide meiner Fragen bezog.

»Es gibt nichts mehr, weswegen ich hinfahren sollte. Es birgt für mich nur noch traurige Erinnerungen; meine Eltern und mein Bruder Guillaume sind dort begraben. Sie sind innerhalb von drei Jahren gestorben, jedes Jahr ein Todesfall.« Eine Weile schwieg er.

»Guillaume … hattest du sonst noch Geschwister?«

»Er war drei Jahre jünger als ich. Wir waren uns überhaupt nicht ähnlich. Er …« Wieder hielt er kurz inne, um dann fortzufahren. »Er ist in Essaouira ertrunken, an der Küste Marokkos. Es war eine schreckliche Zeit. Daraufhin ist meine Mutter über Nacht alt geworden.«

Ich rief mir das Gesicht meiner Mutter in Erinnerung, das sich über mich beugte, als ich an Polio erkrankt war. Und das Gesicht meines Vaters am Fenster meines Zimmers, dessen Miene seine absolute Hilflosigkeit spiegelte.

»Und mein Vater war eine Zeit lang sehr krank. Doch für Eltern ist es immer eine Katastrophe, wenn ein Kind stirbt, gleich wie alt es ist, nicht wahr? Weil es wider die natürliche Todesfolge ist.«

Wieder herrschte Schweigen; ich wusste, dass er noch nicht geendet hatte, und sah ihn abwartend an.

»Viele Jahre lang machte ich mir Vorwürfe«, fuhr er fort. »Weil ich nicht genügend Zeit mit Guillaume verbracht hatte. Er sah zu mir, seinem großen Bruder, auf, und ich …« Abermals unterbrach er sich, um dann schnell und tonlos weiterzusprechen, als wollte er die Unterhaltung möglichst rasch zu Ende bringen. »Ein Jahr nach Guillaumes Tod starb meine Mutter, und ein Jahr später mein Vater. Nein«, sagte er bestimmt. »Für mich gibt es nichts und niemanden mehr in Marrakesch. Nichts außer traurigen Erinnerungen. Nichts kann mich bewegen zurückzukehren.«

Ich hatte das Gefühl, es sei besser, keine Fragen mehr zu stellen: Etiennes Stimme war leise und klang düster, und seine Miene hatte sich verfinstert. Und dennoch faszinierte es mich, von diesem im Vergleich zu meinem so ganz anderen Leben zu hören, und jedes Mal, wenn Etienne mich besuchte, hatte ich weitere Fragen.

Bei seinem nächsten Besuch, nachdem er mich zum ersten Mal geküsst hatte, erkundigte sich Etienne nach den botanischen Zeichnungen und Vogelporträts, die bei mir zu Hause an den Wänden hingen. Ein wenig nervös gab ich zu, dass sie von mir stammten.

»Das dachte ich mir schon. Sie ähneln vom Stil her den Skizzen in deinem Zeichenblock. Die Bilder sind sehr gut.«

»Es ist nur ein Hobby«, sagte ich.

»Willst du mir noch andere Werke von dir zeigen?«

Ich stand auf, und er folgte mir in mein behelfsmäßiges Atelier – das frühere Schlafzimmer meiner Eltern. Es war mir peinlich, dass ihr Ehebett noch immer an der gegenüberliegenden Wand stand.

Auf dem Tisch lagen halb fertige Bilder. Am vorigen Tag hatte ich endlich begonnen, den Faulbaumbläuling zu malen, und das Bild war auf der Staffelei neben dem Fenster festgeklammert. Er ging hin und beugte sich darüber, um es in Augenschein zu nehmen.

»Malst du nichts anderes außer Naturmotive?«

»Ich male, was ich um mich herum sehe. Im Wald, an den Teichen und in den Sümpfen«, erklärte ich.

»Deine Bilder sind wirklich sehr schön.« Er streichelte mir mit seinem Zeige- und Mittelfinger über die Stirn. Ich wünschte, seine Berührung würde andauern, sehnte mich nach weiteren Zärtlichkeiten. »Ich glaube, hier drinnen ist noch sehr viel mehr«, sagte er und drückte sanft gegen meine Stirn. »Du verstehst, was ich meine, nicht wahr? Du siehst andere Dinge hier drinnen.«

Ich schloss die Augen und hoffte, er würde seine Finger auf meiner Stirn lassen. »Ja. Aber … das hier, also Pflanzen und Vögel, habe ich schon immer gemalt.« Ich ergriff seine Hand, die noch immer auf meiner Stirn lag, und führte sie zu meiner narbigen Wange hinab. Ich wagte nicht, die Augen zu öffnen, erschrocken von meiner eigenen Kühnheit.

»Warum malst du nicht die Dinge in deinem Kopf?«, fragte er ruhig, doch ich wusste keine Antwort.

Eine Weile verharrten wir so, meine Hand auf seiner, die auf meiner Wange ruhte, dann zog er mich mit dem anderen Arm an sich.

»Ist das genug?«, flüsterte er mir ins Ohr. »Für eine Frau wie dich, eine Frau mit einem stürmischen Herzen, so abgeschlossen zu leben und nur zu malen, was du um dich herum siehst?«

Sah er mich denn so? Als Frau mit einem stürmischen Herzen?

Gut möglich, dass das der Moment war, da ich mich in ihn verliebte.

Ich wollte, dass er mich wieder küsste, aber das tat er nicht. Noch immer den Arm um mich geschlungen, nahm er ein anderes Bild, die Abbildung eines Daunenspechts auf dem Ast einer Färbereiche.

»Ich habe mich immer nur mit Wissenschaft beschäftigt«, sagte er, »und kenne mich mit Kunst nur wenig aus. Aber die Schönheit habe ich schon immer geschätzt«, fügte er hinzu und ließ mich los, um näher ans Fenster zu treten, wo er das Bild ein wenig von sich weghielt. »Denn das Wesen der Schönheit ist das Geheimnisvolle«, fügte er hinzu.

»Geheimnisvolle?«, fragte ich. Noch immer spürte ich meinen beschleunigten Herzschlag, den sein an mich gepresster Körper hervorgerufen hatte. »Aber glaubst du wirklich an das Geheimnisvolle als Arzt? Zählen für dich nicht nur die Fakten?«

Er ließ das Bild sinken und drehte sich wieder zu mir um. »Ohne das Geheimnisvolle gäbe es keine Forschung und somit keine Entdeckung von weiteren Fakten.« Einen Moment lang sahen wir uns an. »Du bist auch geheimnisvoll, Sidonie«, sagte er und legte das Bild auf den Tisch zurück.

Ich hörte meinen Atem – er war zu laut und zu schnell. Wieder legte er die Arme um mich, und ich hob das Gesicht zu ihm, damit er begriff, wie sehr ich mich danach sehnte, dass er mich küsste. Und das tat er auch. Diesmal zitterte ich nicht, doch mein Körper fühlte sich gleichzeitig schwer und leicht an, wie flüssig, sodass ich fürchtete, meine Beine würden unter mir nachgeben.

Mich noch immer küssend, schob er mich sanft rückwärts, bis ich mit den Kniekehlen den Rand des Ehebettes berührte. Ich ließ mich darauf sinken, ohne meine Lippen von seinen zu nehmen. Er setzte sich neben mich, doch als er mich sanft nach hinten schob, wich ich ihm aus. Ich richtete mich auf und ordnete das Haar. Jedes einzelne Detail nahm ich glasklar wahr: das süßliche Bourbonaroma in seinem Atem, wie hart sich seine Brust an meiner angefühlt hatte, die Reaktion meines Körpers. Aber auch die Tatsache, dass wir auf dem Bett meiner Eltern saßen, dem Bett, das sie, seit ich mich erinnern konnte, geteilt hatten, das Bett, in dem ich meine Mutter hatte sterben sehen.

Ich stand auf.

»Verzeih mir«, sagte Etienne, der ebenfalls aufstand und seine Weste nach unten zog. »Ich habe mich falsch benommen, Sidonie, es tut mir leid. Es ist schwer, mit dir zusammen zu sein und nicht …« Er hielt inne und blickte mich an, sodass mir abermals heiß wurde.

»Ich mache uns Kaffee«, sagte ich und wandte mich ab, weil ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte.

Doch meine Hände zitterten so sehr, dass die Tassen und Untertassen klapperten, als ich sie aus dem Schrank nahm.

»Ich habe dich verärgert«, sagte Etienne und nahm mir das Geschirr aus der Hand, um es auf den Tisch zu stellen. »Vielleicht sollte ich jetzt besser gehen.«

Ich schüttelte den Kopf und fuhr mit der Fingerspitze über den Rand meiner Tasse. »Nein. Nein, geh nicht. Du hast mich nicht verärgert. Das ist es nicht.« Ich konnte ihn nicht ansehen, doch er legte beide Hände an meine Wangen und zwang mich, ihm ins Gesicht zu schauen.

»Wir werden nichts tun, was du nicht tun möchtest, Sidonie«, sagte er. »Das eben war dumm von mir. Noch mal: es tut mir leid.« Er ließ die Hände sinken und wandte sich von mir ab, und es kostete mich meine ganze Willenskraft, nicht auf ihn zuzugehen und das Gesicht wieder an seines zu schmiegen, und ihm zu sagen, diesmal nicht aufzuhören.

Hatte ich keine Moral? O doch, ich wusste sehr wohl, dass es falsch sein würde, als alleinstehende Frau Etienne in mein Bett zu lassen. Und doch … ich war neunundzwanzig. Er war der erste Mann, der mir Aufmerksamkeit entgegenbrachte, der mir das Gefühl gab, schön und begehrenswert zu sein. Außerdem zwang er mich zu nichts. Ich war es, die ihm zu verstehen gab, dass ich es herbeisehnte. Ich war es, die ihn, nachdem er mich wieder zum Abendessen eingeladen und mich nach Hause gefahren hatte, durch die Haustür zog und mich an ihn presste, ihn küsste, ihm das Jackett abstreifte und ihn in mein Schlafzimmer führte.

Er blieb stehen und sagte: »Sidonie, ich erwarte nicht von dir …«

Ich war es, die die Finger an seine Lippen legte, die flüsternd sagte: »Ich weiß. Ich will es aber«, die seine Hände zu meinen Brüsten führte und seine Finger schließlich zu den Knöpfen meines Kleides.

Natürlich wusste er, dass es das erste Mal für mich war; ich sagte es ihm sogar, sagte ihm, ich wisse nicht, was ich tun solle, er möge es mir zeigen. Er hatte einen straffen, schlanken Körper, und seine Haut fühlte sich heiß und geschmeidig an.

Ich hatte keine Angst, war nicht aufgeregt, sondern blickte einfach nur voller Erwartung zu ihm hoch, während er mich in den Armen hielt und, die Lippen an meinen, murmelte: »Bist du sicher …«, und ich nickte. Er liebte mich, sagte ich mir. Er würde nie etwas tun, was mir wehtat. Ich fühlte mich sicher und umsorgt, auf eine Weise, wie ich es nie gekannt hatte.

»Sag mir, was ich tun soll«, bat ich ihn noch einmal leise und legte die Hände auf seine Hüften, und er zeigte es mir.

Als ich hinterher mit dem Kopf auf seiner Brust dalag und weinte, verstand er es zunächst falsch. Er streichelte meine nackte Schulter und sagte: »Es tut mir leid, es tut mir leid, Sidonie, ich habe dir wehgetan, ich hätte nicht …«

Doch ich unterbrach ihn. »Nein. Du hast mir nicht wehgetan. Ich weiß selbst nicht, warum ich weine, aber ich bereue es nicht. Ich empfinde auch keine Schuld. Es ist …« Ich hielt kurz inne. »Glück, Etienne. Ich bin glücklich. Du hast mich glücklich gemacht. Ich weiß nicht, womit ich dieses Glück verdient habe. Dich verdient habe.«

Einen Moment lang war er still. »Sidonie«, sagte er dann, die Lippen an meinem Haar. »Du bist liebenswert. Du bist stark, eine selbstbewusste Frau, die ein eigenständiges Leben führt. Du bist neugierig und offen. Aber andererseits ist da auch eine Zerbrechlichkeit … Ich wünschte, du könntest dich mit meinen Augen sehen. Manchmal tu me brises le cœur.«

… brichst du mir das Herz.

Nachdem er gegangen war, sah ich in den Spiegel.

War je eine Frau so glücklich gewesen wie ich, hatte so geliebt, wie in jenem Moment? Gab es einen Mann, der so liebte, der so rücksichtsvoll und so aufrichtig war wie Etienne Duverger?

Schnell fanden Etienne und ich während der nächsten Monate zu einem vertrauten Rhythmus. Über den Herbst und bis in den Dezember hinein verbrachten wir die Abende, an denen er frei hatte – manchmal einmal pro Woche, manchmal zweimal – in meinem Haus in Albany. Wir gingen essen oder zu einem Konzert oder ins Theater, oder wir machten einen Schaufensterbummel in der Stadt. Dann blieb er die Nacht über bei mir, auch wenn er am nächsten Tag früh, wenn es noch dunkel war, wegmusste, um zu seiner Wohnung zu fahren und sich umzuziehen, ehe er zur Arbeit ging. Er bewohnte zwei Zimmer eines Wohnheimes – eine recht einfache Bleibe in der Nähe des Krankenhauses, wie er mir gesagt hatte –, doch sie genügten ihm angesichts der knapp bemessenen Freizeit.

Wenn ich am Morgen nach einer gemeinsam verbrachten Nacht allein aufwachte, blieb ich noch eine Weile im Bett liegen und streichelte Zinnober. Ich spürte einen Hunger auf die Welt, wie ich ihn nie zuvor gekannt hatte. Ich konnte es kaum abwarten aufzustehen, denn ich hatte auch einen physischen Hunger, der mir ebenfalls unbekannt war. Zum Frühstück bereitete ich mir eine große Portion Rühreier mit Speck und Toast zu und trank dazu drei Tassen Kaffee. Dann legte ich eine von Vaters Platten auf und summte zur Musik, während ich abwusch. Mit einem Mal hatte die Musik für mich eine neue Dimension erhalten, ebenso wie die Bücher, die ich las. Oder wie die Sonne, die durch die Fenster schien, oder der Wind, der in den Blättern der Bäume säuselte. Alles, was ich hörte oder las oder sah – auch meine Bilder –, war verbunden mit einer neuen, unerwarteten Freude.

Natürlich war das, was Etienne und ich begonnen hatten, keine konventionelle Beziehung, aber, so sagte ich mir, schließlich war ich ja auch keine konventionelle Frau. Ich wusste, dass mein Verhalten in den Augen der Gesellschaft und nach den Vorstellungen meiner Religion sündhaft war, und doch plagten mich keine Schuldgefühle. Ich fühlte mich gut, außerdem wusste ich, auch wenn keiner von uns von Liebe oder der Zukunft sprach, dass Etienne mich ebenso liebte wie ich ihn. Eine Frau weiß diese Dinge.

Mit ruhiger Gewissheit wusste ich auch, dass er mir bald einen Heiratsantrag machen würde, sodass unser sündhaftes Leben ein Ende hätte. Wie ein Schulmädchen schrieb ich meinen zukünftigen Namen auf ein Blatt Papier, um es später dann im Kamin zu verbrennen: Mrs Etienne Duverger. Sidonie Duverger. Der Name hatte für mich einen wunderbaren Rhythmus.

Unsere Gespräche faszinierten mich zusehends. Nie zuvor hatte ich mit jemandem intellektuelle Diskussionen geführt. Zwar hatten mein Vater und ich uns ausgiebig über die Ereignisse in der Welt unterhalten, aber nie wirklich Streitgespräche geführt. Ob es daran lag, dass wir uns einig über alles gewesen waren?, fragte ich mich. Ich erinnerte mich nicht mehr. Aber vielleicht war der Grund, warum es mit Etienne anders war, der, dass unser Verhältnis ein leidenschaftliches war. Und die Leidenschaft machte sich auch in unseren Gesprächen bemerkbar, auf dieselbe Weise, wie sie entflammte, sobald wir einander berührten.

Für mich waren unsere Debatten eine Herausforderung, die ich sehr genoss. Seine Argumente waren anspruchsvoll, aber andererseits hörte er sich auch meine Meinung offen und mit einer Bereitschaft an, sich gegebenenfalls meiner Sichtweise anzuschließen. Und die Tatsache, dass er so hohe Erwartungen an mich hatte, zeigte mir, dass er mich als intellektuell ebenbürtig betrachtete, und das schmeichelte mir.

Eines Dezemberabends, als es draußen allmählich dunkel wurde, saßen wir auf dem Sofa. Zinnober sprang mir auf den Schoß, und ich streichelte sie abwesend.

»Wurde sie taub geboren?«, fragte er.

»Ich nehme es an. Jedenfalls war sie es schon, als ich sie als kleines Kätzchen bekommen habe.«

»Hoffentlich hast du darauf geachtet, dass sie keine Jungen zur Welt brachte.«

Ich sah ihn an. »Das hat sie bestimmt nicht. Aber warum sagtest du ›hoffentlich‹?«

»Weil es besser so ist.«

Ich sah ihn verwundert an.

»Wegen ihrer Taubheit wäre es nicht gut, wenn sie Nachwuchs bekäme und ihr Gebrechen womöglich weitergäbe.« Er nippte an seinem Bourbon. Während unserer gemeinsamen Abende trank er stets Bourbon, doch schien der Alkohol ihm nichts auszumachen. »Sie leidet schließlich unter einer Anomalie. Und das Problem mit Anomalien ist, dass sie eine Spezies, wenn sie sich innerhalb dieser vermehren, schwächen können.«

Etienne war fasziniert von der menschlichen Erblehre, und wann immer er über das Thema sprach, wurde er lebhaft. Irgendwie gelang es ihm, die Wissenschaft von den Genen wie ein faszinierendes Gesprächsthema klingen zu lassen. »Erinnerst du dich, wie ich dir von den Mendel’schen Regeln erzählt habe? Dass jeder lebende Organismus zur Hälfte von den väterlichen und zur Hälfte von den mütterlichen Genen bestimmt wird?«

»Ja.«

»Es ist also ganz einfach. Nur dem starken, vollkommenen Menschen sollte es erlaubt sein, sich fortzupflanzen. Denk doch, Sidonie. Denk, welche Aussichten die Welt hätte, wenn es keine Schwachen gäbe. Keine Kranken, weder geistig noch körperlich.«

Ich hielt den Atem an. Merkte er denn nicht, dass ich ganz besonders sensibel war, was dieses Thema betraf? Dass ich eine der Behinderten war, von denen er sprach? Ich wandte den Blick von ihm ab. »Aber glaubst du nicht, dass auch etwas, was mit einem Makel behaftet ist, eine gewisse Attraktivität innewohnen kann?«

Er kannte mich zu gut. »Sidonie.« Er legte die Finger unter mein Kinn und zwang mich, ihn wieder anzusehen. Er lächelte ganz leicht. »Du warst krank. Das ist nicht genetisch bedingt. Und die Krankheit hat dich stärker gemacht, statt dich zu schwächen. Du weißt, dass du für mich in jeder Hinsicht schön bist.«

Es gelang ihm immer wieder, mich wertvoll und begehrt fühlen zu lassen. Ich lehnte den Kopf an seine Schulter.

»Aber mit deiner Katze« – er hatte die Lippen an meinem Ohr, und sein Atem bewegte sachte meine Haare – »verhält es sich anders. Nach den Regeln der intelligenten Fortpflanzung werden die Besten ihrer Art miteinander gepaart, um sicherzustellen, dass ihre Nachkommen klug und stark werden – das heißt, durch bewusste Zucht eine bessere Spezies zu erlangen. Also ist es gut, wenn Zinnober keine Nachkommen hinterlässt und damit ihr Gebrechen nicht weitervererben kann.«

Ich mochte es nicht, wenn er auf diese Weise über Zinnober sprach. »Aber in einem der Bücher, die du mir geliehen hast – ich weiß nicht mehr, in welchem –, habe ich etwas über das Überleben gelesen. Dass nicht die Stärksten einer Art überleben, und auch nicht die Intelligentesten, sondern jene, die sich am besten an Veränderungen anpassen können. Stimmst du dem nicht zu?«

»Nein«, sagte er, während er mir zärtlich eine Haarsträhne von der Wange strich und meine Narbe küsste. »Aber lass uns jetzt nicht weiter davon reden«, murmelte er.

Obwohl ich gern noch mit ihm diskutiert hätte, wollte ich auch nicht, dass er aufhörte, meine Wange zu küssen. »Also gut«, sagte ich leise, denn wie so oft, wenn ich mit ihm zusammen war, spürte ich, wie mein Körper nach ihm verlangte. Außerdem wusste ich, dass ich ihn vier oder fünf Tage lang nicht sehen würde. Ich schob Zinnober vom Schoß hinunter und drehte mich zu ihm.