ZWÖLF
Madame? Hier ist Marrakesch, wie Sie wünschen«, sagte Aziz mit besorgtem Ton. »Sie nicht glücklich, in Marrakesch sein?«
Ich konnte weder sprechen noch ihn anschauen. Stattdessen starrte ich geradeaus, während wir uns den Ausläufern der Stadt näherten. Dattelpalmen säumten die Straße, und hie und da waren auch ganze Plantagen zu sehen. Mustapha fuhr hochkonzentriert und entschlossen, wobei auch er, so wie die meisten anderen Fahrer, ununterbrochen und mit wütender Empörung auf die Hupe drückte – und zwar vollkommen grundlos, wie ich bemerkte.
»Wohin fahren Sie?«, fragte ich ihn. »Mustapha? Wohin bringen Sie mich?« Obwohl ich ihm keine Adresse genannt hatte, fuhr er zielstrebig weiter. Da ich keine Ahnung hatte, wo ich in Marrakesch wohnen könnte, tröstete mich seine Entschlossenheit ein wenig. Da er und Aziz sich auch um die beiden zurückliegenden Übernachtungen gekümmert hatten, konnte ich nur hoffen, dass sie es auch in Marrakesch so handhaben würden.
»Aziz?«, sagte ich, da Mustapha mich nicht beachtete. »Wohin fahren wir?«
»Wir fahren in Französische Viertel, Madame, La Ville Nouvelle. In neuer Stadt viele Hotels für Ausländer.«
Die sinkende Sonne warf immer längere rote Schatten von den Stadtmauern. Ich hatte mir kein wirkliches Bild von Marrakesch gemacht; ich wusste nur, dass ein Großteil der jahrhundertealten Gebäude innerhalb der Stadtmauern aus der satten rotbraunen Erde bestand, die Marrakesch umgab, und dass die neue Stadt – in der Etienne mit seiner Familie gewohnt hatte – von den Franzosen erbaut worden war. Dort, in der Ville Nouvelle, war Französisch Amtssprache, während in der Altstadt natürlich Arabisch gesprochen wurde.
Es gab eine Fülle von Bäumen: Oliven-, Limonen-, Granatapfel-, Mandel- und Orangenbäume. Trotz meiner Beklommenheit entging mir nicht, wie angenehm erfrischend die breiten Boulevards, auf denen sich die kleinen Taxis zwischen Eselkarren und den eleganten weißen Pferden vor den offenen Kutschen einen Weg bahnten, dadurch wirkten. Etienne hatte mir erzählt, dass Jahrhunderte zuvor ein unterirdisches Netz aus Wasserleitungen und Zisternen erbaut worden sei. Damals wurde die Stadt als Machtzentrum der Region und Knotenpunkt der Handelsrouten, die es mit dem nördlichen Marokko und Spanien verbanden, gegründet.
Ich betrachtete geflissentlich die Bäume und Blumen, um ja nicht die Gesichter der Menschen anzusehen, weil ich fürchtete, plötzlich Etienne darunter auszumachen. Ich wusste, wie lächerlich das war, und doch schlug mein Herz wie wild.
Schließlich hielt Mustapha den Wagen vor einem eindrucksvollen, eleganten Hotel, das von hohen Palmen umgeben war. Hôtel de la Palmeraie war in unaufdringlichen Lettern in den Steinvorsprung über dem breiten Eingang eingraviert. Das Hotel war in anmutiger maurischer Architektur erbaut, hatte aber auch ähnlich wie das Hotel Continental in Tanger einen europäischen Anstrich. Ein dunkelhäutiger Mann in einem sorgfältig gebügelten roten Jackett mit goldenen Litzen und einem roten Fes mit goldener Quaste stand dienstbereit vor dem Eingang.
Mustapha sprang aus dem Auto und öffnete den Wagenschlag. Er verbeugte sich tief und machte eine einladende Armbewegung, als hätte er urplötzlich seine vergessenen Manieren wiedergewonnen. »Hôtel de la Palmeraie, Madame«, sagte er, und während ich aus dem Wagen stieg, hievte Aziz meine Koffer hinaus und stellte sie auf den Boden. Der Mann in Rot und Gold eilte herbei und ergriff sie, wobei er sich ebenfalls vor mir verbeugte.
»Bienvenue, Madame«, sagte er, »willkommen im Hôtel de la Palmeraie.« Dann trug er meine Koffer die Eingangsstufen hoch und in die Hotelhalle hinein.
Ich öffnete meine Handtasche und nahm die vereinbarte Summe sowie ein paar zusätzliche Francs heraus, um sie in Mustaphas Hand zu legen. Dann fischte ich ein paar weitere Francs aus meinem Portemonnaie und reichte sie Aziz, der neben der geöffneten Beifahrertür stand. »Danke, Aziz. Ich schätze Ihre Hilfe sehr.«
»De rien«, sagte er mit einer Verbeugung, »vielen Dank. Auf Wiedersehen, Madame.«
Dann drehte er sich um und stieg auf den Beifahrersitz neben Mustapha. Der war mit dem Fuß bereits auf dem Gaspedal und betätigte es immer wieder ganz leicht, und das rhythmische Aufheulen des Motors machte mir jäh bewusst, dass ich abermals in einer fremden Stadt allein sein würde.
Das Gefühl ähnelte dem bei meiner Ankunft sowohl in Marseille als auch in Tanger, mit dem Unterschied, dass ich in beiden Städten gewusst hatte, ich würde mich nur für kurze Zeit dort aufhalten, nur so lange, bis ich meine nächste Etappe bis zu meinem eigentlichen Reiseziel organisiert haben würde. Marrakesch, wo ich mich nun befand.
»Bleiben Sie heute Nacht in Marrakesch?«, fragte ich, an Aziz gewandt, auch wenn das nichts an meiner Situation geändert hätte. Ich würde in diesem Grandhotel im französischen Viertel wohnen und sie irgendwo anders, wahrscheinlich in der Altstadt.
»Nein, Madame. Wir fahren zurück. Morgen früh vielleicht wir sind wieder in Settat. Ich denke, von dieser Seite aus Straße nicht kaputt.«
»Sie fahren die ganze Nacht durch?«
»Ja, Madame«, sagte Aziz und schloss die Tür. »Auf Wiedersehen, Madame«, sagte er nochmals.
Ich trat von dem Wagen zurück. »Na gut. Also, auf Wiedersehen, Aziz, auf Wiedersehen, Mustapha. Danke, und kommen Sie gut nach Hause.«
»Inschallah«, murmelten beide Männer.
Ich machte noch ein paar Schritte zurück, klopfte mir notdürftig den Staub aus den Kleidern und versuchte, mein windzerzaustes Haar mit den Haarnadeln festzustecken. Als ich wieder aufblickte, um den abfahrenden Männern nachzuwinken, war der Wagen schon am Ende der Zufahrt angekommen. Ich hob die Hand, doch im selben Moment bog der Wagen in die befahrene Avenue ab und entfernte sich aus meinem Blickfeld.
Der Concierge – ein kleiner Mann, dessen Lächeln aufgrund eines goldenen Schneidezahns fast ein wenig hinterhältig wirkte – musterte mich, als ich mich dem Empfangsschalter näherte. Sein Blick wanderte von meinem Haar zu meinen Schuhen hinab.
»Willkommen, Madame«, sagte er, doch seine Stimme klang nicht besonders freundlich. »Sie wollen bei uns übernachten?«
»Ja, bitte.«
Er blätterte im Eintragungsbuch und schob es über die breite, auf Hochglanz polierte Theke zu mir hin. »Gewiss, Madame, gewiss. Wenn Sie bitte hier unterschreiben würden«, sagte er und reichte mir mit überschwänglicher Geste einen Kugelschreiber. Er sah zu, wie ich meinen Namen eintrug, um sich dann mit leicht erhobenen Augenbrauen zu korrigieren. »Ah, Mademoiselle also, entschuldigen Sie bitte. Wie lautet Ihr Name?«
»O’Shea. Mademoiselle O’Shea.«
»Sind Sie mit dem Zug angereist?«
»Nein, ich bin mit einem Wagen aus Tanger gekommen.«
Er nickte, während sich seine Augenbrauen noch etwas mehr nach oben bogen. »Eine schwierige Reise, nehme ich an.« Sein Blick wanderte zu meinem Haar. Plötzlich wurde mir bewusst, wie schmutzig ich war. Während der vergangenen beiden Tage hatte ich die Kleider nicht gewechselt und sogar unter freiem Himmel darin geschlafen, ohne eine Waschgelegenheit zu haben. Und mein Haar musste schrecklich zerzaust sein.
»Ja.«
»Und wie lange wollen Sie bei uns bleiben, Mademoiselle?«
Plötzlich fiel mein Blick auf die Seite neben meiner Unterschrift, und ich las den Zimmerpreis. Er überstieg meine Mittel bei weitem. Aber ich hatte keine Ahnung, wo ich sonst hätte übernachten sollen. »Ich … ich weiß noch nicht«, sagte ich.
Seine Miene blieb ungerührt. »Wie Sie wünschen, Mademoiselle, wie Sie wünschen. Sie können gern so lange im Hôtel de la Palmeraie bleiben, wie Sie wollen. Ich bin Monsieur Henri. Bitte wenden Sie sich an mich, wenn Sie etwas benötigen. Wir sind bemüht, sämtliche Wünsche unserer Gäste zu erfüllen. Soll ich Ihnen einen Tisch für das Abendessen reservieren? Es wird bis neun Uhr serviert.«
Wollte ich überhaupt zu Abend essen? Hatte ich Hunger? Oder sollte ich mich gleich ins Straßengetümmel werfen und meine Suche beginnen? Wieder einmal war ich unschlüssig und hätte am liebsten gesagt: Ich weiß es nicht, als mir bewusst wurde, dass ich ja tatsächlich etwas essen und dann schlafen musste. Um meine Kräfte beisammenzuhalten. »Danke, ja«, sagte ich. »Ich werde zu Abend essen.«
»Um sieben? Oder acht? Welche Uhrzeit bevorzugen Sie?«
Er hielt abwartend den Kugelschreiber über ein weiteres Reservierungsbuch.
»Ich … um sieben Uhr«, sagte ich.
Er nickte und schrieb die Uhrzeit auf. »Und jetzt wollen Sie bestimmt auf Ihr Zimmer gehen, um sich zu erfrischen und auszuruhen nach Ihrer strapaziösen Reise.«
»Ja, gern.«
Er hob die Hand und schnipste laut mit den Fingern, woraufhin sofort ein drahtiger Page in der gleichen Uniform, wie der Portier sie trug, der mir die Tür geöffnet hatte, herbeirannte und meine Koffer ergriff.
Ich folgte dem Jungen durch die mit dicken, erlesenen Teppichen ausgelegte Hotelhalle und fühlte mich so fehl am Platz wie nie, seit ich einen Monat zuvor Albany verlassen hatte.
Mein Zimmer mit seiner Wurzelholzwandvertäfelung und den goldgerahmten Ölgemälden, die Berglandschaften und Ansichten Marokkos zeigten, war äußerst luxuriös. Die weiße Überdecke auf dem Bett war mit Rosenblättern bestreut. Ich hob eines auf, rieb es zwischen den Fingern und roch daran.
Ein Bett, das mit Rosenblättern bedeckt war. Nie hätte ich mir einen solchen Luxus erträumt. Ich begab mich in das angrenzende Badezimmer, wo auf dem Waschbeckenrand ein Gefäß mit weiteren Rosenblättern stand. Flauschige weiße Handtücher waren kunstvoll in Form von Blumen und Vögeln gefaltet, und ein Paar Pantoffeln aus weichem, weißem Leder sowie ein weißer Seidenbademantel lagen bereit.
Ich würde mir rasch eine weniger kostspielige Bleibe suchen müssen, sagte ich mir. Doch in diesem Moment war ich nicht in der Lage, mir weiter darüber den Kopf zu zerbrechen; ich würde für diese Nacht hierbleiben und, so hoffte ich, am nächsten Tag klarer denken können. Ich ließ mir ein Bad ein und goss von dem süßlich duftenden Öl aus einem der Fläschchen dazu, die auf dem Glasregal über dem Spülbecken aufgereiht waren. Zum Schluss streute ich eine Handvoll Rosenblätter auf das dampfende Wasser. Das Badezimmer war ringsherum mit Spiegeln ausgekleidet.
Ich stieg in die Wanne und lehnte mich zurück. Die Haut an meinen Händen und Handgelenken war viel dunkler als am restlichen Körper. Ich drehte den Kopf und betrachtete mich in der verspiegelten Wand neben der Wanne. Da erst bemerkte ich, dass Gesicht und Hals ebenso dunkel waren wie die Hände: Die drei Tage lange Reise unter der Sonne und im Wind hatten mir einen Teint verliehen, in dem ich mich kaum wiedererkannte.
Wieder ließ ich den Kopf auf den Wannenrand zurücksinken und betrachtete meinen Körper. Die Hüftknochen sprangen hervor, und meine Knie waren knubbelig.
Mein Unterleib lag flach in dem warmen, duftenden Wasser.
Nachdem ich mir das Haar gewaschen hatte, steckte ich es noch feucht hoch. Dann zog ich mein bestes Kleid an, noch immer das einfache blassgrüne Seidenkleid mit dem weißen Zweigmuster, das ich getragen hatte, als ich vor langer Zeit zu Etienne in die Sprechstunde gefahren war. Es reichte bis zur Mitte meiner Waden und hatte weit geschnittene Ärmel. Ich schüttelte es aus und versuchte, es glatt zu streichen und die zahllosen Knitterfalten zu entfernen, was mir nur notdürftig gelang. Anschließend nahm ich mein zweites Paar Schuhe aus dem Koffer: nicht minder unelegante schwarze Lederschuhe, deren rechter Absatz höher war als der linke, doch wenigstens waren sie nicht mit rotem Staub bedeckt.
Dann ging ich in die gedämpft beleuchtete Hotelhalle hinunter, in deren Mitte sanft ein Springbrunnen plätscherte. Es erstaunte mich nicht, dass auf dem Wasser Rosenblätter trieben. Holztäfelungen in den verschiedensten Schattierungen, von Hellgelb bis zu dunklem Mahagoni, zierten die Wände. Im sanften Licht der Wandleuchter schimmerte das Holz weich.
»Madame?« Ein großer, dünner Page mit der Andeutung eines Schnurrbarts trat zu mir. Auch er trug die in Rot und Gold gehaltene Hoteluniform und weiße Baumwollhandschuhe. »Sie wollen in Speisesaal?«
»Ja, bitte.«
Er reichte mir den Arm, und ich legte die Hand in seine Armbeuge. Mit seinen langen Beinen marschierte der junge Mann beherzt los, blieb jedoch stehen, als er mein kurzes Zögern bemerkte, und blickte auf meine Schuhe. Dann senkte er kaum merklich den Kopf, eine verständnisvolle Geste, und ging langsam weiter, sodass ich mit ihm problemlos Schritt halten konnte.
An der Tür des Speisesaals blieb er stehen und sprach leise mit dem Maître d’hôtel, einem weiteren attraktiven jungen Mann. Er hatte das Haar mit Brillantine zurückgekämmt und trug einen Smoking, einen burgunderroten Kummerbund und weiße Handschuhe.
»Ihr Name, Madame?«, fragte er und nickte, nachdem ich ihn ihm genannt hatte, dem Pagen zu, bei dem ich mich noch immer eingehakt hatte.
Ein Blick in den Saal genügte, um zu wissen, dass meine Garderobe in jeder Hinsicht ungenügend war. Die Herrn trugen schwarze Anzüge oder Smokings und die meisten Frauen lange Abendkleider aus Satin und Tüll. Ihre Frisuren waren entweder kurz und gewellt oder aber kunstvoll hochgetürmt, und an ihren Hälsen und Handgelenken glitzerten Juwelen.
In meinem zerknitterten grünen Seidenkleid stand ich in der Tür, und Strähnen meines noch feuchten Haars hatten sich aus den Haarnadeln gelöst und fielen mir in den Ausschnitt und über die Ohren. Ich kam mir schäbig vor, wusste, dass jedes Detail meiner Erscheinung fehl am Platz war. Doch der junge Mann an meiner Seite schenkte mir ein liebenswürdiges Lächeln und sagte: »Kommen Sie, bitte, Madame«, und von seinem Lächeln ermuntert, hob ich das Kinn und ging neben ihm her durch den Saal. Den Blick hielt ich starr geradeaus gerichtet auf den dunkler werdenden Himmel, der durch die hohen, offenen Fenster zu sehen war. Ich war froh, dass der Page mich nicht inmitten der anderen Gäste platzierte, sondern mich zu einem kleinen Tisch neben einem Fenster führte, durch das man auf den üppigen Garten blickte. Er zog den Stuhl für mich heran, und ich setzte mich auf die mit burgunderrotem Samt bezogene Sitzfläche. Leises Geplauder und Lachen erfüllten den Saal, durchbrochen von dem Klirren von Silberbesteck an Porzellan und den sanften Harfenklängen, die aus einer Ecke zu vernehmen waren. Doch inmitten dieser formellen und äußerst gezwungenen Atmosphäre nahm ich ein fernes, gedämpftes Dröhnen und rhythmisches Trommeln wahr, das von jenseits des Gartens hereindrang.
Ich nippte an dem Mineralwasser, das ein Kellner mir einschenkte, kaum hatte ich mich gesetzt. Dann wählte ich ein einfaches Ratatouille von der umfangreichen Speisekarte, die weitere weiß behandschuhte Hände vor mich hinhielten, und blickte schließlich aus dem Fenster.
In der Abenddämmerung machte ich unzählige Bäume und hohe, blühende Büsche aus, zwischen denen sich Fußwege wanden. Am hinteren Ende des Gartens stand eine hohe, von Bougainvilleen bewachsene Mauer. Und jenseits der Mauer bot sich die Ansicht von schneebedeckten Berggipfeln, die denen auf den Ölgemälden in meinem Zimmer glich: der Hohe Atlas. Die Luft duftete angenehm, und Vogelgezwitscher war zu hören.
Die Kulisse war so unglaublich schön, dass ich einen Moment lang den Zweck meines Aufenthalts in Marrakesch vergaß.
Als ein Kellner murmelte: »Ein Hors d’œuvre, Madame«, wurde ich aus meiner Verzauberung gerissen. »Bon appétit«, sagte er und stellte einen Teller mit winzigem Blätterteiggebäck vor mich hin. Ich kostete ein Teilchen, dessen Geschmack mich an die pastilla erinnerte, die ich in Tanger gegessen hatte. Der aus der Ferne erklingende rhythmische Lärm, der wie ein pulsierender Herzschlag anmutete, nahm an Lautstärke zu. Ich blickte mich in dem gedämpft beleuchteten, wohl duftenden Saal um, doch niemand sonst schien es zu bemerken.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich schließlich zu dem Paar am Nachbartisch. »Was ist das für ein Geräusch?«
Der Mann legte Messer und Gabel auf den Tisch. »Der Lärm kommt vom Hauptplatz der Medina – der Altstadt von Marrakesch«, antwortete er mit britischem Akzent. »Djemma el Fna. Ein interessanter Ort. Ich nehme an, Sie sind gerade erst angekommen?«
»Ja.«
»Nun, Sie sollten der Medina auf jeden Fall einen Besuch abstatten. Der Teil von Marrakesch, in dem wir uns befinden – la Ville Nouvelle –, hat keinerlei Ähnlichkeit mit der Altstadt. Hier wurde seit der französischen Übernahme alles neu erbaut. Aber der Djemma el Fna, nun …« Sein Blick wanderte zu dem einzigen Gedeck des Tisches vor mir, dann wieder zu meinem Gesicht zurück. »Es heißt, es sei der größte Souk in ganz Marokko und jahrhundertealt. Doch ich würde Ihnen nicht empfehlen, ihn, oder überhaupt die Altstadt, ohne Begleitung aufzusuchen. Wenn Sie erlauben, würde ich mich und meine Frau Ihnen gern vorstellen.« Er stand auf und machte eine kleine Verbeugung. »Mr Clive Russell. Und Mrs Russell.« Er deutete mit der Hand auf die große, schlanke Frau mit dem Alabasterteint, die ihm gegenübersaß. Ihren langen, makellosen Hals schmückte eine dünne Kette mit funkelnden, goldgefassten Rubinen.
Ich stellte mich ebenfalls vor, und Mrs Russell nickte. »Mr Russell hat recht. Die Medina ist wirklich angsteinflößend, ganz besonders dieser Platz. Dort habe ich Dinge gesehen, die man nirgends zu sehen bekommt. Schlangenbeschwörer mit ihren Tieren, aggressive Affen, Feuer- und Glasschlucker. Und überall grässliche Bettler, die an einem zerren. Und wie die Männer einen anstarren … mir lief es kalt den Rücken herunter. Ein Besuch hat mir gereicht, obwohl Mr Russell an meiner Seite war«, sagte sie.
»Djemma el Fna heißt übrigens ›Versammlung der Toten‹ oder ›Bruderschaft der Verstorbenen‹ – ein grausiger Name«, fuhr Mr Russell fort, indem er sich wieder setzte und sich auf dem Stuhl leicht zu mir umdrehte, um sich weiter mit mir unterhalten zu können. »Früher wurden auf dem Platz Totenköpfe aufgehängt, eine Art Warnung an die Lebenden. Doch die Franzosen haben dem ein Ende bereitet.«
»Gott sei Dank«, sagte Mrs Russell.
»Sind Sie schon lange in Marrakesch?«, fragte ich.
»Seit ein paar Wochen«, erwiderte Mr Russell. »Aber inzwischen ist es viel zu heiß, und wir reisen nächste Woche ab. Weiter nach Essaouira, wo wir den erfrischenden Seewind genießen können. Waren Sie schon dort?«
Ich schüttelte den Kopf. Der Name ließ mich erschrocken aufhorchen, denn in Essaouira war Etiennes Bruder Guillaume im Atlantik ertrunken.
»Es ist ein hübsches Küstenstädtchen«, fügte Mrs Russell hinzu. »Berühmt für seine thuya-Schnitzereien und -Möbel. Ein einziges Möbelstück reicht, und sein Duft verbreitet sich im ganzen Haus. Ich würde gern einen kleinen Tisch kaufen und nach Hause schicken lassen. Finden Sie diese Inneneinrichtung nicht auch wundervoll? Ich komme mir wie in einem Paschapalast vor.«
»Sie sind während Ihres Aufenthalts hier nicht zufällig Dr. Duverger begegnet?«, fragte ich, ohne auf Mrs Russells Frage einzugehen. Das Hotel wurde offenbar von wohlhabenden Ausländern aufgesucht, vielleicht hatte also auch Etienne hier gewohnt. Oder war noch immer hier. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich blickte mich im Saal um.
»Wie hießt noch mal der Arzt, den wir im Zug kennenlernten?«, hörte ich Mrs Russell zu ihrem Mann sagen, und ich wandte mich wieder dem Paar am Nebentisch zu.
Mr Russell schüttelte den Kopf. »Der hieß Dr. Willows. Tut mir leid. Einen Dr. Duverger kennen wir nicht. Aber fragen Sie doch am Empfang, wenn Sie glauben, dass er hier ist.«
»Danke, das werde ich.« Mir war nicht in den Sinn gekommen, den aufgeblasenen Monsieur Henri zu fragen, ob kürzlich ein Dr. Duverger hier abgestiegen war. Warum war mir nicht einmal diese einfache Frage eingefallen? Doch bei meiner Ankunft war ich wie im Schockzustand gewesen, und meine Benommenheit war noch immer nicht ganz verflogen.
»Dieser Garten …« Ich machte eine ausladende Handbewegung zum Fenster.
»Früher war es einmal ein Park«, erklärte Mr Russell, ehe ich dazu kam, meinen Satz zu beenden. »Außerhalb der Stadtmauern der Medina gibt es eine Reihe herrlicher Gärten. Offensichtlich war es der Brauch des herrschenden Sultans, seinen Söhnen zur Hochzeit ein Haus mit Garten außerhalb der Medina zu schenken. Viele der französischen Hotels wurden inmitten dieser ehemals königlichen Gärten erbaut. Dieser Garten erstreckt sich über mehrere tausend Quadratmeter. Sie müssen später unbedingt einen Spaziergang darin machen, denn nachts, wenn die Hitze nachlässt, scheinen die Blumen noch stärker zu duften. Außerdem ist er von einer Mauer umgeben und somit ziemlich sicher.«
Ich nickte. »Danke, das werde ich tun.«
»Ich würde Ihnen ein Napoleon zum Dessert empfehlen. Es ist wunderschön geformt, das Hotel hat nämlich einen französischen Chef-Pâtissier«, sagte Mr Russell und drehte sich kaum merklich auf seinem Stuhl um, aber immerhin so viel, um mir zu bedeuten, dass für ihn die Unterhaltung beendet war. »Uns schmeckt es jedenfalls, nicht wahr, Liebling?«, sagte er zu Mrs Russell.
Nachdem ich mein Abendessen beendet hatte, das mir trotz seiner leichten Konsistenz schwer im Magen lag, trat ich durch die Glastür in den Garten hinaus. In einem der Ballsäle, an denen ich vorbeigekommen war, tanzten Gäste, und die verlassenen Gartenwege wurden von brennenden Fackeln beleuchtet. Es gab Orangen- und Zitronenbäume und Tausende von Rosenbüschen voller leuchtend roter Rosen. Unwillkürlich kamen mir die Rosenblätter in den Sinn, mit denen mein Zimmer geschmückt war. Nachtigallen und Turteltauben nisteten in den Palmen, die die Wege säumten. Ich sah eine Fülle von süß duftenden Mimosen und, zu meinem Erstauen, Pflanzen, die ich auch in meinem eigenen Garten zog: Geranien, Salbei, Stiefmütterchen und Malven.
Mit einem Mal waren die Erinnerungen an zu Hause und mein früheres Leben so weit entfernt. Es war, als hätte die Frau, die dieses einfache Leben führte, abgeschottet von der Welt jenseits der Juniper Road, nichts mit mir zu tun.
Unter fernem Himmel war ich nicht mehr jene Sidonie O’Shea. Seit meiner Abreise aus Albany hatte ich vollkommen unerwartete und unvorhersehbare Dinge gesehen, gehört, gerochen und geschmeckt. Einiges davon war wunderschön gewesen, anderes furchterregend. Einiges lärmend und verstörend, anderes heiter und bewegend. All diese neuen Szenen kamen mir wie Fotografien eines Buches vor, Bilder, die ich im Geiste aufgenommen hatte. Wenn ich langsam darin blätterte, konnte ich sie betrachten.
Vorsichtig überging ich die Fotos von meinem Hotelzimmer in Marseille. Es war zu früh, um jene Bilder anzuschauen. Viel zu früh.
Noch lag die eigentliche Herausforderung – die, derentwegen ich diese weite Reise auf mich genommen hatte – vor mir. Der Gedanke daran, wie ich sie bestehen würde, womöglich schon am nächsten Tag, erfüllte mich mit einer solchen Beklemmung, dass ich mich auf eine Bank setzen musste.
Nach einer Weile blickte ich in den Nachthimmel und lauschte dem leisen Rascheln der Palmwedel in der sanften nächtlichen Brise und den aus der Ferne ertönenden und doch so eindringlichen Geräuschen vom Platz der Medina.
Die Versammlung der Toten. Plötzlich hatte ich eine düstere Vorahnung und fröstelte in der warmen Luft.
Es drängte mich, in die Geborgenheit meines Zimmers zurückzukehren, und mit raschen Schritten ging ich auf das Hotel zu.