SIEBENUNDDREISSIG

Ich betrachtete das hamsa an dem safrangelben Tor. Dann schloss ich die Augen und betätigte den Türklopfer.

Kurz darauf rief Falida von innen, wer da sei.

»Mademoiselle O’Shea«, antwortete ich ruhig.

Sie zog das Tor auf. Ich stand wie angewurzelt da, unfähig, meinen Füßen zu befehlen weiterzugehen.

»Mademoiselle?«, sagte Falida. »Sie reinkommen?«

Ich nickte, nahm einen tiefen Atemzug und trat in den Innenhof. Aus dem Haus drangen laute Stimmen. Badou saß auf der untersten Stufe der Außentreppe.

»Bonjour, Sidonie«, begrüßte er mich, ohne jedoch angerannt zu kommen wie sonst immer.

»Bonjour, Badou. Falida, ist Monsieur Duverger im Haus?«

Sie nickte.

»Bitte geh hinein und sag ihm, Mademoiselle O’Shea sei da.«

Sie trat ins Haus, und einen Augenblick später erstarben die Stimmen.

Leicht zitternd wartete ich, und plötzlich war er da. Etienne. Mein Etienne. Zuerst war ich schockiert angesichts seines Aussehens: Er war viel dünner, als ich ihn in Erinnerung hatte, und nun sah ich noch deutlicher, wie hager sich seine Schultern unter dem Jackett abzeichneten. Doch im Gegensatz dazu wirkte sein Gesicht, das auffällig blass war, aufgeschwemmt. War er schon immer so blass gewesen, oder war ich inzwischen einfach nur eine dunklere Hautfarbe gewohnt?

Er starrte mich an.

Ich versuchte mir in Erinnerung zu rufen, dass ich ihn liebte. Doch als ich ihn so vor mir stehen sah, so … hohl und ausgezehrt, empfand ich keine Liebe. Ich spürte Hass. Ich dachte daran, was ich alles durchgemacht hatte, welche Strapazen ich auf mich genommen hatte, um herzukommen und nach ihm zu suchen, und wie ich mich mit der launischen Manon hatte herumschlagen müssen. An das zermürbende Warten auf ihn.

So hatte ich mir das Wiedersehen nicht vorgestellt. Ich hatte mir ausgemalt, wie er die Arme ausbreitete und ich mich in seine Umarmung warf. Wie ich weinte oder er weinte, oder wir beide weinten. Oh, wie viele Bilder hatte ich vor meinem geistigen Auge erstehen lassen!

Stattdessen standen wir einfach nur da und starrten einander an.

Er ging ein paar Schritte auf mich zu. Er hatte ein Glas in der Hand, und trotz einiger Meter, die uns trennten, roch ich Alkohol. Vage kam mir der Gedanke, dass sein aufgedunsenes Gesicht vom Trinken herrührte.

»Sidonie?«, sagte er und legte die Stirn in Falten.

Meine Albträume kamen mir in den Sinn, davon, wie wir uns wiedersahen und er mich nicht erkannte.

Ich streifte den haik ab und entfernte den Gesichtsschleier. »Ja«, sagte ich. Ich hatte befürchtet, dass meine Stimme beben würde, doch sie klang ganz ruhig. Mein Zittern hatte sich vollständig gelegt. »Ja, ich bin es. Erkennst du mich nicht mehr?«

Seine Augen weiteten sich. »Du … du siehst so anders aus.«

»Du auch.«

»Manon hat mir gesagt, dass du in Marrakesch bist. Ich konnte es zuerst nicht glauben. Du hast diese ganze Reise auf dich genommen.« Sein Blick glitt an meinem Körper hinab, der sich unter dem locker sitzenden Kaftan abzeichnete. Bestimmt hatte Manon ihm auch erzählt, dass ich nicht mehr schwanger war. »Aber … wie? Und …«

Er sagte nicht, warum? Aber ich konnte die Frage heraushören. »Ja«, sagte ich. »Ich habe diese lange Reise zurückgelegt. Und das Baby dabei verloren. In Marseille. Falls Manon dir das nicht schon erzählt hat. Und falls du dich fragen solltest.« Die Sätze kamen mir so leicht von den Lippen, so emotionslos. Ich wusste, dass Etienne erleichtert sein würde.

Aber er war wenigstens so gnädig, sich betroffen zu geben, den Kopf zu schütteln. »Es tut mir leid. Das muss furchtbar für dich gewesen sein. Es tut mir leid, dass ich nicht bei dir war.«

Aber es tat ihm nicht leid, das sah ich. Es war einfach nur so dahingesagt, so wie er vieles so dahingesagt hatte. Bei jeder unserer Begegnungen in Albany hatte er stets die passenden Worte gefunden. Und als mich diese Erkenntnis traf, spürte ich etwas Raues in mir, als durchführe mich einer dieser marokkanischen Dschinn. Ich schlug ihm ins Gesicht, hart und fest, zuerst auf die eine Wange, dann auf die andere. Das Glas fiel ihm aus der Hand, krachte auf den gefliesten Boden, wo es zersplitterte. »Es tut dir nicht leid. Sag nicht, dass es dir leidtut, und schon gar nicht mit diesem einfältigen Ausdruck im Gesicht.« Meine Stimme war laut geworden. Vage nahm ich ein Rascheln hinter mir wahr, das sanfte Geräusch von nackten Füßen auf den Fliesen.

Badou oder Falida, dachte ich flüchtig, aber es war nur der Hauch eines Gedankens.

Etienne fasste sich an die Wange und wich einen Schritt zurück. Auf seinen Lippen war Blut, ich musste ihn so stark getroffen haben, dass sich ein Zahn in seine Lippe gebohrt hatte.

»Ich habe die Ohrfeige verdient«, sagte er und sah mich blinzelnd an. Dann schüttelte er den Kopf. »Aber Sidonie, du weißt nicht alles.«

»Ich weiß, dass du mich sitzen gelassen hast, nachdem du von meiner Schwangerschaft erfuhrst. Du hast Albany verlassen, ohne es auch nur für nötig zu halten, mich anzurufen. Mir einen Brief zu schreiben. Mir eine Nachricht zu hinterlassen. Das zu wissen genügt mir.«

»Und um mir das zu sagen, bist du diesen weiten Weg angereist?« Mit einem Mal schwankte er zur Seite, fing sich aber wieder und ließ sich schwer auf einen Hocker sinken. »Um mich zu schlagen?«

»Nein. Ich bin auf der Suche nach dir hergekommen, weil …«

Plötzlich stand Manon in der Tür. »Weil sie nicht bleiben konnte, wo sie war. Und schau nur, wie du dich benimmst«, fügte sie, an mich gewandt, hinzu, indem sie den Kopf schüttelte. Doch da war Befriedigung in ihrer Miene. »Sind das amerikanische Manieren, hm?« Sie blickte an mir vorbei. »Was gibt es da zu glotzen?«, sagte sie, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie sich Badou in der Nähe des Tors ängstlich an Falida drängte. Sie hatte schützend die Arme um ihn gelegt. »Los, hinaus mit euch«, sagte Manon, worauf Falida Badou bei der Hand nahm und mit ihm hinauslief, ohne das Tor hinter sich zuzumachen.

»Ich weiß, dass du krank bist«, sagte ich schwer atmend. »Manon hat es mir erzählt. Was sind das für Dschinn, von denen du angeblich besessen bist?«

»Ich kann nicht mehr als Arzt arbeiten.« Er hob eine Hand und sah sie an wie einen Feind. »Weil ich mich nicht länger in der Lage sehe, die Verantwortung für das Leben anderer Menschen wahrzunehmen.« Er sah mich mit gequältem Ausdruck an. »Ich kann höchstens noch beraten. Eine Zeit lang. Mein Leben ist vorbei. Ich habe gesehen, was die Krankheit bei meinem Vater anrichtete. Das Gleiche steht nun mir bevor. Ich habe Huntington-Chorea.«

Der Name sagte mir gar nichts.

Ich machte einen Schritt auf ihn zu. »Das mit deiner Krankheit bedaure ich, Etienne. Aber du hättest es mir sagen müssen. Es bestand kein Grund, mich ohne ein Wort zu verlassen. Ich hätte doch Verständnis für deine Lage gehabt.«

»Ich hätte Verständnis für deine Lage gehabt«, äffte Manon mich nach. Ihre Stimme klang hoch und albern, aber da war auch etwas Dunkles darin.

»Können wir woanders hingehen?« Mein Blick streifte sie flüchtig, ehe ich ihn wieder auf ihn heftete. »Irgendwohin, wo wir uns in Ruhe unterhalten können? Unter vier Augen? Hast du mir denn nichts zu sagen? Etwas über uns? Unsere Zeit in Albany?«

»Diese Zeit ist vorbei, Sidonie. Du und ich in Albany, das war einmal.«

Ich wollte nicht, dass Manon mehr von unserem Gespräch mitbekam; ich wollte nicht, dass sie hörte, was wir uns zu sagen hatten. »Manon, los geh ins Haus«, sagte ich barsch. »Kannst du uns nicht wenigstens einen Moment lang allein lassen?«

»Etienne?« Sie sprach seinen Namen betont langsam aus. »Willst du, dass ich gehe?«

Er sah sie an. »Ja, ich denke, es wäre besser.«

Warum behandelte er sie nur so rücksichtsvoll? Die Sache zwischen Etienne und mir hatte schließlich nichts mit ihr zu tun.

Unter dem Rascheln von Seide ging sie hinein. Als sie verschwunden war, setzte ich mich Etienne gegenüber auf das Sofa, zwischen uns der niedrige Tisch mit dem Messingtablett und der shisha. »Ich meine dich zu verstehen, Etienne. Als Manon mir von einer Krankheit erzählte, die von Vater zu Sohn weitergegeben wird, war mir noch nicht klar, was genau du hast. Die … wie heißt sie noch mal?«

»Huntington-Chorea«, sagte er leise und sah auf seine Knie hinab. »Oder Huntington-Krankheit. Sie bricht erst im Erwachsenenalter aus, um das vierzigste Lebensjahr herum, weshalb man es oft erst bemerkt, wenn man bereits Kinder gezeugt hat. Die Chance, die Krankheit weiterzuvererben, beträgt fünfzig Prozent.«

Eine Weile saßen wir schweigend da. Meine Hand hatte dunkle Abdrücke auf seinen aschfahlen Wangen hinterlassen.

»Paranoia, Depression«, fuhr er fort. »Spastische Zuckungen. Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen. Verschliffene Aussprache. Lähmungen. Demenz. Und schließlich …« Er vergrub das Gesicht in den Händen.

Ich blickte auf seinen Kopf hinab, wie ich einen Tag zuvor Aszulays Kopf betrachtet hatte, als er mir die Füße wusch. Ein Anflug von Mitleid durchströmte mich.

»Es tut mir leid, Etienne. Und nun weiß ich auch, warum du mich verlassen hast. Weil du nicht wolltest, dass ich zuschauen muss, wie du leidest. Ich weiß, dass du dieses Leben einer Frau nicht zumuten wolltest. Und deinem Kind. Aber genau das ist es, was Liebe ausmacht. Was Menschen zueinander stehen lässt, gleich, was passiert.«

Er hob den Kopf und sah mich an. Seine Augen waren dunkel und ausdruckslos. Ich hätte so gern gewusst, was er dachte. War sein Gesicht schon immer so verschlossen gewesen?

»Aber mich ohne ein Wort zu verlassen, Etienne. Dass du nicht einmal den Versuch unternommen hast, es mir zu erklären … Nun, das verstehe ich nicht.« Ich sprach in ruhigem Ton. Vernünftig.

Er senkte den Blick wieder. »Ich war einfach feige«, sagte er, und ich nickte, mehr um ihn zum Weitersprechen zu ermuntern. Aber was wollte ich von ihm hören? »Und äußerst respektlos dir gegenüber. Das weiß ich, Sidonie, aber …«

Aber was? Sag, dass du mich beschützen wolltest. Sag, dass du es aus Liebe tatest. Doch während ich diese Worte im Geiste formte, wusste ich, dass es zwar Menschen geben mochte, die so ehrenhaft waren, sich zurückzuziehen, um ihre Liebsten vor Unglück zu bewahren, doch Etienne zählte gewiss nicht dazu. Etienne war kein Mann von Ehre. Er war, wie er gerade zugegeben hatte, ein Feigling.

»Ich habe diese lange Reise nach Nordafrika angetreten, um dich zu finden, Etienne. Daran erkennst du, wie sehr ich an dich geglaubt habe. An dich und an mich. Ich musste dich unbedingt finden, um zu versuchen zu verstehen …« Ich unterbrach mich. Seine Miene war noch immer so verschlossen, nicht bereit, sich mir zu offenbaren. Es juckte mich in den Fingern, ihn abermals ins Gesicht zu schlagen. Ich spürte, dass meine Handflächen noch brannten, und ballte die Hände zusammen.

»Ich habe dich so sehr geliebt.« Mir wurde bewusst, dass ich in der Vergangenheitsform gesprochen hatte. Geliebt. »War also alles nur ein Spiel für dich?«, fragte ich und war selbst erstaunt, weil ich unwillkürlich Manons Worte wiederholt hatte. »Hast du dir nur die Zeit mit mir vertrieben, und ich war so … so naiv, so blind, dass ich glaubte, du würdest dir genauso viel aus mir machen wie ich mir aus dir?«

»Sidonie. Als ich dich kennenlernte, fühlte ich mich zu dir hingezogen. Du hast mich meine Schwierigkeiten vergessen lassen. Du hast mir gutgetan. Kurz bevor ich dich zum ersten Mal sah, erfuhr ich, dass ich dem genetischen Roulette nicht entkommen war. Ich wusste, was die Zukunft für mich parat hielt. Aber ich wollte nicht darüber nachdenken. Ich wollte nur … Ich wollte nur …« Er hielt inne.

»Dich ablenken?« Meine eigene Stimme klang fremd in meinen Ohren. Wieder hatte ich Manons Worte wiederholt.

»Natürlich. Ich habe dir doch gesagt, dass er dich nie geliebt hat.« Manon war wieder im Hauseingang erschienen. Sie kam auf Etienne zu. »Bist du wirklich so blind, dass du es nicht siehst?«

Etienne sah sie an. »Manon, bitte nicht so.« Er wandte sich wieder mir zu. »Wenn ich gewusst hätte, wo du in Marrakesch wohnst, hätte ich dich aufgesucht. Ich hatte keine Ahnung, wo ich dich finde, Sidonie. Ich hätte gern allein mit dir gesprochen. Nicht …« Wieder unterbrach er sich, und Manon lachte. Ein hartes, kurzes Lachen.

»O Etienne, so sag der Frau endlich die Wahrheit, um Himmels willen.« Sie trat zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm, und ihre Finger mit den bemalten Nägeln sahen wie Krallen auf seinem Ärmel aus. »Sie wird es schon verwinden. Sie wirkt zwar zerbrechlich, doch unter ihrer weichen Schale ist sie hart wie Stahl. Also schenk ihr endlich reinen Wein ein, oder ich tu es.« Und dann beugte sie sich zu ihm und küsste ihn. Ein langer Kuss auf den Mund.

Ich war zu schockiert, um etwas zu sagen.

Etienne schob ihre Hand weg und fasste sich mit zitternden Fingern an die Stirn. Dann stand er auf und verließ, ohne mich anzusehen, durch das noch immer offenstehende Tor den Innenhof. Ich war noch immer sprachlos.

»Nun«, sagte Manon. »Nun weißt du es.« Sie gab einen schnalzenden Laut von sich. »Er ist ein Schwächling, der arme Mann. Und das hat nichts mit seiner Krankheit zu tun. Er war schon immer so.«

»Was weiß ich jetzt? Wovon sprichst du?« Hatte sie ihn wirklich so geküsst, oder hatte ich es mir nur eingebildet?

»Es ist ihm unendlich schwergefallen, endlich die Wahrheit zu akzeptieren.« Sie setzte sich neben mich und entzündete die Wasserpfeife, ehe sie einen langen, tiefen Zug nahm. Ich machte den Geruch von kif aus. »Er konnte einfach nicht akzeptieren, dass er ausgerechnet das getan hat, was er unter allen Umständen verhindern wollte.«

Ich betrachtete ihre Lippen, die das Mundstück umschlossen. Sie hatte Etienne gerade geküsst. Aber nicht als Schwester.

»Ja«, fuhr sie fort. »Er hatte gesagt, er würde den Dschinn nicht erlauben, sich fortzupflanzen. Er würde seine Krankheit nicht weitergeben.«

Alles war durcheinander, falsch. Ich öffnete den Mund. »Aber … er weiß doch, dass es kein Kind geben wird …« Meine Stimme klang seltsam entfernt in meinen Ohren.

Manon zuckte die Schultern, als langweilte sie das Gespräch. »Doch, da ist ein Kind«, sagte sie und nahm einen Moment lang die Lippen vom Mundstück.

Ich schüttelte den Kopf. »Was meinst du damit?«

Sie legte den Pfeifenschlauch auf den Tisch, den Rauch noch immer in den Lungen haltend. Schließlich entließ sie ihn langsam und seufzend und starrte mich an. »Badou«, sagte sie.

Ich weiß nicht, wie lange ich sie fassungslos ansah.

Schließlich nahm Manon das Mundstück der Wasserpfeife wieder in die Hand. »Ich habe dafür gesorgt, dass er mich begehrte. Ganz einfach. Nach der Beerdigung seines Vaters, als er noch dachte, ich sei einfach nur die Tochter einer Dienerin, lockte ich ihn zu mir, unter dem Vorwand, mir bei irgendetwas zu helfen. Damit er sich stark und mächtig vorkam und als wäre ich eine schwache Frau, die der Hilfe eines Mannes bedarf.« Die Erinnerung ließ sie lächeln, ein hässliches Lächeln. »Eine zufällige Berührung, ein Blick, der etwas zu lange verweilt … für mich war es einfach nur ein Spiel.« Sie nahm wieder einen Zug aus der Pfeife und senkte die Augenlider. »Es war so einfach, Sidonie. Es brauchte so wenig, bis er anbiss.« Sie schnippte mit den Fingern. »Wie ein Fisch, den man mit einem fetten Köder lockt. Als ich ihn bei der Beerdigung seines Vaters sah, beschloss ich, ihn endlich zu bestrafen, so wie er es verdient hatte: Ich würde ihn dazu bringen, mich zu begehren, mich zu berühren, und ihn von mir kosten lassen, und dann … Paff!« Wieder schnippte sie mit den Fingern. »Würde ich ihn wieder wegschicken. Ich würde ihn verrückt machen. So wie ich es schon mit anderen Männern getan hatte. Es bereitet mir Vergnügen zuzusehen, wie sie sich winden und zappeln, ehe ich sie vom Haken lasse. Doch danach können sie nicht mehr so gut schwimmen. Sie haben Schaden genommen.« Ihr Gesicht glühte. »Sie sind vergiftet von der Begierde nach mir.«

Ich dachte an die gruselige Friedhofsszene, an den Knochen und den Zahn, die Falida ausgebuddelt hatte. Und daran, wie Manon mich mit einem Knochensplitter verletzt hatte.

»Natürlich habe ich ihn auf die Folter gespannt. Ich sorgte dafür, dass er verrückt vor Begierde nach mir war und den Verstand verlor. Und schließlich gab ich nach, wohl wissend, dass er wiederkommen würde. Und das tat er, er kam immer wieder. Nie zuvor hat er eine Frau wie mich gekannt. Er konnte nicht genug von mir kriegen.«

Ich bemühte mich, keinen Vergleich anzustellen, verscheuchte den Gedanken, wie es war, als Etienne und ich zusammen im Bett waren. War da auch dieses Feuer gewesen, von dem Manon sprach?

»Die Geschichte zwischen unserem Vater und meiner Mutter wiederholte sich. Unser Vater war hypnotisiert von meiner Mutter. Er hat ihr Liebesbriefe geschrieben. Nach ihrem Tod habe ich sie aufbewahrt. Ich las, welche Vorlieben er hatte, dass er es liebte, sie zu nehmen, während im Zimmer daneben seine Frau saß und las oder Freunde empfing. Es verschaffte ihm Befriedigung zu wissen, dass seine Frau in Hörweite war; der Reiz des Verbotenen fachte seine Lust an. Und so war es auch mit Etienne. Ich brachte ihn dazu, mich an Orten zu nehmen, wo die Gefahr des Entdecktwerdens bestand und er der Demütigung preisgegeben wäre, würde man ihn mit der Tochter einer Dienerin erwischen.«

»Hör auf«, sagte ich leise. Die Bilder, die sie vor meinem geistigen Auge heraufbeschwor, verursachten mir Übelkeit.

»Nachdem ich ihn zu meinem Liebhaber gemacht hatte, brachte ich ihn dazu, dieses Haus für mich zu kaufen und es auf meinen Namen einzutragen. Ich ließ ihn ein Dokument unterschreiben, mit dem er mir eine großzügige monatliche Unterhaltszahlung garantierte, für immer wohlgemerkt. Für immer. Er wird mich immer unterstützen müssen. Natürlich habe ich ihn damals noch in dem Glauben gelassen, dass ich ihn liebe, dass ich nur ihn wollte, dass wir immer zusammenbleiben würden. Dass kein anderer Mann mich so befriedigen kann wie er. Er war mir ganz und gar verfallen. Er versprach mir, in Marrakesch zu bleiben und als Arzt in der Ville Nouvelle zu arbeiten. Und wir kamen überein, dass es keine Kinder geben würde.

Er hat mir keinen Heiratsantrag gemacht. Natürlich nicht. Hätte er, ein angesehener französischer Arzt, eine marokkanische Dienerin heiraten sollen? O nein. Ich wusste, dass ich immer nur seine Mätresse bleiben würde. Im Grunde seines Herzens glaubte er wohl, dass keine Frau würdig war, von ihm geheiratet zu werden. Eine Frau zum Zeitvertreib, für den Sex, oui. Für die Ehe, non.«

Und ich hatte gedacht, dass er mich heiraten würde.

»Doch als ich dann das Haus hatte und finanziell abgesichert war, sagte ich es ihm. Als ich wusste, dass ich einen festen Platz in seinem Kopf hatte, dass er keinen anderen Gedanken mehr fassen konnte, sagte ich es ihm. Ich wartete den perfekten Moment ab, als sein Gesicht über meinem und er tief in mir drin war.«

»Manon, bitte.« Warum stand ich nicht auf und ging? Warum saß ich noch immer da, wie einem Hexenzauber erlegen, und hörte mir ihre schmutzige Geschichte an?

»Wir sahen einander in die Augen, sein Blick so voller Leidenschaft, voller Liebe, und da sagte ich es ihm. Ich bin deine Schwester. Ich musste es wiederholen. Er verstand zunächst nicht, was ich meinte.« Wieder hatte sie dieses grässliche, siegesgewisse Lächeln auf den Lippen. »Doch als ich es zum dritten Mal sagte, zog er sich aus mir zurück, als stünde mein Körper in Flammen, als drohte ich, ihn zu verbrennen. Etienne, wie er leibt und lebt, forderte einen Beweis von mir. Und da zeigte ich ihm die Briefe unseres Vaters an meine Mutter.«

Übelkeit stieg in mir auf, während ich mir die Szene vorstellte. Ich sah ihr Gesicht vor mir, das widerspiegelte, wie sehr sie jeden Moment genoss, und ich sah Etienne. Seinen Schock, sein Entsetzen. Etienne, der immer die Kontrolle haben musste, der immer eine Antwort auf alles, immer die richtigen Worte zur richtigen Zeit parat hatte.

»Ihm wurde schlecht. Er bekam einen Wutanfall und weinte. Und dann verschwand er. Deswegen ist er nach Amerika gegangen. Weil er es in Marrakesch nicht mehr aushielt. Er hielt es nicht einmal mehr auf derselben Seite des Ozeans aus, wo er mich in der Nähe wusste und ständig die Versuchung lockte, mich wieder zu besitzen.«

»Manon«, sagte ich flüsternd und schüttelte den Kopf. »Manon.« Etwas anderes fiel mir nicht ein.

»Es war für mich nicht schwer, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Schließlich habe ich zahlreiche Freunde in der französischen Gemeinde, einflussreiche Gentlemen. Als ich bemerkte, dass Etienne mich geschwängert hatte – ein Unfall wie bei dir, hm? –, zog ich in Erwägung, es wegmachen zu lassen. Das wäre einfach gewesen, schließlich kenne ich mich mit diesen Dingen aus, nicht wahr? Es wäre nicht das erste Mal gewesen.« Sie starrte mir in die Augen. »Doch eine Stimme in mir sagte, es sei besser, das Kind zu behalten – als eine zusätzliche Lebensversicherung. Während der letzten Jahre schrieb ich Etienne regelmäßig, erzählte ihm, dass ich Mutter geworden sei, und berichtete ihm von unserem Kind. Aber ich machte ihm keine Schuldzuweisungen. Nie kam eine Antwort. Doch letztes Jahr brauchte ich mehr Geld, Sidonie. Also schrieb ich ihm, dass es mir leidtue, ihn benutzt zu haben, dass ich mich geändert hätte und es bereute. Und dass es noch ein dunkles Geheimnis gebe, etwas, was ich ihm nur unter vier Augen sagen könne. Natürlich misstraute er mir, doch weil ich ihn so drängte – und weil er dich loswerden wollte –, kehrte er schließlich nach Marokko zurück.« Sie senkte das Kinn und sah mich beinahe kokett an.

»Hast du dich nie gefragt, warum Etienne – ein Mann von Welt und so klug – sich mit einer Frau wie dir abgab, Sidonie?«

Ich blinzelte. »Wovon redest du da?«

Sie blickte mich jetzt voller Missachtung an. »Du Idiotin. Siehst du es wirklich nicht? Etienne hat nie aufgehört, von mir zu träumen, mich zu begehren. Er liebt mich, nicht dich. Schaust du nicht in den Spiegel und siehst, was ich sehe? Erkennst du nicht, dass Etienne in dir etwas sah, was ihn an mich erinnerte? An die einzige Frau, die er liebte? Auch die Tatsache, dass du gemalt hast, nun …« Sie zuckte die Schultern. »Weil er das kostbare Original nicht haben konnte, hat er sich mit einer faden Kopie begnügt. Mehr warst du für ihn nicht. Ein schwaches Abbild der Frau, die er wirklich liebte, aber nicht haben konnte. Er hat sich dir nur zugewendet, weil du ihn ein bisschen an mich erinnertest. Und weil er wusste, dass es für ihn ein Leichtes war, dich zu besitzen. Mich konnte er nie ganz besitzen, aber dich – begreifst du das nicht? Jedes Mal, wenn er dich in den Armen hielt, wenn er mit dir schlief, Sidonie, träumte er von mir. Er schloss die Augen und sah mich. Du hast ihm nie etwas bedeutet. Gar nichts.«

Ich stand auf, stieß an das Messingtablett, das mit einem metallischen Klirren zu Boden fiel. In dem verebbenden Nachhall hörte ich Manons Worte wieder und wieder, und sie verschmolzen ineinander wie die Bilder in einem Spiegel, vor den man noch einen Spiegel hält.

Gar nichts.