EINUNDDREISSIG

Am nächsten Tag sagte Mena etwas auf Arabisch zu mir. Ich verstand, dass sie mir vorschlug, gemeinsam mit ihr das Hamam zu besuchen. Ich wohnte nun seit zwei Wochen in der Sharia Soura und hatte hin und wieder in einer zerbeulten Wanne in meinem Zimmer gebadet. Doch ich sehnte mich nach einem richtigen Bad. Ich wusste, dass in Marrakesch sowohl Männer als auch Frauen einmal in der Woche ein Hamam, ein öffentliches Dampfbad, besuchten, hatte jedoch keine Ahnung, was das in Wirklichkeit war.

Ich nickte, worauf Mena mir zwei kleine Blecheimer reichte. Darin befanden sich mehrere raue Stofflappen, die sie kese nannte, wobei sie mir zu verstehen gab, dass man sich damit abrubbelte, sowie zwei große aufgerollte Tücher – fotas –, das eine, um sich darin einzuwickeln, und das andere zum Abtrocknen. Ich wusste, dass es für einen Moslem eine Sünde war, den nackten Körper eines anderen Menschen zu betrachten, und war daher erleichtert, dass man sich offensichtlich auch im Dampfbad bedeckte. Auch wenn es einen Männer- und Frauenbereich gab, so war mir bei dem Gedanken, ein öffentliches Bad zu besuchen, doch etwas unbehaglich zumute.

Mena hielt mir ein Behältnis mit einer klebrigen schwarzen Substanz unter die Nase. Sie roch nach Rosenblättern und Olivenöl, und Mena rieb die Hände aneinander, eine Geste, mit der sie mir bedeutete, dass es sich um Seife handelte.

Je einen kleinen Eimer in jeder Hand, gingen Mena und ich hinter Najeeb her durch die Medina. Nach zehn Minuten hielten wir vor einem schilderlosen Eingang und stiegen eine Steintreppe empor, deren Stufen in der Mitte durch Generationen von Füßen ausgetreten waren. Am oberen Treppenabsatz befand sich kaum sichtbar eine so schmale Tür, dass ich mit den Eimern am Türrahmen anstieß. Drinnen war es schummrig, und ein starker Eukalyptusduft lag in der heißen, dampfigen Luft. Eine unverschleierte Frau in einem einfachen weißen Kaftan kam uns entgegen.

Mena reichte ihr zwei Münzen, die Frau rief nach jemandem, und zwei weitere Frauen traten durch eine Tür. Die fotas, die sie um den Körper gewickelt und vor der Brust übereinandergeschlagen hatten, reichten ihnen bis zu den Knien. Ums Haar hatten sie ebenfalls ein Tuch geschlungen.

»Tayebas«, erklärte Mena, und ich nahm an, dass es sich um zwei Helferinnen handelte. Wir folgten ihnen durch eine Flucht dunkler, gefliester Räume. Ein paar flackernde Lampen an den Wänden spendeten hie und da ein spärliches Licht, sodass ich mich in der Unterwelt wähnte. Die Wände waren feucht, von den Decken tropfte es.

Als wir an einem weiteren Raum vorbeikamen, schlug mir eine Hitzewelle entgegen. Ich spähte hinein, konnte aber nur die schattenhaften Umrisse von Menschen ausmachen, die mit getrockneten Palmwedeln Feuer anfachten.

Schließlich wurden wir in einen Raum mit Holzkabinen geführt, einige davon leer, in den anderen wiederum hingen Frauenkleider an Haken. Mena begann sich auszuziehen, indem sie zuerst den haik ablegte, dann die dfina und schließlich ihren Kaftan; dann hängte sie die Kleidungsstücke in eine leere Kabine. Als Nächstes entledigte sie sich des weißen Baumwollunterrocks und stand in einem weißen langärmeligen Hemd und langer Pluderhose da, die an den Beinnähten mit Spitze besetzt war. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Marokkanerinnen so viele Lagen Kleidung trugen, und fragte mich, wie sie bei all dem Stoff die Hitze ertragen konnten. Mena drehte sich von mir weg und beschirmte mit ihrer fota den Körper, während sie die letzten beiden Kleidungsstücke abstreifte. Ich tat es ihr gleich und wickelte mich dann in meine fota ein, wobei ich sie über der Brust so übereinanderschlug, wie ich es bei den beiden tayebas gesehen hatte, die auf uns warteten.

Wieder folgten wir den beiden Frauen mit unseren Eimern in den Händen. Wir betraten einen großen dampfigen Raum, an dessen Stirnwand sich zwei hohe Wasserbecken befanden. Einige Frauen saßen auf dem Steinboden und rubbelten sich ab oder ließen sich von einer tayeba abrubbeln. Kleine Kinder krabbelten nackt auf dem feuchten Boden herum. Ein Baby von ungefähr sechs Monaten saß in einem Kübel und lachte, während seine Mutter es mit Wasser beträufelte. Meine tayeba bedeutete mir, mich neben eines der Wasserbecken zu stellen, nahm dann einen meiner Eimer, füllte ihn mit Wasser und leerte ihn über mir aus. Ich keuchte, denn es war heißer, als ich erwartet hatte. Sie wiederholte die Prozedur einige Male, bis ich vollständig nass war. Dann füllte sie den Eimer nochmals und forderte mich auf, mit ihr zu kommen, ehe sie zu einer freien Stelle an der gegenüberliegenden Wand ging. Der Boden neigte sich zu den Wasserbecken hin, und das Wasser lief durch eine Rinne darunter ab. Die tayeba gab mir zu verstehen, mich auf den Boden zu setzen. Meine Haut war von Wasser und Dampf bereits aufgeweicht. Sobald ich auf dem Boden saß, machte sich die Frau daran, mich mit einem der rauen kese abzurubbeln, die sie einem meiner Eimer entnommen hatte. Ich hielt den Atem an, denn es tat weh. Sie rieb und rubbelte, hielt zuerst den einen Arm hoch und rubbelte, dann den anderen, als wäre ich ein kleines Kind, drückte meinen Kopf nach vorn, um meinen Nacken gründlich abzureiben. Währenddessen sah ich zu, wie sich die abgestorbenen Hautschuppen von meinen Beinen und Armen kringelten und meine Haut feuerrot wurde. Schließlich setzte sie sich mir gegenüber hin, nahm meinen linken Fuß und legte ihn sich in den Schoß. Sie zauberte einen rauen Stein aus den Falten ihrer fota und schabte damit so kräftig meine Fußsohle ab, dass ich blinzeln musste. Sie wiederholte die Prozedur mit dem rechten Fuß, um gleich wieder in der Bewegung innezuhalten. Sie warf mir einen Blick zu und fragte etwas auf Arabisch. Ich vermutete, dass sie wissen wollte, ob sie mir wehtat. Ich schüttelte den Kopf, worauf sie sich erneut über den Fuß beugte und ebenso kräftig die Hornhaut abschabte wie beim anderen.

Es war so schummrig im Raum – nur wenige Lampen an den Wänden spendeten ein flackerndes Licht –, dass ich die anderen Frauen nur schemenhaft wahrnahm. Dennoch konnte ich sehen, wie eine Frau in meiner Nähe eine schlammige Paste in die Achselhöhlen gab und sie dann schnell wieder abspülte. Offensichtlich entfernte sie sich die Haare.

Zum Schluss nahm die tayeba eine Hand voll aus dem Behältnis mit der schwarzen Oliven- und Rosenseife, das ich mitgebracht hatte, und schäumte mich damit ein. Sie fühlte sich an wie zerlassene, warme Butter auf meiner Haut, und ich schloss die Augen, um die wohltuende Behandlung zu genießen, während sie mich von Kopf bis Fuß einrieb; mit den Händen fuhr sie sogar unter meine fota, um die Oberschenkel einzuseifen. Immer wieder seifte sie mich ein und spülte mich wieder ab. Schließlich trat sie hinter mich und begann, mein Haar und die Kopfhaut zu kneten. Ich tastete mit der Hand nach oben und fühlte eine grießige Substanz, die wie Lehm anmutete. Dann roch ich an den Fingern und machte Lavendel- und abermals Rosenduft aus. Nachdem sie gründlich meine Haare ausgespült hatte, reichte sie mir die beiden Eimer, führte mich in einen anderen Raum und ließ mich dort zurück.

Hier war es ebenso heiß wie im ersten, aber weniger dampfig. In ein Badetuch gehüllte Frauen lagen in bequemer Position auf dem Boden und plauderten ausgelassen miteinander. Mir ging auf, dass das Hamam nicht nur eine rituelle Badeanstalt war, sondern obendrein eine ähnliche Funktion erfüllte wie die Dächer: Es war ein Refugium für Frauen, wo sie sie selbst sein konnten. In einer Kultur, in der alles strikt zwischen Männern und Frauen getrennt war und sich Letztere stets im Hintergrund zu halten hatten und allenfalls als unkenntliche Schatten in der Öffentlichkeit herumhuschten, war dies ein Ort der Freiheit und Kameraderie. Ich entdeckte eine freie Stelle an der Wand, breitete ein weiteres Tuch aus meinem Eimer auf dem warmen Steinboden aus und setzte mich darauf. Ich streckte die Beine aus, strich mir das nasse Haar aus den Augen und betrachtete die Frauen um mich herum.

Die Bandbreite der Hauttöne reichte von einem blassen bis lohfarbenen Teint über ein warmes Milchkaffeebraun bis zu dunklem Kaffeebraun. Bei manchen Frauen bemerkte ich tiefe Narben und seltsame Geschwülste, Muttermale und Ekzeme. Jeder Körper, so schien es, war von dem jeweiligen Leben gezeichnet. Ich ließ den Blick an meinem Körper hinabgleiten, und plötzlich, vielleicht zum ersten Mal, gefiel mir der warme Teint meiner Haut. Auch bemerkte ich, dass mein Gewebe straff und glatt war, die Haut makellos. Immer hatte ich sie für zu dunkel und unattraktiv gehalten im Vergleich zu dem perlweißen, creme- oder alabasterfarbenen Teint der Angelsachsen meiner Heimat. Ich fuhr mit der Hand über die Schenkel und staunte über die seidene Textur meiner Haut, nachdem sie so gründlich abgeschrubbt worden war. Dann rieb ich mir über die Arme und ließ die Hände auf den Schultern verweilen.

Niemand schenkte mir Beachtung, nahm Notiz von meinem hinkenden Gang. Ich war einfach nur eine Frau von vielen, an deren Körper das Leben ebenso Spuren hinterlassen hatte wie an den anderen auch.

Mena kam zu mir und setzte sich neben mich. Ich lächelte sie an, und sie lächelte ebenfalls. Sie betrachtete meine Beine und deutete auf das rechte, indem sie etwas sagte. Da ich nicht wusste, wie ich auf Arabisch erklären sollte, dass mein weher Fuß die Folge einer Kinderlähmung sei, sagte ich einfach nur: Ich Kind sehr krank. Da nickte sie und hob ihr Haar im Nacken hoch, um mir eine tiefe, schlecht verheilte Narbe zu zeigen. Das arabische Wort für Vater, das sie benutzte, war mir bekannt, doch der Sinn eines anderen Wortes, das sie mehrmals mit finsterer Miene wiederholte, erschloss sich mir nicht, sodass ich nicht begriff, was sie mir sagen wollte.

Dann machte sie eine Geste, als würde sie ein Kind in den Armen wiegen, und ich begriff, dass sie mich fragte, ob ich Kinder hätte. Ich sah ihr ins Gesicht, und aus unerfindlichem Grund sagte ich Ja und legte die Hand auf den Bauch, um dann gen Himmel zu deuten, in der Hoffnung, dass sie mich verstehen würde.

Das tat sie. Sie ahmte meine Gebärde dreimal nach.

Drei? Hatte sie drei Fehlgeburten gehabt oder waren drei Kinder gestorben? Aber sie war ja noch so jung. Unwillkürlich legte ich die Hände auf ihre und drückte sie. Sie erwiderte die Geste, und plötzlich traten mir Tränen in die Augen.

Ich hatte meinen Verlust mit niemandem geteilt, abgesehen davon, dass ich Manon von meiner Fehlgeburt erzählte, nachdem sie mich der Lüge bezichtigt hatte. Und jetzt, da ich meine Trauer nicht in Worten auszudrücken vermochte, riss die alte Wunde wieder auf. Ich wusste, dass Mena verstand, was ich empfand, und ich wusste, wie sie sich fühlte. Ihre Augen wurden ebenfalls feucht, während sie noch immer meine Hände hielt.

Ich spürte, dass sie mich gernhatte, und mit einem Mal wurde auch mir warm ums Herz. Der nicht mehr junge Mann mit der welken Haut an den Unterarmen kam mir in den Sinn, ihr Ehemann, und ich stellte mir vor, wie er sie nachts in ihrem Bett aufsuchte. Ich stellte mir vor, wie sie Tag für Tag den argwöhnischen Blick der strengen Nawar ertragen musste, die ihre Macht als erste Frau im Haus geltend machte und die jüngere, hübsche Frau gewiss nicht mit offenen Armen empfangen hatte.

Wo lebte Menas Familie? Liebte sie ihren Mann, oder war ihre Ehe arrangiert worden? Woher rührte die tiefe Narbe in ihrem Nacken? Warum hatte sie drei Kinder verloren? Würde sie weitere Kinder bekommen? Sie ließ meine Hände los, tätschelte mir den Unterarm, und ich trocknete mir mit dem Zipfel meines Badetuchs das Gesicht.

Seite an Seite saßen wir da, und unsere Schultern berührten sich. Nachdem die Tränen versiegt waren, überkam mich eine tiefe Ruhe. Wie merkwürdig, dachte ich, da musste ich um die halbe Welt reisen, um die einzige Freundin zu finden, die ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr gehabt hatte – eine junge verheiratete Marokkanerin.

Eine große Ruhe überkam mich. Seit dem Tag, da ich Etienne von meiner Schwangerschaft erzählt und mich dann auf diese verwirrende, furchterregende und bisweilen auch gefährliche Reise begeben hatte, war ich von den Ereignissen überwältigt worden. Ich hatte wochenlang eine so große Unsicherheit verspürt, die nun allmählich nachließ.

Ich dachte daran, wie dieses neue Gefühl des Loslassens begonnen hatte, als ich Aszulay beobachtete, wie er dem Vogelgeträller lauschte, und wie es sich später festigte, als ich auf dem Dach in der Sonne lag und mir Badous und Falidas Gesichtsausdruck ins Gedächtnis rief, nachdem ich ihnen eine Kleinigkeit gekauft hatte – Badou ein weiteres Buch und Falida ein Kopftuch. Wieder rief ich mir Aszulays Gesicht vor Augen, als er mich ansah, während ich im Majorelle-Garten ausgelassen lachte, und das blendende Weiß seiner Zähne im Kontrast zu seinem sonnengebräunten Gesicht. Und während ich abermals im Geiste sah, wie er dem Vogel über uns im Baum lauschte, wurde ich schläfrig und ließ mich von dem Gefühl inneren Friedens einlullen. Ich zog die Knie an, legte die Stirn auf die Arme und schloss die Augen. Ich musste wohl eingeschlafen sein, denn nach einer Weile schreckte ich auf, als Mena neben mir etwas sagte. Sie bedeutete mir mitzukommen, und ich folgte ihr zu einer Tür, die zu einem Durchgang führte. Ich nahm an, dass wir wieder in den Umkleideraum zurückgehen würden, aber wir gelangten in einen weiteren Raum, in dem Frauen auf dem Boden saßen oder lagen und sich von anderen Frauen massieren ließen. Als ich sah, wie sie sich gegenseitig rieben und kneteten, musste ich daran denken, wie ich immer den Brotteig geknetet hatte.

Mena wies mich an, mich auf den Bauch zu legen, deutete zuerst auf mich und dann auf sich, und ich begriff, dass wir uns nun ebenfalls gegenseitig massieren würden.

Zuerst drohte meine alte Schüchternheit zurückzukehren, und ich war versucht, dankend abzulehnen, doch ich tat es nicht, sondern beschloss, mich dem Ritual eines Hamam-Besuchs zu beugen: Auf das Abrubbeln und Reinigen folgte die Entspannung im Dampf und dann die Massage. Ich breitete mein Tuch auf dem Boden aus und legte mich auf den warmen Fliesen auf den Bauch, den Kopf auf den verschränkten Armen, so wie die anderen Frauen auch. Mena kniete sich neben mich und begann meine Schultern zu massieren.

Eigentlich hatte ich erwartet, dass es mir unangenehm wäre, wenn eine andere Frau meinen Körper berührte, doch in dieser Umgebung fühlte es sich ganz natürlich an.

Wieder schloss ich die Augen.

Wie lange war es her, dass mein Körper zuletzt von jemandem berührt worden war? Im Geiste überschlug ich die verflossenen Monate: Das letzte Mal war an jenem Morgen gewesen, als ich Etienne erzählte, dass ich ein Kind erwartete. Ich versuchte mir in Erinnerung zu rufen, wie Etienne und ich uns nähergekommen waren, und mir seine Zärtlichkeiten vorzustellen. Während Mena mit ihren kräftigen, geschickten Händen meinen feuchten Rücken, dann die Hüften und Gesäßbacken und schließlich Beine und Füße durch die dünne fota hindurch massierte, überkam mich eine wohlige Benommenheit. Noch immer dachte ich an Etiennes Hände, die meinen Körper erkundeten, stellte mir seinen Körper auf meinem vor und ließ zu, dass meine Fantasie unsere intimsten Momente heraufbeschwor.

Als Mena mich an der Schulter berührte, wusste ich, dass die Reihe nun an mir war, ihr diese Wohltat angedeihen zu lassen. Ich öffnete die Augen und blinzelte mich in die warme, wohlduftende Wirklichkeit des Hamams zurück.

Während ich mich neben Mena kniete und langsam begann, ihre Schultern zu kneten, gewahrte ich, dass ich gar nicht an Etienne gedacht hatte. Die Hände und der Körper, die in meiner Fantasie vorgekommen waren, hatten einen bläulichen Schimmer.

Schließlich begaben wir uns wieder in den Umkleideraum, wo wir uns abtrockneten und anzogen, um dann mit unseren kleinen Eimern, in denen unsere feuchten Tücher lagen, den Rückweg in die Sharia Soura anzutreten, wie immer beschattet von Najeeb.

Während wir schweigend durch die Straßen gingen, war ich mir meines Körpers, der sich feucht und sauber und frei unter meinem Kaftan anfühlte, bewusster denn je. Es war, als ob jede Nervenzelle geweckt worden wäre, und auch wenn mein Atem langsam und gleichmäßig ging, hatte ich das Gefühl, als schlüge mein Herz ein wenig schneller als sonst.

Ich verspürte ein ungekanntes Wohlgefühl.

Meine unerwarteten Fantasien über Aszulay gingen mir nicht mehr aus dem Kopf, und ich schob die Schuld auf die außergewöhnliche Umgebung, in der ich mich wiedergefunden hatte, auf die sinnliche Atmosphäre des Hamam.

Einen anderen Grund gab es nicht, versuchte ich mir einzureden.

Am Nachmittag wollte ich nach Badou und Falida sehen. Wieder begab ich mich in Begleitung Najeebs – oder aber seines Zwillingsbruders, denn ich konnte die beiden Jungen nicht auseinanderhalten – in die Sharia Zitoun. Ich klopfte und wartete, dass Badou oder Falida mir aufmachten.

Aber es war Manon, die das Tor aufzog.

Ich sog scharf die Luft ein: Mir war zwar bewust gewesen, dass sie jederzeit zurückkommen konnte, doch an diesem Tag hatte ich nicht mit ihr gerechnet.

»Was willst du?«, fragte sie.

Ich hob meinen Korb hoch. »Ich habe Essen mitgebracht. Für Badou«, sagte ich, denn ich ahnte, es sei besser, Falida nicht zu erwähnen.

»Du brauchst mein Kind nicht zu versorgen. Ich bin sehr wohl in der Lage, das selbst zu tun.«

»Natürlich. Ich dachte nur, du seist noch weg, und Aszulay …«

»Also haben du und Aszulay euch angefreundet, hm?«, fragte sie und starrte mich feindselig an.

Ich stand noch immer im Eingang. »Nun gut, da du wieder da bist, brauche ich mich ja nicht länger um Badou zu kümmern.«

»Es gibt keinen Grund, und du hast kein Recht, dich um mein Kind zu sorgen. Aber komm rein, ich will nicht, dass die Nachbarn reden.«

Ich sah mich kurz in der menschenleeren Straße um und trat in den Innenhof. Manon schloss das Tor hinter mir und schob den Riegel vor.

»Wo ist Badou?«, fragte ich. Im Innenhof war niemand, und auch aus dem Haus war nichts zu hören.

»Ich habe ihn zusammen mit Falida in die Souks geschickt. Was hast du mitgebracht?«

Sie nahm mir den Korb ab, hob das Tuch hoch und lüpfte dann den Deckel des Topfes mit dem Couscous-Gemüse-Eintopf. »Aha, seit wann kochst du denn marokkanisches Essen?«

»Gut, ich gehe dann wieder, und da du das Essen ja nicht brauchst, nehme ich es eben wieder mit.« Ich langte nach dem Henkel des Korbs, aber sie ließ ihn nicht los.

»Badou hat mir erzählt, dass du mit ihm und Aszulay aufs Land fährst.« Ihre Stimme klang ausdruckslos. Ihre Hand, die den Korb hielt, war nur wenige Zentimeter von meiner entfernt. »Warum fährst du mit? Dort gibt es außer Berbern und Kamelen nichts zu sehen. Nur Staub und Dreck. Keine zehn Pferde würden mich in dieses Kaff bringen.«

Ich antwortete nichts.

»Du weißt ja, dass er eine Frau hat«, sagte sie mit einem verschlagenen Lächeln. Ihr Daumen legte sich auf meine Finger und drückte sie auf den Henkel des Korbs.

Ich spürte einen Stich. Ich hatte mir eingeredet, Aszulay sei nicht verheiratet. Und natürlich war der Mann, der wenige Stunden zuvor im Hamam in meinen Fantasien vorgekommen war, unverheiratet gewesen.

Mit einem Mal war ich mir sicher, dass Manon log, so wie sie mich über Etienne angelogen hatte.

»Tatsächlich?«, sagte ich. »Ich war bei ihm zu Hause und habe außer der alten Dienerin keine Frau gesehen.« Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, ihr von meinem Besuch in Aszulays Haus zu erzählen, doch Manon hatte es mal wieder geschafft, mich zu provozieren, indem sie sagte: Du weißt ja, dass er eine Frau hat, um dann abzuwarten, wie ich reagieren würde. Offensichtlich ging sie davon aus, dass es mir sehr wohl etwas ausmachte, wenn Aszulay verheiratet war – so als hätte sie die Bilder in meinem Kopf gesehen.

Ihr Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war, und der Druck ihres Daumens auf meinen Fingern verstärkte sich. »Du warst bei ihm«, sagte sie.

Ich sah sie an und versuchte erst gar nicht, meine Hand zurückzuziehen. »Ich habe keine Frau gesehen«, wiederholte ich.

»Was hast du dort gemacht?«

»Das geht nur mich etwas an.« Als ich merkte, dass diesmal ich es war, die sie zu einer Reaktion bewogen hatte, straffte ich die Schultern: Ich konnte dieser Frau die Stirn bieten. Sie vermochte mich nicht länger mit ihren Worten zu verletzen.

»Natürlich hast du sie nicht gesehen. Sie lebt ja nicht in der Stadt.«

Was hatte Aszulay genau gesagt? Ich versuchte mir seine Worte ins Gedächtnis zu rufen, mit denen er mich eingeladen hatte, ihn und Badou zu begleiten. Alle paar Monate besuche ich meine Familie. Ich zog meine Hand zurück. »Und wenn schon? Dann hat er eben eine Frau.«

»Sie ist ein richtiges Mädchen vom Land. Weit unter seinem Stand«, sagte sie verächtlich. »Ein Nomadentrampel. Sie lebt dort, wo sie hingehört, nämlich inmitten ihrer Ziegen.«

»Ach ja?«, sagte ich mit gespieltem Desinteresse.

»Willst du noch immer mit ins bled fahren? Du willst mitkommen und zuschauen, wie Aszulay mit seiner Frau zusammen ist?«

»Warum nicht? Was sollte mir das ausmachen?« Dieses Spielchen, das wir begonnen hatten, beunruhigte mich zusehends. Vielleicht, so überlegte ich, sollte ich doch besser nicht mit Aszulay aufs Land fahren.

Aber das würde bedeuten, Manon den Sieg zu überlassen.

Mit gleichmütiger Stimme fragte ich: »Warum hast du eine solche Abneigung gegen sie?« Natürlich wusste ich, warum sie so abfällig über Aszulays Frau gesprochen hatte. Weil sie selbst eifersüchtig auf sie war. Und auf mich, weil Aszulay mir Aufmerksamkeit schenkte.

Aber sie hatte Olivier. Und sie hatte Aszulay, obwohl sie wusste, dass er verheiratet war. War das nicht genug? Wie viel wollte sie noch von Aszulay, was brauchte sie von ihm?

Wieder streckte ich die Hand nach dem Henkel des Korbs aus und zog an ihm, und schließlich ließ sie ihn los. »Ich gehe jetzt«, sagte ich und wandte mich dem Ausgang zu.

»Ach bitte, Sidonie, warte noch«, sagte Manon in einem freundlichen Ton, den ich noch nie zuvor bei ihr gehört hatte. »Ich wollte dir etwas geben. Warte, ich bin gleich wieder da.«

Ich wurde sofort misstrauisch: Noch nie hatte Manon mir eine Freundlichkeit erwiesen, andererseits war ich neugierig, was sie jetzt wieder im Schilde führte. Sie ging schnell die Treppe hinauf und kam kurz darauf mit einem Gegenstand in der Hand zurück.

»Ein Tintenfass mit Schreibfeder«, sagte sie. »Ein antikes Stück, wie es die Schreiber früher benutzt haben.« Sie hielt mir das Tintenfass hin. Es war ein eiförmiges, kunstvoll verziertes Silberbehältnis. »Schau, hier ist die Feder«, sagte sie und zog an dem langen Metallfederhalter. Etwas Dunkles – Tinte? – glänzte an der Spitze. Sie tat, als wollte sie es mir in die rechte Hand geben, doch sie traf mich mit der Spitze, die eine scharfe Kerbe in meinen Handballen ritzte. Instinktiv zuckte ich zurück, und auf dem Ballen bildete sich eine Blutperle.

»Oh, tut mir leid«, sagte sie, leckte ihren Finger ab und berührte die Wunde. Während sie den Finger daraufhielt, murmelte sie leise einen Vers.

Ein Schauder überlief mich. »Was hast du da gesagt?« Ruckartig zog ich die Hand zurück und rieb den Handballen an meinem haik ab.

Sie starrte mich aus ihren dunklen Augen an. »Ich habe nur gesagt, wie ungeschickt ich war.« Doch ich wusste, dass sie log. Ich sah es an ihrem Blick – sie wirkte äußerst zufrieden.

Ich sah das Tintenfass und den Federhalter an, die sie mir noch immer hinhielt. »Ich will das nicht.« Damit drehte ich mich um, ging zum Tor, schob den Riegel zurück und verließ den Innenhof, ohne das Tor zuzumachen oder mich umzublicken.

Während des Abendessens wurde ich krank. Der Ehemann und die Söhne hatten bereits gegessen, und ich saß mit Mena auf einem der Kissen an dem niedrigen Tisch im Wohnzimmer. Nawar war noch in der Küche, und wir warteten auf sie. Doch während ich das Essen auf dem Tisch ansah, verschwamm es vor meinen Augen. Meine Hand schmerzte, und ich betrachtete sie. Der Handballen war geschwollen, die kleine Wunde aufgedunsen und an den Rändern dunkelrot.

Ich wollte nach oben in mein Zimmer, um mich hinzulegen, und versuchte aufzustehen, indem ich mich mit der linken Hand auf dem Tisch abstützte. Mena sah mich besorgt an, fragte mich etwas, doch ihre Stimme kam von weit her.

»Krank«, sagte ich auf Arabisch, und Mena stand auf und kam zu mir.

Schweißperlen traten mir auf die Stirn, und ich wischte sie mit der rechten Hand ab.

Mena umfasste mein Handgelenk und besah sich den geschwollenen Ballen, wie ich fand, einen Augenblick zu lang. Ich verstand ihre auf Arabisch gestellte Frage: »Was ist das?«

Ich zitterte und hatte mit einem Mal nur noch das Bedürfnis zu schlafen. Als ich meine Hand zurückziehen wollte, hielt Mena sie fest und stellte mir dieselbe Frage noch mal.

Wie sollte ich es ihr mit meinem dürftigen Arabisch erklären? »Frau«, sagte ich mit matter Stimme. »Mich verletzt

»Sikien?«, fragte sie, und ich schüttelte den Kopf, weil ich nicht verstanden hatte. Sie nahm mit der anderen Hand ein Messer vom Tisch. »Sikien«, wiederholte sie und deutete auf meinen Handballen.

Wieder schüttelte ich den Kopf und ahmte mit der anderen Hand eine schreibende Geste nach. Wie lautete das arabische Wort für Füllfederhalter? Und warum machte Mena ein so großes Aufheben, wo ich mich doch nur ein wenig krank fühlte?

»Qalam?«, sagte sie schnell, und diesmal nickte ich.

»Ja, qalam. Federhalter. Sie hat mich mit einer Feder gestochen«, murmelte ich, obwohl ich wusste, dass sie kein Französisch verstand. Wieder wollte ich meine Hand wegziehen, doch Mena hielt sie noch immer fest. Sie rief nach Nawar und der Dienerin. Beide kamen aus der Küche angerannt, und Mena sprach aufgeregt mit ihnen und zeigte auf meine Hand.

Die alte Dienerin stieß einen Klagelaut aus, wiederholte ein ums andere Mal ein bestimmtes Wort, das ich nicht verstand, drehte sich zu Nawar um, und ich hörte, wie sie »Aszulay« sagte.

Mit einem Mal war es viel zu heiß und hell im Zimmer. Männliche Stimmen und Nawars Gebete mischten sich mit dem Gejammer der alten Dienerin, bis sich alle Laute zu einem unverständlichen dämonischen Gekreische vereinten. Der Raum kippte, und der Boden kam mir entgegen.