VIERUNDDREISSIG

Wie die meisten anderen kleineren Kinder auch war Badou eingeschlafen, eingerollt auf der sich langsam abkühlenden Erde neben mir. Zohra hob ihre ebenfalls schlafende jüngere Tochter hoch und gab mir ein Zeichen, es ihr gleichzutun. Ich stand auf und hievte Badou hoch, der schlaff und schwer in meinen Armen lag. Es bereitete mir Schwierigkeiten, mit dem Jungen auf den Armen über den unebenen Boden zu gehen, und ich folgte Zohra langsam und vorsichtig. Am Himmel leuchteten unzählige Sterne, und die Sichel des Neumonds lag auf dem Rücken.

Während wir auf ein Zelt zugingen, blieb Zohra stehen und deutete auf eine Konstellation, die aussah wie ein Drachen mit seinem Schwanz. Sie sagte etwas auf Tamazight, und ich schüttelte nur verständnislos den Kopf. Einen Moment lang schloss sie die Augen, um sich zu konzentrieren, und sagte dann: »La croix.«

»Das Kreuz?«

Sie nickte, und da fiel mir die Weissagung Mohammeds mit seinem Affen Hasi ein. Mohammed hatte vom Kreuz des Südens gesprochen, unter dem sich irgendetwas ereignen würde, aber damals hatte ich freilich angenommen, dass er sich in Allgemeinplätzen erging. Dass er jeder Ausländerin, die dumm genug war, dafür einen Sou oder zwei herauszurücken, die gleiche Geschichte erzählte. Doch als ich nun unter dem funkelnden Sternenhimmel stand, war es für mich mit einem Mal wichtig, mir seine Worte ins Gedächtnis zu rufen. Unter dem Kreuz des Südens werden Sie finden, was Sie suchen. Aber weil es eine andere Gestalt angenommen hat, werden Sie es möglicherweise nicht erkennen Außerdem hatte er von den Dschinn gesprochen.

Badou rührte sich in meinen Armen, und während ich noch immer das Kreuz des Südens betrachtete, zog ich ihn fester an mich. Sein kleiner Körper fühlte sich in der kühlen Nachtluft noch immer warm an, und er roch wie die Erde. Ich dachte an Aszulay, der ein Bröckchen roter Erde gekostet hatte.

Ich nahm den Blick vom Himmel und sah auf Badou hinab.

Seine nackten Füße waren mit einer trockenen Schlammschicht bedeckt, die vom Barfußlaufen am Bachufer herrührte – wo waren seine babouches?, fragte ich mich –, und ein zufriedener Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Er drehte den Kopf, sodass seine Nase gegen meine Schulter drückte.

Zohra hatte den Zipfel des Zelteingangs zur Seite gezogen. Ich erkannte einige Kinder, die auf dem Boden lagen, der mit einer dicken Schicht Teppichläufern und Tierfellen ausgelegt war. Ein paar husteten; die Luft in dem Zelt war warm von den Körpern der schlafenden Kinder. Eine ältere Frau saß, in einen bestickten Schal gehüllt, in einem Winkel des Zeltes und wachte über die Kinder. Zohra bettete ihre Tochter auf einen freien Platz auf dem Boden und bedeutete mir, Badou neben sie zu legen. Dann breitete sie eine Decke über die beiden. Badou murmelte etwas. Ich beugte mich zu ihm hinab, und er sagte abermals etwas in einer Mischung aus Arabisch und Französisch. Ich verstand nur chien, Hund. Dann war er still, sein Atem ging ruhig und gleichmäßig.

Zohra und ich gingen hinaus und zum Feuer zurück. Es war jetzt kalt, und ich schlug fröstelnd die Arme um den Oberkörper. Ich setzte mich nah ans Feuer auf den Boden und genoss die Wärme. Aszulay unterhielt sich jetzt ernst mit einem Mann, die Frau war nicht mehr zu sehen, und obwohl ich wusste, dass er später zu ihr gehen würde, nahm ich erleichtert zur Kenntnis, dass er ihr nicht sofort gefolgt war.

Was war nur mit mir los?

Er hatte den Turban abgenommen, und im Schein des Feuers konnte ich sehen, dass seine Stirn und Schläfen eine bläuliche Schattierung angenommen hatten: Offensichtlich hatte er beim Tanzen geschwitzt und der Turban seine Haut verfärbt. Mit einem Mal verspürte ich das Bedürfnis, den Duft seiner Haut zu ergründen. Bestimmt roch er nach Rauch und dem Indigo, mit dem der Stoff seines Turbans gefärbt war.

Ein Gedanke kam mir: Aszulay würde immer diesen Gegensatz in sich tragen – eine Kombination aus dem, was er einmal gewesen war, und dem, was er jetzt war. Ob er sein liebenswürdiges Schriftfranzösisch sprach oder Arabisch, oder aber sein für mich unverständliches Tamazight, ob in weißer Arbeitskleidung im Garten von Monsieur Majorelle mit einem Spaten in der Hand oder in ein blaues Gewand gehüllt hinter dem Lenkrad eines Lastwagens auf einer Karawanenpiste, stets verkörperte er die zwei Seiten einer Medaille. Zwei sich voneinander unterscheidende Seiten, aber doch für immer miteinander verbunden.

Nach einer Weile stand Zohra abermals auf und gab mir ein Zeichen, woraufhin ich meine Tasche nahm und ihr folgte. Sie hatte eine brennende Fackel in der Hand, doch trotz der Abermillionen funkelnder Sterne und des Neumonds am Himmel konnte ich kaum den Boden zu meinen Füßen erkennen. Nach ein paar Metern blieb sie stehen, drehte sich nach mir um und streckte die Hand nach mir aus. Dankbar ergriff ich sie, und gemeinsam gingen wir um das Feuer herum. Als wir an den Männern vorbeikamen, sah Aszulay zu mir auf.

Ich erwiderte seinen Blick, und da war ein Ausdruck in seinem Gesicht, der mir den Atem stocken ließ. Ich konnte ihn nicht erklären, jedenfalls war es mehr als ein flüchtiges Aufschauen, aber auch anders als das Funkeln in seinen Augen, als er zuvor mit seiner Frau gelacht hatte. Es war ein tiefer, fesselnder Blick, der mich schwindelig machte, als wäre das Fieber, das mich einige Tage zuvor befallen hatte, zurückgekehrt. Ich stolperte über eine Wurzel, und Zohra blieb stehen und stützte mich. Und als ich an ihrer Seite weiterging, war der Augenblick verflogen, und ich wagte nicht, nochmals zu Aszulay zurückzuschauen.

Plötzlich ragte ein großer, schemenhafter Umriss vor mir auf, und als Zohra sich duckte, tat ich es ihr gleich. Wir standen im Inneren eines Zeltes, und im flackernden Schein der Fackel machte ich ein Lager aus, das aus mehreren nebeneinanderliegenden Stößen Tierfellen bestand, die ordentlich mit rauen Tüchern bezogen waren. Auf einigen der Fellstöße sah ich menschliche Umrisse, wohl von Frauen, die friedlich schliefen. Aus einer Ecke des Zeltes hörte ich kindisches Geflüster und Gekicher, offensichtlich der Bereich, der den unverheirateten Mädchen vorbehalten war. Zohra führte mich zu einem der Fellstöße und ging dann wieder. Mit meiner Tasche in der Hand, die ich in Marrakesch umsichtig gepackt hatte, stand ich einen Moment unschlüssig da. Doch dann beschloss ich, dass es viel zu kalt war, um mir mein dünnes Nachthemd überzustreifen, und ich zog einfach nur die Schuhe aus und schlüpfte in meinem Kaftan unter die Decke. Die Mädchen waren jetzt still, und nur noch ihr tiefer, gleichmäßiger Atem war zu hören. Die junge Frau neben mir schob sich mit dem Rücken näher an mich heran. Die Menschen Marokkos schienen körperliche Nähe zu suchen, ich hatte unzählige Beispiele dafür kennengelernt: In den Souks und auf den Plätzen begrüßten sich die Männer, indem sie einander umarmten und küssten; die Frauen auf den Dächern rückten so nah zusammen, dass sich ihre Schultern und Hüften berührten, während sie über ihren Handarbeiten saßen. Ich dachte daran, wie sich die Frauen im Hamam gegenseitig abrubbelten und massierten. Vielleicht erzeugten körperliche Nähe und Körperwärme ein Zugehörigkeitsgefühl. Sogar der kleine Badou wollte einem immer nahe sein und kletterte, wann immer sich die Gelegenheit bot, bei jemandem auf den Schoß.

Die Europäer und Amerikaner in Nordafrika verhielten sich genau umgekehrt. Jeder achtete darauf, höflich Abstand zu halten; wenn man sich aus Versehen berührte, entschuldigte man sich.

Während ich in der völligen Dunkelheit des Zeltes dalag, hörte ich die gedämpften Stimmen der Männer, die noch immer am Feuer saßen, und aus der Ferne das Meckern der Ziegen. Das Mädchen schmiegte sich noch enger an mich. Sie roch nach Bratöl und Schweiß und nach einem Gewürz, das ich nicht kannte.

Ich versuchte, meinen Gedanken Einhalt zu gebieten, doch die Empfindungen, die mich unter dem Nachthimmel bestürmt hatten, ließen mir keine Ruhe. Die Art, wie Aszulay mich angeschaut hatte. Ich stellte mir vor, wie er den Pfad zu dem Terrassendorf hinaufging, eines der Lehmhäuser betrat und eine Decke oder ein Fell lüpfte, um sich neben seine Frau zu legen. Im Geiste sah ich, wie sie sich zu ihm umdrehte und er sie in seine Arme zog; ich legte den Unterarm auf meine Augen, als könnte ich so die Bilder vertreiben.

Stattdessen schoben sich ungebeten andere Szenen vor mein geistiges Auge – wie Etienne neben mir im Bett in der Juniper Road lag. Für eine flüchtige Zeit hatte ich das Bett mit einem Mann geteilt, dem einzigen in meinem bisherigen Leben. Bei der Erinnerung, wie es sich anfühlte, den Körper eines Mannes neben mir zu haben, wurde mir heiß, und gleichzeitig überkam mich ein Gefühl der Einsamkeit und Sehnsucht.

Ich drehte mich auf die andere Seite, sodass ich Rücken an Rücken mit dem fremden Mädchen lag, und versuchte, auf dem harten Bett Trost zu finden und endlich einzuschlafen, dem unerwarteten Verlangen meines Körpers zu entrinnen.

Etienne. Was fühlte ich für ihn, nun, da ich wusste, was ich wusste? Wie hätte mein Leben ausgesehen, wenn er bei mir in Albany geblieben wäre und mich geheiratet hätte? Wie hätte mein Leben ausgesehen, wenn ich mein Kind nicht verloren hätte, sondern Mutter geworden wäre?

Wie hätte mein Leben ausgesehen, wäre ich nicht nach Marokko gekommen?

Aber wünschte ich nicht noch immer, dass Etienne mich heiratete? Wenn ich ihn nach seiner Rückkehr nach Marrakesch davon überzeugte, dass seine Krankheit an meiner Liebe zu ihm nichts änderte, würde er mich bestimmt heiraten.

Ich versuchte mir in Erinnerung zu rufen, wie es war, als wir uns liebten.

Doch stattdessen wanderten meine Gedanken abermals zu Aszulay und seiner Frau.

Ich stellte mir vor, wie es wäre, sich Aszulay hinzugeben. Stellte mir seinen sinnlichen Mund vor, seine Hände.

Ich konnte nicht einschlafen, stand auf und wickelte mir die Wolldecke von meinem Lager um die Schultern; dann ging ich in die kühle Nachtluft hinaus.

Das Feuer war fast erloschen, nur die Glut schwelte noch. Ohne das flackernde Licht einer Fackel und die hohen Flammen war es einfacher, in der sternenklaren Nacht etwas zu erkennen. Doch ich wagte es nicht, mich mehr als ein paar Meter vom Zelt zu entfernen, aus Angst, mich zu verirren. Die Luft kühlte meinen Körper, und ich atmete tief ein. Und plötzlich bemerkte ich die einsame Gestalt, die noch am Feuer saß.

Bildete ich mir nur ein, dass es Aszulay war, oder war er es wirklich? Jedenfalls saß der Mann an dem Platz, an dem ich zuletzt Aszulay gesehen hatte, aber das musste nichts heißen. Waren das wirklich seine breite Schultern, seine Haare? Ich beobachtete, wie er sich in eine Decke hüllte und sich neben die Glut legte.

Irgendwie beruhigt kehrte ich zu meinem Zelt zurück. Ich wusste, es war nicht richtig, Befriedigung bei dem Gedanken zu verspüren, dass Aszulay vielleicht nicht bei seiner Frau schlafen wollte. Und doch empfand ich so.

Ich war glücklich.

Mitten in der Nacht wachte ich auf, fühlte mich steif und mir war kalt. Ich hörte, wie etwas an der Außenwand des Zeltes schnüffelte – ein Kamel, eine Ziege oder ein Hund? Vielleicht war ich davon wach geworden. Ich fröstelte und klapperte mit den Zähnen. Die Kälte und der Tee reizten meine Blase, doch mir graute bei dem Gedanken, das Bett zu verlassen und mich draußen in der Kälte auf den Boden zu kauern. Ich kuschelte mich näher an das Mädchen neben mir, um mich zu wärmen. Ihr Atem stockte, und sie setzte sich hustend auf. Im nächsten Moment machte ich einen Lufthauch aus, der Geruch nach gegerbtem Fell stieg mir in die Nase, und so schnell, dass ich es kaum begriff, spürte ich ein zusätzliches Gewicht auf meiner Decke. Augenblicklich wurde mir wärmer. Das Mädchen schmiegte sich wieder an mich, und kurz darauf war erneut ihr regelmäßiges Atmen zu hören.

Warm und entspannt erwachte ich, als der Zipfel des Zelteingangs umgeschlagen wurde und das Morgenlicht hereinflutete. Ich sah, dass ein großes Ziegenfell über meiner Decke lag, und war dem Mädchen neben mir – sie war bereits hinausgegangen – dankbar, dass sie mich zugedeckt hatte, als sie mein Frösteln bemerkte.

Vor dem Zelt saßen Frauen um einen großen Messingkessel und eine große Zinnschüssel herum und gossen der Reihe nach Wasser aus dem Kessel in die Schüssel, um sich darüber zu waschen. Als die Reihe an mir war, tat ich es ihnen gleich, dann reichte mir eine der Frauen einen Spiegel. Ich dankte ihr mit einem Lächeln, hielt ihn vors Gesicht und zog eine Grimasse angesichts des zerzausten Anblicks, den ich bot. Rabia kam zu mir, kniete sich hinter mich und kämmte mein Haar, um es dann mit ihren flinken Fingern zu einem langen Zopf zu flechten, dessen Ende sie zusammenband. Ich war neugierig, womit sie ihn befestigt hatte, und langte mit der Hand nach hinten, um ihn über die Schulter nach vorn zu ziehen. Da sah ich, dass es sich um einen Büschel Ziegenhaar handelte.

Dann kniete sie sich vor mich hin, nahm einen langen, dünnen Stab und deutete damit zuerst auf ihre Augen, dann auf meine. Kohl. Sie wollte meine Augen mit Kohl umranden. Ich hatte noch nie Make-up benutzt, nickte aber dennoch.

Mit der linken Hand umfasste sie mein Kinn und zeichnete mit der rechten die Ränder meiner Augenlider nach. Als sie fertig war, nickte sie zufrieden und lächelte mir zu.

Ich folgte ihr den Fußpfad hinauf zu dem kleinen Haus, in dem sie mit ihrer Familie, ihrer Mutter, ihrer Schwester und deren Familie wohnte. Als ich den einzigen fensterlosen Raum betrat, konnte ich zunächst kaum etwas erkennen, denn nur durch die offene Tür fiel etwas Licht herein. Ich nahm Fleischgeruch wahr und hörte ein Brutzeln, das von einer Pfanne in der Mitte des Zimmers herrührte.

Schließlich gewöhnten sich meine Augen an das schummrige Licht, und ich bemerkte, dass Teppiche mit prächtigen Berbermustern sowohl Boden als auch Wände bedeckten. In einer Ecke waren mehrere Teppichläufer übereinandergestapelt, die offensichtlich als Bett dienten. In einem der Webmuster erkannte ich die Hennaornamente auf meinen Händen wieder. In der Mitte des Bodens brannte in einem Kreis aus Steinen ein Feuer, und im Dach darüber befand sich ein Kamin, durch den der Rauch abziehen konnte. Die Männer waren offensichtlich schon gegangen; nur Aszulays Mutter und Zohra sowie mehrere Kinder verschiedenen Alters waren zu sehen. Aszulays Mutter kauerte neben einer Reihe von Töpfen auf dem Boden und rührte in einem.

Plötzlich rannte Badou auf mich zu; ich hatte ihn inmitten der Kinderschar gar nicht wahrgenommen. Sein Haar war zerzaust, und sein Mund war mit etwas Klebrigem verschmiert, vermutlich mit Honig. Er trug wieder seine roten babouches. »Bonjour, Badou. Hast du gut geschlafen?«, fragte ich, und statt zu antworten, streckte er eine schmutzige Hand aus.

Darauf lag sein Zahn.

»Badou«, sagte ich und hob die Augenbrauen. Doch er grinste und zeigte mir stolz die kleine Zahnlücke.

»Hebst du ihn für mich auf, damit ich ihn Falida zeigen kann?«, sagte er, und ich verstaute ihn in meiner Tasche.

Ein Mädchen nahm ihn bei der Hand, und er ging mit ihr hinaus. Der Junge war wie verwandelt. Ich sah ihm nach und wandte mich dann an Zohra.

»Bonjour«, sagte ich, und sie erwiderte lachend meinen Gruß, ehe sie mir bedeutete, mich zu setzen. Ich ließ mich auf einen der schönen Läufer sinken, und sie reichte mir einen irdenen Teller. Darauf lagen ein pikantes Würstchen und ein Pfannkuchen aus einem körnigen Getreide. Alles schmeckte köstlich.

Kaum hatte ich meinen Teller leer gegessen, rief Aszulay nach mir. Ich sah mich um und erblickte ihn im Eingang. Ich brachte keinen Ton heraus, als fürchtete ich, er könnte mir vom Gesicht ablesen, was sich in der vergangenen Nacht in meinem Kopf abgespielt hatte. Die Bilder von ihm, davon, was wir zusammen taten …

Er lächelte nicht, und ich merkte, dass er meine kohlgeschminkten Augen musterte. Schließlich sagte er: »Ich gehe nach dem Getreide sehen und nehme Badou mit. In ein paar Stunden fahren wir zurück.«

Ich konnte nur nicken.

Die nächsten Stunden verbrachte ich mit Zohra und ihren Töchtern. Die kleinen Mädchen waren zunächst schüchtern, stellten mir dann aber Fragen, wie ich ihrem Ton entnehmen konnte. Immer wieder sah ich hilfesuchend zu ihrer Mutter, doch ihr Französisch war nicht gut genug, um auch nur die einfachsten Sätze zu übersetzen. Zusammen gingen wir zum Bach, und Zohra balancierte einen Korb voll Wäsche auf dem Kopf. Ich sah zu, wie sie und die Mädchen die Wäsche an die Felsen schlugen. Als ich anbot, ihnen zu helfen, schüttelte Zohra den Kopf. Während sie mit den anderen Frauen plauderte, saß ich auf dem Felsen und ließ den Blick über die terrassierten Hänge schweifen.

Es herrschte ein reines Licht, und als ich zu dem flirrenden Grün der Felder blickte, hatte ich einen Moment lang das Gefühl, einer Fata Morgana beizuwohnen. Hie und da machten sich Männer auf einem Feld zu schaffen. Sie waren zu weit weg, um jemanden zu erkennen, doch ich wusste, dass einer davon Aszulay war. Die Szenerie hatte etwas Magisches, und mit einem Mal wurde mir bewusst, wie sehr sich das Leben dieser Dorfbewohner doch von der Wirklichkeit unterschied, die ich bisher gekannt hatte.

Wir kehrten zum Haus zurück und überließen die auf den Felsen ausgebreitete Wäsche sich selbst. Aszulays Mutter saß mit dem Rücken zur Wand in der Sonne und verlas Oliven aus einem Korb. Als sie uns sah, stand sie auf und ging nach drinnen, um kurz darauf mit einem prächtigen Schal zurückzukommen, der am Rand mit delikaten Blumenranken und bunten Blüten bestickt war. Sie hielt ihn mir hin.

Ich betrachtete ihn und fuhr mit den Fingern über die Stickerei. »Er ist wunderschön«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass sie mich nicht verstand, doch bestimmt konnte sie meine Freude an meinen Gesten und meinem Lächeln ablesen.

Sie drückte ihn mir in die Hand.

»Pour vous«, sagte Zohra. Für Sie. »Cadeau.« Ein Geschenk.

Ich konnte es unmöglich ablehnen, wenn ich sie nicht beleidigen wollte. Also nahm ich den Schal, drückte ihn an die Brust und sah Aszulays Mutter freudestrahlend an. Dann drapierte ich ihn um Kopf und Schultern, und sie nickte zufrieden.

Plötzlich trat Aszulay aus dem Haus. Er blieb stehen und musterte mich, dann nickte auch er, und die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen. Offensichtlich gefiel ihm, was er sah, und ein merkwürdiges Gefühl überkam mich. Ich rief mich wieder zur Vernunft.

Er war verheiratet, auch wenn er mich immer noch nicht seiner Frau vorgestellt hatte, der jungen Frau mit den schmalen Handgelenken, die neben ihm am Feuer gesessen hatte. Noch in der Nacht zuvor hatte ich mir ihre erhitzten Körper unter der Wolldecke und den Ziegenhäuten ausgemalt und wie er ihr zärtliche Worte beim Liebesspiel zuflüsterte.

Und wie er mich hinterher in den Armen hielt, nein, schalt ich mich. Wie er seine Frau hielt, nicht mich.

Natürlich war nicht er es gewesen, der beim Feuer geschlafen hatte.

Ich wich seinem Blick aus.

»Aszulay?«

Wir hatten eine Stunde zuvor das Dorf verlassen und schwiegen, während wir langsam über die Piste ruckelten. Etwas hatte sich seit diesem Besuch in Aszulays Dorf zwischen uns verändert. Die Art, wie er mich in der Nacht zuvor beim Feuer angeschaut, wie er an diesem Morgen meine kohlumrandeten Augen gemustert und mich später dann angesehen hatte, als ich mit dem Schal von seiner Mutter vor dem Eingang stand … Ich war mir sicher, dass nicht nur ich so empfand. Die Ungezwungenheit, mit der wir uns auf der Hinfahrt unterhalten hatten, war wie weggeblasen. Ich wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. Ich wollte, dass er etwas sagte.

Badou war durch die Öffnung in der Segeltuchbespannung auf die Ladefläche geklettert. Ich hatte ein paar französische Kinderbücher mitgebracht und sie ihm nach hinten gegeben. Nun blätterte er bedächtig in einem Buch.

Schließlich wiederholte ich: »Aszulay?«, und er sah mich an.

Ich musste einfach über sie reden. »Deine Frau, ich habe sie gesehen, als du mit ihr am Feuer gesessen hast. Sie ist sehr hübsch.«

Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über sein Gesicht, doch im selben Moment wurde seine Miene ausdruckslos. Seine Kiefermuskeln spannten sich an, und instinktiv wusste ich, dass es ein Fehler war, ihn darauf anzusprechen.

»Tut mir leid, Aszulay. Habe ich … etwas Falsches gesagt?«

Er nahm den Blick von der Fahrbahn und sah mich an. »Die Frau – das war einfach nur eine Dorfbewohnerin. Ich kenne sie seit vielen Jahren.« Er schluckte. »Ich habe keine Frau.«

»Aber Manon … Manon hat mir gesagt, du seist verheiratet. Bei meinem letzten Besuch hat sie es mir erzählt.«

Wieder sagte er eine Weile lang nichts, ehe er erwiderte: »Manon hat eine Art Wortspiel gemacht.«

Eine merkwürdige Erklärung, wie ich fand, aus der ich nicht schlau wurde. »Oh.« Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen, und wieder fuhren wir eine Weile schweigend dahin. Das, was ich in der vergangenen Nacht gefühlt hatte, war Eifersucht, und ich war keineswegs stolz darauf, konnte es aber nicht länger leugnen. Also hätte ich nun, da er die Frau, die ich für seine Frau gehalten hatte, einfach als eine Dorfbewohnerin abtat und sagte, er sei gar nicht verheiratet, nicht erleichtert sein sollen? Doch das Gegenteil war der Fall. Aszulays Antwort beunruhigte mich nur noch mehr. Sein Gesicht, seine Stimme, die Tatsache, dass er mit einem Mal das Lenkrad so fest umklammerte, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten, sagten mir, dass mehr dahintersteckte. Ich hatte ihn verärgert, auch wenn ich nicht wusste, warum.

Er fuhr an den Rand der Sandpiste und stellte den Motor ab. Er stieg aus und löste einen der Benzinkanister, die er auf dem Dach festgeschnallt hatte. Mithilfe eines Trichters füllte er den Tank auf. Als er wieder einstieg, schlug mir Benzingeruch entgegen.

»Wir hätten nicht so spät losfahren sollen. Es wird heute früher dunkel, wegen des Staubs in der Luft«, erklärte er.

Ich nickte.

»Ich hatte Kinder«, sagte er unvermittelt. »Zwei.«

Das Wort »hatte« ließ die Atmosphäre im Lastwagen plötzlich drückend erscheinen. Ich hatte das Gefühl, als wäre zu wenig Sauerstoff in der Luft. Ich blickte auf die Wolldecke hinunter, auf der ich saß, und spielte mit einem losen Faden.

»Sie starben an einem Fieber. Es tötete meine Kinder und meine Frau. Iliana«, sagte er. »Zusammen mit vielen anderen. Rabias erster Sohn ist auch daran gestorben.«

Plötzlich fiel mir wieder ein, wie er an dem Bach, an dem wir Rast gemacht hatten, einfach verschwunden war, und wie wir anschließend an einem Friedhof vorbeigekommen waren.

»Deine Frau und Kinder«, sagte ich, »sind sie auf dem Friedhof beerdigt, in dessen Nähe wir gestern gehalten haben?«

Er nickte. Dann schlug er das Ende seines Turbans über seine untere Gesichtshälfte und ließ den Motor wieder an, und wir fuhren weiter auf der Sandpiste.

Ich dachte an Manon und an ihr hinterhältiges Lächeln, als sie mir erzählt hatte, Aszulay habe eine Frau. Ich sah flüchtig zu Aszulay hinüber, doch er sagte nichts mehr.

Eine halbe Stunde später hatte sich der Himmel blassgelb verfärbt. Die Sonne schien nicht mehr, und ein so starker Wind kam auf, dass Aszulay das Lenkrad fest umklammern musste, um den Lastwagen in der Spur zu halten. Plötzlich konnte ich Himmel und Erde nicht mehr unterscheiden; eine Wand aus Sand baute sich vor uns auf. Und doch schien Aszulay zu wissen, wohin er fuhr. Ich stellte mir vor, wie er früher den Sandstürmen in der Wüste getrotzt hatte, gewiss war der Orientierungssinn Teil seines Nomadeninstinkts. Wahrscheinlich lag er ihm in den Genen, eine über unzählige Generationen hinweg vererbte Gabe.

Ich dachte an das Erbe, das Etienne in sich trug.

Mit Einsetzen des Windes hatten wir sofort die Scheiben hochgekurbelt, doch der Sand drang dennoch durch sämtliche Ritzen herein. Nach einer Weile drehte Aszulay das Lenkrad scharf nach rechts und hielt an.

Badou kniete hinter uns und blickte durch die Windschutzscheibe nach vorn. Der Wind zerrte so heftig an dem Fahrzeug, dass es ein wenig schwankte.

Draußen war jetzt nichts mehr zu erkennen.

»Ich habe Angst, Onkel Aszulay«, sagte Badou mit erstickter Stimme. »Sind das die Dschinn?« Tränen traten ihm in die Augen. Es war das erste Mal, dass ich ihn weinen sah. »Werden sie uns fressen?« Ich streckte die Hand nach hinten und streichelte ihm die Wangen, um seine Tränen zu trocknen.

»Nein, ganz bestimmt nicht, Badou. Es ist nur ein Sturm. Nur ein Sturm«, sagte Aszulay. »Er kann uns nichts anhaben. Wir müssen einfach nur abwarten, bis er vorüber ist und wir die Piste wieder erkennen können.«

»Aber …« Er beugte sich vor und flüsterte Aszulay etwas ins Ohr.

»Er muss mal raus«, sagte Aszulay, die Hand auf dem Türgriff.

»Ich gehe mit ihm«, sagte ich, denn ich hatte das gleiche Problem.

»Nein. Der Wind ist zu stark. Ich werde …«

»Bitte, Aszulay, lass mich mit ihm gehen«, sagte ich, woraufhin Aszulay nickte, offensichtlich hatte er verstanden.

Badou kletterte über die Rücklehne auf meinen Schoß.

»Ihr müsst die ganze Zeit eine Hand am Wagen lassen«, sagte Aszulay, als ich die Tür aufstieß und hinauskletterte.

Kaum hatte ich Badou auf den Boden gestellt, stellte sich Badou mit dem Gesicht zum Lastwagen hin und hob seine dschellaba an.

»Ich gehe nur eben am Lastwagen entlang nach hinten, Badou«, erklärte ich. »Warte hier auf mich, ja?« Ich musste fast schreien, damit er mich hören konnte. Mit einer Hand tastete ich mich an der Karosserie entlang nach hinten, so wie Aszulay mich angewiesen hatte. Ich musste mit meinem Kaftan kämpfen, den der Wind um meinen Körper peitschte.

Es dauerte höchstens eine Minute, doch als ich wieder an der Beifahrertür ankam, war Badou nicht mehr da. In der Annahme, dass er bereits wieder eingestiegen sei, zog ich die Tür auf und kletterte hinein. Ich streifte mir das Haar aus dem Gesicht und rieb mir die Augen.

»Wo ist er?«, fragte Aszulay, und ich sah ihn blinzelnd an.

»Wie, ist er denn nicht eingestiegen?« Ich kniete mich auf den Sitz und schob den Segeltuchvorhang beiseite, doch Aszulay hatte bereits die Fahrertür aufgestoßen. »Ich habe ihn nur eine Minute allein gelassen … ich dachte, er sei …«

»Bleib hier drinnen!«, schrie Aszulay gegen den Wind an.

»Nein, ich komme …«

»Ich sagte, du sollst im Wagen bleiben«, brüllte er jetzt und knallte die Tür zu. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz und starrte reglos durch die Windschutzscheibe, ohne irgendetwas zu sehen. Sicher war Badou zum Vorderteil des Lastwagens gegangen. Oder ich hatte ihn einfach nicht bemerkt, als ich mich wieder am Lastwagen entlang zur Beifahrertür zurückgetastet hatte. Wahrscheinlich kauerte er beim Vorderrad, um sich vor dem Sand zu schützen, und wartete auf mich. Gleich würde Aszulay mit ihm einsteigen.

Doch nach einer Weile war Aszulay noch immer nicht da. Mein Herz pochte wie wild. Wie hatte ich Badou nur allein lassen können, wenn auch nur für einen Moment? Ich, die ich Manon dafür anprangerte, eine schlechte Mutter zu sein – und was hatte ich getan? Ich schlug die Hände vor den Mund.

Dann schloss ich die Augen und faltete die Hände vor meinem Gesicht, während ich mich vor und zurück wiegte und immer wieder murmelte: »Bitte, lieber Gott, lass ihn Badou finden, lass ihn Badou finden, lass ihn Badou finden.«

Doch sie kamen nicht zurück.

Es wurde immer dunkler. Ich weinte, ich betete, ich schlug den Kopf gegen das Beifahrerfenster. Wie hatte ich nur so dumm sein können! Konnte Badou denn auch nur für kurze Zeit in diesem Sand, in diesem Staub da draußen überleben, würde er nicht nach wenigen Minuten ersticken? Und Aszulay. Im Geiste sah ich ihn draußen herumirren, während er nach Badou rief und der Wind ihm den Namen von den Lippen riss. Kurz zuvor hatte er mir erzählt, dass er seine zwei Kinder verloren hatte. Und nun …

Ich konnte es nicht länger ertragen und legte die Hand auf den Türgriff. Ich würde aussteigen und nach Badou suchen. Es war meine Schuld, aber ich würde ihn finden. Doch gerade als ich den Griff hinunterdrücken wollte, rief ich mir ins Gedächtnis, wie Aszulay mich angeschrien hatte, ich solle gefälligst im Wagen bleiben. Und da wusste ich, dass er recht hatte. Es wäre noch idiotischer von mir, wenn ich den Lastwagen verließ und draußen allein herumirrte.

Ich hielt meine Armbanduhr vor die Augen und machte mit Müh und Not im Halbdunkel die Uhrzeit aus. Gleichzeitig überlegte ich, wann wir aus dem Dorf weggefahren, wie lange wir unterwegs gewesen waren und wie lange ich schon hier wartete. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Das Einzige, was ich wusste, war, dass zu viel Zeit vergangen war.

Aszulay hatte Badou nicht gefunden.