ACHTUNDDREISSIG
Ich saß auf dem Bett und sah mich in dem Spiegel, der gegenüber an der Wand lehnte. Ich war erschöpft. Nach all den Monaten des Wartens und Bangens war alles mit einem Schlag vorbei.
Das, was Manon mir erzählt hatte, war durchaus denkbar. Hätte ich Etienne nicht zusammen mit ihr gesehen, nicht erlebt, dass er unfähig war, sie in ihre Schranken zu weisen, hätte ich ihr womöglich nicht geglaubt. Doch ich hatte es mit eigenen Augen gesehen.
Der Ruf der Muezzins zum Nachmittagsgebet erscholl, und ich blickte zum Fenster, während ich nachdenklich die zellij vom Tisch neben meinem Bett nahm. Ich dachte an Aszulay und rief mir seine Berührung in Erinnerung, als er meine Füße wusch.
Mehrmals hatte er mir geraten, nicht auf Etienne zu warten. Und nachdem wir zusammen in seinem Dorf gewesen waren, hatte er mir gesagt, er habe mich nicht allein zu Etienne und Manon gehen lassen wollen, weil er befürchtete, das, was ich dort erfuhr, würde mich schockieren, am Boden zerstören.
O ja, schockiert war ich. Aber nicht am Boden zerstört. Als ich Etienne erblickte, meinte ich, einen Fremden vor mir zu haben. Wie schon einige Monate zuvor in meinem Schlafzimmer in Albany, nachdem ich ihm gestanden hatte, ein Kind zu erwarten. Aber hatte er sich tatsächlich geändert, oder war ich diejenige, die sich geändert hatte?
Ich war nicht mehr die Frau aus der Juniper Road.
Ich war nach Marrakesch gekommen, um Etienne zu finden. Und nun hatte ich ihn gefunden. Ich hatte erfahren, warum er mich verlassen hatte. Es war einfach: Er hatte mich nie geliebt.
Es gab vieles, was ich nicht über Etienne gewusst hatte. Tatsächlich hatte ich ihn nie wirklich gekannt. Er hatte immer nur von sich preisgegeben, was ihm passte. Für eine Weile hatten wir eine Beziehung unterhalten, ja, doch das, was ich für Liebe hielt, war ein Fantasiegebilde von mir gewesen. Eine flüchtige Affäre, eine uralte Geschichte, die jede Frau von außen als solche erkannt hätte. Doch wenn man sich innerhalb der Geschichte befand, war es schwer, all die damit verbundenen Flausen und Grillen und Hoffnungen zu durchschauen. Und nun war sie aus und vorbei. Die Geschichte war zu Ende.
Erneut war ich allein. Doch es war anders als in der Zeit, bevor ich Etienne begegnet war, bevor ich zum ersten Mal mit einem Mann zusammen gewesen war und bevor ich von meiner Schwangerschaft erfahren hatte.
Ich ging zu dem Tisch, auf dem mein zuletzt begonnenes Ölbild, das mit dem Jacarandabaum im Innenhof der Sharia Zitoun, gegen die Wand lehnte. Ich dachte daran, wie Badou voller Stolz und Ehrfurcht die Schachtel mit den Ölfarben geöffnet hatte, und presste die Faust an die Brust.
Badou. Trug auch er, Etiennes Kind, dieses monströse Gen in seinem kleinen perfekten Körper? Ich rief mir seine Wärme in Erinnerung, als ich ihn gehalten hatte. Ich dachte an meine schier unerträgliche Sorge um ihn, als er inmitten des Sandsturms mit einem Mal verschwunden war. An die Erleichterung und Freude, als Aszulay ihn wieder zurückbrachte.
An die Nacht im Lastwagen mit Aszulay und daran, was ich gefühlt hatte.
Wieder erinnerte ich mich an die Worte Mohammeds mit seinem Äffchen, der mir geweissagt hatte, ich würde unter dem Kreuz des Südens finden, wonach ich suchte. Mohammed hatte recht gehabt. Ich hatte etwas gefunden.
Doch behalten konnte ich es nicht. Aszulay war ein Blauer Mann, ein Nomade aus der Sahara. Badou war das Kind einer anderen Frau. Ich hatte mich in dieses Land verliebt, in seine Farben, Laute, Gerüche und Geschmäcke. Die Menschen. In einen großen Mann und einen kleinen Jungen.
Ich dachte an meine wachsende Freundschaft mit Mena. Meinen Beschützerinstinkt gegenüber Falida. An Badous Hand in meiner.
Und wieder an Aszulay.
Bestimmt war es das Beste, nach Albany zurückzukehren und meine Erinnerungen in Bildern einzufangen. Doch selbst dort, im kalten Winter, würde ich Marokko nicht mit dem distanzierten Auge einer Touristin malen, einer bloßen Betrachterin. Ich war keine Außenstehende mehr, sondern nahm an diesem Leben teil.
Aber es ist nicht deine Welt, sagte ich mir immer wieder.
C’est tout. Das ist alles. Die Geschichte ist vorbei.
Ich konnte nichts essen. Mena fragte, ob ich krank sei.
»Nein. Aber ich bin traurig. Ich werde bald nach Hause zurückkehren«, sagte ich auf Arabisch.
»Warum? Gefällt es dir nicht in der Sharia Soura? Ist Nawar böse zu dir?«
Ich schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. Es war zu kompliziert, als dass mein bruchstückhaftes Arabisch ausgereicht hätte, es zu erklären.
Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, und ein seltsamer Schatten huschte über ihre Züge. »Ist es wegen meinem Mann? Hat er dir etwas angetan?«
»Nein. Nein, überhaupt nicht.«
Ihre Züge entspannten sich wieder.
»Aber was ist mit Aszulay?«, fragte sie. »Ich glaube, er ist ein guter Mann.«
»Ja, da hast du recht.«
»Nicht alle Männer sind gut.« In einer unbewussten Geste fasste sie sich an den Nacken, und ich musste an ihre Narbe denken. Und daran, wie Manon Etienne geküsst hatte.
Ich lag noch immer in meinem Kaftan im Dunkeln auf dem Bett, als ich aus dem Innenhof männliche Stimmen hörte. Ich machte die Stimme von Menas Mann aus, die seiner beiden Söhne und … die von Aszulay. Ich sprang auf und eilte zum Fenster.
Sie saßen zusammen um den kleinen Tisch und tranken Tee. Ihre Unterhaltung hörte sich an, als handelte es sich einfach nur um einen zwanglosen Besuch. Als sie ihre Tassen geleert hatten, standen der Mann und seine zwei Söhne auf.
Aszulay sagte noch etwas, und der Mann blickte zu meinem Fenster hoch. Schnell zog ich den Kopf zurück, und kurz darauf klopfte es leise an meine Tür.
Ich öffnete sie. Es war Mena. »Aszulay ist hier«, sagte sie. »Er will mit dir reden. Leg deinen Gesichtsschleier um, Sidonie«, sagte sie ernst. »Mein Mann ist zu Hause.«
Ich kam ihrer Aufforderung nach und ging dann über die Hintertreppe nach unten, die Treppe, die die Frauen benutzten, wenn sich ein Mann im Innenhof aufhielt und sie ihm nicht begegnen wollten.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
»Ja.«
»Aber du hast Etienne getroffen.« Es war eine Feststellung. »Ich war vorhin in der Sharia Zitoun. Manon sagte mir, du seist da gewesen. Sie meinte …« Er hielt inne, und ich sah ihn an. »Verstehst du nun, warum ich dir nicht gleich gesagt habe, dass Etienne wieder hier ist? Verstehst du nun, warum ich dich beschützen wollte? Ich wusste, ich hätte nicht verhindern können, dass du die Wahrheit entdeckst – Manon hätte schon dafür gesorgt, dass du jedes Detail erfährst –, aber ich wollte … es tut mir leid. Es war egoistisch von mir. Ich wollte, dass du noch ein paar Tage …«
Ich setzte mich auf die Bank. Er sagte nichts mehr, sondern ließ sich ebenfalls wieder auf seinen Platz sinken.
Schließlich ergriff ich das Wort. »Ich verstehe dich, Aszulay. Mein Besuch in der Sharia Zitoun war auch alles andere als erfreulich.« Während ich die Worte sprach, musste ich mit einem Mal an Badou denken. Das Letzte, was er mitbekommen hatte, ehe er hinausgeschickt wurde, war, wie ich Etienne ohrfeigte. Ich schlug die Hände vors Gesicht und vergegenwärtigte mir seinen ängstlichen und sorgenvollen Blick, als er bei Falida Zuflucht suchte, und den Ausdruck auf den Gesichtern der beiden Kinder, als sie aus dem Innenhof flüchteten.
Bestimmt hielten sie mich für keinen Deut besser als Manon. Eine Frau, die schrie und schlug.
»Sidonie?«, sagte Aszulay, und ich ließ die Hände sinken.
»Ich musste gerade an Badou denken. Das arme Kind.«
»Es war sicher nicht besonders schön für ihn«, sagte er. »Aber wenn man bedenkt, dass viele Kinder in Marokko … Er hat wenigstens ein Dach über dem Kopf und bekommt zu essen. Und ich versuche, ihm das Leben ein bisschen angenehmer zu machen.«
Ich nickte. »Ich bin froh, dass er dich hat. Der Gedanke, dass er bei Manon aufwächst, ist mir unerträglich. Aber was mir wirklich das Herz zerbricht …« – ich zog den Gesichtsschleier herunter, mochte Menas Mann doch von mir denken, was er wollte –, »ist der Gedanke an das Erbe, das er möglicherweise in sich trägt.«
»Was für ein Erbe?«
»Du weißt schon. Die Krankheit, Huntington-Chorea. Manon ist es egal, denn sie denkt gewiss, dass er zu dem Zeitpunkt, da die Krankheit bei ihm ausbrechen könnte, längst ein erwachsener Mann ist. Warum also sollte sie sich Sorgen um ihn machen?«
»Ich verstehe nicht, wovon du sprichst.«
Ich sah ihn ungläubig an. »Was verstehst du nicht?«
»Manon scheint die Krankheit nicht zu haben, also warum sollte Badou sie in sich tragen?«
»Aber … Etienne. Etienne hat sie.«
»Ja. Er ist sein Halbonkel, aber nur ein erkrankter Elternteil kann sie vererben. Stimmt das nicht? Das hat mir Manon erzählt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Aszulay. Weißt du es nicht? Hat dir Manon etwa nicht erzählt, dass Badou Etiennes Kind ist?«
Aszulay lehnte sich zurück. »Manon weiß nicht mit Sicherheit, wer sein Vater ist.«
Ich schluckte. »Doch. Sie hat mir gesagt, es sei Etienne. Badou sei das Ergebnis ihrer Beziehung mit Etienne. Heute Nachmittag erst hat sie mir das erzählt.«
Aszulay stand auf, durchquerte mit langen Schritten den Innenhof, als wollte er seine Wut bezähmen, und kam wieder zurück. Dann nahm er erneut mir gegenüber Platz. Kopfschüttelnd starrte er die Mauer in meinem Rücken an. Ich kannte ihn inzwischen gut genug, um zu erkennen, dass er sich um Fassung bemühte. Er sah mich wieder an.
»Manon war mit Etienne zusammen, bevor er nach Amerika ging, das stimmt. Doch zur selben Zeit hatte sie auch ein Verhältnis mit zwei weiteren Männern: einem Juden aus Fez und einem Spanier aus Tanger. Badou wurde zehn Monate nach Etiennes Abreise geboren. Also ist entweder der Jude oder der Spanier Badous Vater.«
Von der hohen Mauer hinter Aszulay ertönte das sanfte Gurren einer Taube.
»Aber …«
Wieder schüttelte Aszulay ungläubig den Kopf. »Sidonie. Manon erfindet alles Mögliche, wenn es ihrer Absicht dient. Sie hat dir bereits andere Lügen aufgetischt, und du glaubst ihr noch immer.«
»Ihrer Absicht?«
»Sie will dich verletzen. Von dem Tag an, da ich dich zum ersten Mal sah und mitbekam, wie sie dich behandelte, wusste ich, was sie im Schilde führt. Von Anfang an war sie eifersüchtig auf dich, zunächst wegen Etienne, aber dann zusehends aus einem anderen Grund, nämlich als sie sah, dass du nicht nur Badous Aufmerksamkeit auf dich zogst, sondern auch …« Wieder ließ er den Satz unvollendet.
»Wegen Etienne?«, fragte ich. »Was meinst du damit?«
»Sie ist eifersüchtig, weil ihr Bruder dich vielleicht geliebt hat. Auch wenn sie nicht länger an ihm interessiert war, nachdem sie ihr Ziel erreicht hatte, konnte sie den Gedanken, dass er eine andere liebt, nicht ertragen. Sie wollte seine grenzenlose Liebe.« Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »So ist Manon nun mal. Das dürfte dir ja nicht entgangen sein.«
Ich betrachtete seine Lippen, während er sprach.
»Sie kann es nicht ertragen, an zweiter Stelle zu stehen – sie sagt, man habe ihr dieses Gefühl ihre ganze Kindheit lang eingebläut. Sie will – muss – die wichtigste Frau eines jeden Mannes sein, mit dem sie sich einlässt. Eine Rivalin duldet sie nicht, auch nicht wenn es um ihren Sohn geht.« Er hielt einen Moment lang inne. »Sie möchte niemanden mit dir teilen. Niemanden. Den Beleg dafür hast du doch.« Er beugte sich vor und nahm meine Hand, drehte sie mit der Innenseite nach oben und strich mit dem Daumen über die winzige Narbe in meinem Handballen. »Das, was sie dir angetan hat, als sie hörte, dass ich mit dir aufs Land fahren wollte. Deswegen hat sie dich verletzt.«
Ich war in Gedanken noch immer bei dem, was Aszulay davor gesagt hatte: dass Manon Angst hatte, Etienne habe mich geliebt.
»Er war so schwach«, sagte ich und bemühte mich, meine Stimme nicht voller Hass klingen zu lassen. »Und wenn er mich tatsächlich geliebt hätte, wie sie befürchtete, hätte er mich nicht auf diese Weise verlassen.«
Die rötliche Katze schlich in den Innenhof, blieb stehen und starrte mit zuckendem Schwanz gebannt auf einen Busch.
»Sie hat Etienne weisgemacht, Badou sei sein Sohn, um mehr Geld aus ihm herauszupressen«, sagte ich.
Aszulay nickte. »Damit könntest du recht haben. Sie wollte, dass er noch besser für sie sorgte – in Badous Namen natürlich. Aber ursprünglich, so glaube ich, hatte sie nur vor, an Etiennes Gewissen zu rühren, ihn als Badous Onkel um Geld zu bitten.«
Ich dachte daran, wie sie gesagt hatte, dass sie das Kind nicht abgetrieben habe, weil es für sie eine Art Lebensversicherung sei.
»Doch als er dann von dir, der Frau erzählte, die er in Amerika zurückgelassen hatte und die ein Kind von ihm erwartete, ist sie in heftigen Zorn geraten – ich war dabei. Er sagte, er wisse nicht, was er tun solle, und dass er nicht damit umgehen könne. Erst da erzählte sie ihm, dass Badou sein Kind sei. Und wie du hat auch er ihr geglaubt. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass sie ihn derart anlügen könnte. Er wusste ja nicht, dass sie neben ihm gleichzeitig noch andere Männer gehabt hatte; auch kannte er Badous Geburtstag nicht. Für ihn stimmten die Umstände und der Zeitrahmen überein, also stellte er keine weiteren Fragen. Doch ich wusste sofort, was sie im Schilde führte.«
Seine Stimme wurde lauter, der Ton entrüsteter.
»Sie wollte nicht die Zweite sein. Nach dir, Sidonie. Und als sie hörte, dass du mit Etiennes Kind schwanger warst, wurde ihre Eifersucht so übermächtig, dass sie dich unbedingt ausstechen wollte – nein, musste. Ich bin mir sicher, dass das Wissen um deine Schwangerschaft der Auslöser war. Und später konnte sie es nicht ertragen, dass ich mich um dich kümmerte.«
»Also hat sie wegen ihrer Eifersucht, ihrer Unsicherheit eine derart ungeheuerliche Lüge in die Welt gesetzt?«
»Als sie Etienne anlog, war ich so wütend auf sie. Ich wollte sie auffordern, ihm die Wahrheit zu sagen, dass es sich um eine Lüge handelte. Aber alles ging so schnell. Etienne sprang auf und sagte, sein Ziel sei es gewesen, der Krankheit ein für alle Mal Einhalt zu gebieten, ihr nicht zu erlauben, auf die nächste Generation überzuspringen. Und siehe da, er hatte nicht einmal, sondern gleich zweimal versagt. Er hatte mit dir ein Kind gezeugt, Sidonie, nur um nun zu erfahren, dass er bereits eines in die Welt gesetzt hatte. Badou. Sein Gesicht war aschfahl, und er stand am ganzen Körper zitternd da. Ich fasste ihn am Arm, sagte: ›Nein, warte, Etienne‹, aber da rauschte er auch schon in die Nacht hinaus.«
Ich konnte mir die Szene lebhaft vorstellen.
»Ich stritt mit Manon, beschwor sie, ihm die Wahrheit zu sagen. Doch sie meinte, er würde die Schande und Demütigung verdienen. Dass alle Schande der Welt nicht genüge, um die Ungerechtigkeit wiedergutzumachen; vielleicht würde er ja jetzt begreifen, wie sie sich gefühlt hatte, als sie von ihrem Vater betrogen worden war.« Er machte eine nachdenkliche Pause. »Manon und Etienne sind einander ähnlich, Sidonie, beide gleichermaßen ichbezogen. Diese Charaktereigenschaft haben sie gemein.«
Er hatte recht.
»Wie auch immer, an jenem Abend blieb ich bei ihr«, fuhr er fort, »um auf Etiennes Rückkehr zu warten, mochte Manon auch noch so schäumen vor Wut. Ich habe sie schon so viele Dinge tun sehen, die ich keineswegs billigte, aber mit dieser Lüge wollte ich sie nicht davonkommen lassen. Mag Etienne ein selbstsüchtiger Mensch sein, so war es nicht fair, ihn noch mehr leiden zu lassen. Seine Krankheit, so sagte ich mir, würde ihm noch genug Leid bescheren. Ich war fest entschlossen, ihm die Wahrheit über Badou zu sagen, dass er nicht sein Kind ist.« Er ballte seine Hände so fest zu Fäusten, dass die Venen auf seinen Handrücken blau hervortraten. Hände, die kraftvoll eine Schaufel bedienen, aber auch zart ein Kind halten konnten. »Doch er kam nicht zurück. Er blieb einfach weg. Er hatte seine Kleidung, seine Bücher, ja sogar seine Brille dagelassen. Ein paar Wochen später schickte er Manon einen Brief – ich hatte dir davon erzählt –, in dem er schrieb, dass er die Zeit zum Nachdenken genützt habe und die Verantwortung für sein Kind übernehme. Alle paar Monate würde er nach Marrakesch kommen, um Badou zu besuchen. Das war seine Art, ihr zu verstehen zu geben, dass es dem Kind an nichts fehlen würde.«
Ich nickte. Manon glaubte, sie hätte gewonnen. Auf diese Weise konnte sie Etienne weiterhin erpressen. Und er würde aus seinem Schuldgefühl heraus ihre Forderungen erfüllen. Eine Weile saßen wir schweigend da. Abgesehen von dem gelegentlichen Gurren der Taube war es still um uns herum.
»Und – hast du es ihm gesagt?«
Aszulay schüttelte den Kopf. »Als ich Badou neulich abholte, um ins bled zu fahren, war wie gesagt Etienne bei Manon. Aber es war nicht der richtige Zeitpunkt. Badou war dabei, und Manon wollte uns aus dem Haus haben. Außerdem hatte Etienne mir gesagt, er wolle eine Zeit lang bleiben. Also nahm ich mir vor, gleich nach unserer Rückkehr mit ihm zu reden. Doch als ich heute Abend dort war, sagte mir Manon, er sei ausgegangen. Sie weiß, was ich vorhabe, und wird versuchen, mich daran zu hindern. Sie sagte mir, ich sei nicht mehr willkommen und solle mich nie mehr in der Sharia Zitoun blicken lassen.«
Ob Etienne tatsächlich noch in Marrakesch war? Ich dachte an seinen überstürzten Weggang an diesem Nachmittag und fragte mich, ob er nicht wieder die Flucht ergriffen hatte, so wie er nach Amerika geflohen war, nachdem er erfahren hatte, dass die Frau, die er liebte, seine Halbschwester war. Und so wie er überstürzt nach Marokko zurückgekehrt war, nachdem ich ihm gesagt hatte, ich sei schwanger. Davonzulaufen war Etiennes Art, mit Schwierigkeiten umzugehen.
»Jetzt kann ich nur noch hoffen, ihm irgendwann zufällig zu begegnen und ihm die Wahrheit zu sagen. Aber es wird nicht einfach sein, Manon wird es zu verhindern versuchen.«
Wieder herrschte eine Weile Schweigen.
»Und nun, Sidonie?«
»Was meinst du damit?«
»Was hast du vor?«
»Ich … was soll ich hier noch? In Marrakesch.« Ich sah ihn an und wartete, dass er sagte, was ich hören wollte. Was ich hören musste. Bleib, Sidonie. Ich will, dass du bleibst. Bleib bei mir.
Lange sagte er nichts und blickte mich auch nicht an. Er schluckte, und ich sah, wie sich sein Adamsapfel bewegte. Und dann sagte er: »Ich verstehe. Dieses Land ist so anders als das, aus dem du kommst. Du brauchst Freiheit, hier wärst du eine Gefangene.«
»Eine Gefangene?«
Endlich sah er mich wieder an.
»Eine Frau hier … das ist nicht das Gleiche wie in Amerika oder Spanien. Oder Frankreich. Oder irgendeinem Land auf der Welt, in dem eine Frau wie du tun und lassen kann, was sie will.«
Ich hätte ihn gern gefragt, was er damit meinte – eine Frau wie du. Ich dachte an mein Leben in Albany. War ich dort frei gewesen?
»Ich fühle mich hier nicht als Gefangene. Na ja, am Anfang war es schwierig. Ich … ich hatte Angst. Aber das lag zum Teil daran, dass ich allein war und weil ich nicht sicher war, ob sich meine Hoffnungen erfüllen würden, auch wenn ich mir das einredete. Aber seit ich weiß … seit ich Teil von Marrakesch geworden bin, seit ich hier in der Medina lebe, bin ich mir zwar immer noch ein wenig unsicher, was mein Verhalten angeht, aber nicht über meine Gefühle. Ich fühle mich lebendig. Sogar meine Malerei ist hier anders. Auch sie ist lebendig wie nie zuvor.«
»Doch, wie du sagtest, gibt es keinen Grund mehr für dich, in Marrakesch zu sein.«
»Jedenfalls spielt Etienne keine Rolle mehr für mich.« Ich wich Aszulays Blick aus und heftete ihn auf die Bodenfliesen. Wusste er nicht, was ich von ihm hören wollte? Warum sonst war er zu mir gekommen, hatte mich eingeladen, mit ihm in den Majorelle-Garten zu kommen, mit ihm aufs Land zu fahren? Warum sonst hatte er sich Sorgen um mich gemacht, nachdem er wusste, dass Etienne wieder in Marrakesch weilte? Gerade hatte Aszulay gesagt, dass Manon eifersüchtig sei, weil sie wusste, dass ich ihm etwas bedeute.
Hatte ich ihn vollkommen falsch verstanden? Doch unsere Nacht im bled … die Art, wie er mich angesehen hatte. Wie wir uns gegenseitig unser Leben erzählt hatten. Wie er meine Füße berührt hatte. Wie er mich küsste …
Und doch bat er mich nicht zu bleiben.
Hatte ich mich so gründlich in ihm getäuscht?
»Vielleicht bleibe ich noch, bis ich das begonnene Bild fertig gemalt habe, um es ins Hotel zu bringen«, sagte ich und zwang mich, ihn wieder anzuschauen.
Er nickte.
Ich wollte so sehr, dass er noch etwas sagte, aber das tat er nicht. Er stand auf und ging auf das Tor zu. Ich erhob mich ebenfalls und folgte ihm, legte ihm die Hand auf den Arm.
»Sagen wir uns also Adieu, Aszulay? Ist dies das letzte Mal, dass wir uns sehen?« Ich konnte die Worte kaum aussprechen. Ich konnte ihm nicht Adieu sagen. Ich konnte einfach nicht.
Er sah mich an, und seine ansonsten so leuchtenden Augen waren seltsam dunkel. »Willst du das?«
Aszulay! Am liebsten hätte ich geschrien: Hör auf, so höflich zu sein – das war das einzige Wort, das mir einfiel. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Das will ich nicht. Ich will dir nicht Adieu sagen.«
Ohne näher zu kommen, erwiderte er: »Und … glaubst du … du könntest tatsächlich an einem Ort wie diesem leben? Leben, Sidonie. Nicht nur als Touristin, die für eine Weile hier wohnt. Als eine Frau, der es nicht möglich ist, frei in den Souks herumzuspazieren oder in den Gärten vor sich hin zu träumen. Ich meine, wirklich hier zu leben.« Er unterbrach sich. »Kinder aufzuziehen.« Wieder hielt er kurz inne. »Und die Unterschiede zwischen den beiden Welten auszuhalten, der Welt, die du bisher kanntest, und dieser.«
Ich brachte keinen Ton heraus. Er fragte mich zu viele Fragen, aber die richtige Frage hatte er noch immer nicht gestellt.
»Hast du dieses Leben wirklich klar und deutlich vor Augen?«, fragte er weiter. Und wieder verwirrten mich seine Worte, und ich sah ihn nur wortlos an.
Gerade als ich den Mund öffnete, um zu sagen: Ja. Ja, ja, ich kann es mir vorstellen, zusammen mit dir, kam er mir zuvor.
»Du hast keine Antwort darauf«, stellte er fest. »Ich verstehe mehr, als du glaubst.« Er wandte sich um und verließ den Innenhof, ehe er das Tor leise hinter sich schloss.
Ich setzte mich wieder auf die Bank und begriff nicht, was ich gerade erlebt hatte. Zum ersten Mal kam die rötliche Katze zu mir, strich mir um die Beine. Dann machte sie einen Satz und sprang neben mir auf die Bank, ehe sie sich auf ihre angezogenen Pfoten sinken ließ und mich ansah.
Ich hörte ihr kehliges Schnurren.