ACHT
Als wir aus Tanger herausfuhren, tauchte die aufgehende Sonne die weißen Gebäude in verschiedene Rosa- und Rottöne, und ich ließ einen langen, zittrigen Atemzug entweichen. Endlich war ich auf dem Weg nach Marrakesch.
So weit bist du schon gekommen, sagte ich zu mir und blickte durch die zerkratzte und schmutzige Windschutzscheibe. Du hast es allein geschafft. Ein Gefühl der Erleichterung durchflutete mich, doch im nächsten Moment fragte ich mich, ob ich mir tatsächlich im Klaren war, was ich im Begriff stand zu tun, indem ich in diesem fremden Land auf eigene Faust eine Reise mit zwei Männern antrat, von denen ich kaum mehr wusste, als dass sie einen Wagen lenken konnten. Ich legte mein Leben in die Hand mir unbekannter Männer, von denen ich nur den Namen kannte – einer davon war mir auf einem handgeschriebenen Zettel von Elizabeth Pandy weitergereicht worden, die ihn wiederum von einem Fremden erhalten hatte.
Niemand wusste, mit wem ich unterwegs war – abgesehen von Omar –, und auch wenn Elizabeth und ihre Freunde meinen Plan kannten, nach Marrakesch zu reisen, hatte ich sie vor meiner Abreise nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Und doch … und doch glaubte ich irgendwie, dass alles gut gehen würde, wenngleich mein Glaube womöglich auf einem irrwitzigen Wahn beruhte. Ich glaubte, dass mit mir alles gut gehen und ich irgendwie herausfinden würde, was ich unbedingt wissen musste. Aber vielleicht war es auch eher ein bislang ungekanntes Gefühl des Vertrauens – vielleicht ein neu gewonnenes Selbstvertrauen. Hatte ich nicht den Atlantik überquert, mich in Marseille durchgeschlagen, auf der Straße von Gibraltar dem Levante getrotzt und es geschafft, diese beiden Männer anzuheuern, die mich zu meinem eigentlichen Zielort bringen sollten? Mich, die ich nie zuvor Albany verlassen, ja nicht einmal die Möglichkeit eines anderen Lebens jenseits des vertrauten in Betracht gezogen hatte? Jenseits der Sicherheit meiner alten Existenz.
Die Männer unterhielten sich auf Arabisch miteinander, und ich wünschte, ich hätte sie verstehen können. Sie trugen dieselbe Kleidung wie am Vortag, nur dass auf Aziz’ rasiertem Schädel statt der weißen runden Kappe nun schräg ein roter Fes saß. Er hatte seine Sandalen ausgezogen und streckte die bloßen Füße zwischen Mustapha und mir aus. Ich warf einen verstohlenen Blick auf seine Zehen und musste unweigerlich an Etiennes lange, schmale Füße denken, deren Haut an der Oberseite erstaunlich weich war.
Während wir auf der holprigen Makadamstraße, die die Franzosen gebaut hatten, aus der Stadt hinausfuhren, ließen wir linker Hand die eindrucksvollen Gipfel des Rif-Gebirges liegen, und rechter Hand glitzerte der blaue Atlantik. Die Meeresbrise war frisch und tat gut, und so früh am Morgen war der Himmel noch mit einem perlmuttfarbenen Schleier bedeckt. Die vagen Umrisse von Seemöwen, die sich ihr Frühstück fischten, waren über dem Meer auszumachen.
Nur wenige Autos waren unterwegs, doch wann immer uns eines auf der engen Straße entgegenkam, hielt ich den Atem an und fürchtete, dass sich die beiden Wagenseiten berühren könnten. Öfter passierten wir eine Dromedarkarawane, die von verhüllten Gestalten angeführt wurde. Die kleinen, einhöckrigen Kamele waren beladen mit Waren, und manchmal balancierte auch eine bis auf zwei schmale Augenschlitze vollständig verhüllte Frau auf seinem Rücken. Häufig spähte ein Kind zwischen den Falten der Frauengewänder hervor. Obwohl wir recht langsam an ihnen vorbeifuhren, ersehnte ich eine Pause, um mir die Karawane aus der Nähe anzusehen. Ich wusste, man hätte ein solches Verhalten als ungebührend betrachtet, als ein weiteres Beispiel für die Dreistigkeit, die die Ausländer oftmals an den Tag legten, und doch schienen meine Augen danach zu lechzen, mehr zu sehen, als ihnen erlaubt war.
Wie zuvor bei meiner Ankunft in Tanger hatte ich nicht erwartet, von solchen neuen Empfindungen bestürmt zu werden. Oder ich hatte bei meiner Abreise aus Albany einfach nicht darüber nachgedacht, welche neuen Eindrücke mich erwarteten und wie sie mich berühren würden, denn in Gedanken war ich nur bei Etienne gewesen.
Die Straße wand sich hinauf und hinab, und schließlich entschwand das Meer für etliche Meilen unserem Blick, bis es, als wir den höchsten Punkt einer Erhebung erreichten, mit einem Mal wieder vor uns lag. Diese Region Marokkos schien ein Meeresparadies zu sein, mit seinen langen breiten Sandstränden, die hie und da von Olivenhainen oder landwirtschaftlich genutzten Flächen unterbrochen wurden. Wir kamen durch zahlreiche winzige Dörfer, die von einer Mauer eingefriedet waren und von einem Minarett überragt wurden.
Als wir einige Stunden später anhielten und ausstiegen, hatte sich die Luft verändert. Sie war dick, fast milchig, und erinnerte mit den Sonnenstrahlen, die durch die Luftschichten stachen, ein wenig an die langen Winternebel bei uns zu Hause. Neben dem Wagen streckte ich meine verspannten Glieder, während die Männer zu einer Palmengruppe in der Nähe der Straße gingen, deren Palmwedel sich in der Meeresbrise mit einem metallischen Klirren bewegten. Neugierig sah ich den beiden nach, doch als sie sich breitbeinig mit dem Rücken zum Wagen stellten, wandte ich rasch den Blick ab. Während der letzten Stunde hatte ich mir den Kopf über das Toilettenproblem zerbrochen, aber das Thema war allzu peinlich, als dass ich es gegenüber diesen beiden Fremden hätte zur Sprache bringen können. Doch als Mustapha und Aziz zum Wagen zurückgeschlendert kamen, deutete Aziz zu den Palmen und sagte: »Allez, Madame, allez«, und ich tat wie mir geheißen und begab mich zu der Palmengruppe, in der Hoffnung, dort bei meiner intimen Verrichtung meine Würde wahren zu können.
Als ich zum Wagen zurückging, war ich verlegen und fragte mich, wie ich den beiden gegenübertreten sollte, doch Mustapha und Aziz lehnten mit verschränkten Armen an der Karosserie, plauderten und deuteten hie und da die Straße hinunter. Es waren meine eigenen amerikanischen Moralvorstellungen, die mich in diesem wilden Land so unsicher fühlen ließen, die beiden Männer hingegen waren vollkommen unbekümmert.
Gerade als ich wieder einsteigen wollte, bemerkte ich vor der Silhouette der Bergkette eine sich bewegende Linie, die sich dunkel vor der helleren Vegetation abhob. Es war eine Karawane, doch diese bestand aus schwer bepackten Eseln oder Pferden und Kindern, die neben den Tieren herhüpften.
Wo diese Menschen wohl herkamen oder hingingen? Ich versuchte mir ein solches Leben vorzustellen, das immerzu in Bewegung war und sich ständig veränderte. Ganz anders als meines, das bis vor kurzem noch von Stille und Stillstand geprägt gewesen war.
Als wir das nächste Mal anhielten, diesmal vor den Toren eines kleinen Städtchens, das laut Aziz Larache hieß, öffnete ich die Wagentür.
Doch Aziz schüttelte den Kopf. »Nein, für Ladys hier nicht gut«, sagte er. »Ort nicht gut für eine Lady.« Er bedeutete mir mit einer Handbewegung vor seinem Gesicht, dass es für mich nicht angebracht sei, unverschleiert den Ort zu betreten. »Bleiben Sie im Wagen«, sagte er. »Und passen Sie auf, dass Kinder keine Häute stehlen.« Er wies zum Wagendach. »Mustapha und ich holen Essen. Bald wieder zurück.«
Also musste ich mich mit dem kleinen Ausschnitt zufriedengeben, der sich mir durch das offene Tor in der Stadtmauer bot. Die Gebäude waren in einem strahlenden Blau gestrichen und die gewölbten Dächer mit roten Ziegeln bedeckt, sodass das reizende Städtchen ein wenig an ein spanisches Bergdorf erinnerte. An der Außenseite der Mauer waren Esel angepflockt, die mit gesenktem Kopf im Schatten standen. Während ich im Wagen saß, strömten kleine Jungen, von denen der älteste kaum mehr als acht oder neun gewesen sein mochte, langsam am Tor zusammen und traten nach und nach aus dem Schutz der Mauer, um sich immer näher heranzuwagen. Sie trugen zerlumpte Kleidung, hatten rasierte Schädel und waren barfüßig. Allmählich scharten sie sich um den Wagen und starrten mich schweigend an, wobei sie ganz unverhohlen mein Gesicht musterten. Ich rief mir all die Jungen in Erinnerung, die sich in Albany um den Silver Ghost versammelt und neugierig das Automobil bewundert hatten. Vielleicht, so überlegte ich, waren kleine Jungen überall auf der Welt gleich und bestaunten neugierig die Dinge, die sie noch nie zuvor gesehen hatten, verbunden mit den gleichen winzigen Mutproben.
Vielleicht war ich die erste weiße Frau, die diese Jungen je gesehen hatten.
Ich lächelte ihnen zu, doch sie starrten mich weiterhin neugierig an. Schließlich machte einer der älteren Buben einen Schritt auf den Wagen zu, streckte unerwartet die Hand aus und berührte mich mit dem Zeigefinger an der Schulter. Ehe ich reagieren konnte, schoss er blitzschnell zurück, als hätte er sich verbrannt, und grinste stolz die anderen an. Diese schauten ihn mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Verblüffung an und wichen ebenfalls einen Schritt zurück. Sah ich in ihren Augen so merkwürdig aus? Ich streckte die Hand mit dem Handballen nach oben aus dem Seitenfenster, um sie zu ermuntern, näher zu kommen, ihnen zu zeigen, dass sie keine Angst vor mir haben mussten, doch plötzlich ertönte ein Ruf, und die Jungen zerstreuten sich erschrocken in einer Staubwolke.
Mustapha und Aziz kamen zum Auto zurück. »Die Jungen waren böse?«, fragte Aziz und blickte der kleinen Schar nach, die durch das Tor huschte.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, sie waren nicht böse«, sagte ich, »es sind einfach nur Jungen«, und mir wurde bewusst, dass es genau so war. Ich wünschte, ich hätte ihre Mütter und Schwestern sehen können. Ihre Väter. Ich hätte sie gern innerhalb ihrer Mauern erlebt.
Aziz reichte mir einen köstlich duftenden kleinen Brotfladen und ein Stück Wachspapier mit weißem Käse, Feigen und einer Handvoll Cashewnüssen. Ich war hungrig, und als ich alles aufgegessen hatte, leckte ich mir die klebrigen Finger ab. Nur einen Teil der Cashewnüsse hatte ich noch aufgespart; sie lagen im Wachspapier in meinem Schoß, und während wir weiterfuhren, naschte ich gelegentlich davon.
Ich musste essen, um Kraft für die Reise zu sammeln und einen klaren Kopf zu behalten. Ich musste bereit für Marrakesch sein, bereit, um Etienne zu finden.
Die Straße führte jetzt weiter ins Landesinnere hinein, sodass ich nicht mehr das Meer sehen und riechen konnte. Hie und da stand eine Gruppe ausgewachsener Bäume, die ich nicht kannte, und als ich Mustapha nach ihrem Namen fragte, deutete er auf die Cashewnüsse in meinem Schoß.
Von dem vielen Sitzen und der holprigen Straße, die einen ordentlich durchschüttelte, schmerzte mein Rücken. Ich versuchte, meine Gedanken an den bevorstehenden Abend zu verdrängen: Wo würden wir anhalten? Wo würde ich schlafen? Ich war voller Staub – würde ich ein Bad nehmen können? Wenn ich mit meinem unbedeckten Gesicht nicht einmal hatte dieses Städtchen namens Larache betreten dürfen, wie sollte ich dann an einem anderen Ort willkommen sein?
Wieder rief ich mir die weit aufgerissenen Augen der Jungen ins Gedächtnis, die mich durch das offene Wagenfenster angestarrt hatten, und verspürte einen Anflug von Einsamkeit. Das Gefühl, eine Fremde zu sein.
In Tanger war es anders gewesen; die Stadt hieß die Reisenden aus Übersee willkommen und wurde von Menschen aus aller Herren Ländern bevölkert: Afrikanern, Spaniern, Franzosen, Deutschen, Briten, Amerikanern und vielen anderen mehr, die mir unbekannte Sprachen sprachen und fremdländische Kleidung trugen, die ich nicht einzuordnen vermochte. Elizabeth Pandy hatte etwas abfällig von Mischlingen gesprochen, Menschen, in denen das Blut unterschiedlicher Völker floss.
Doch ich war nicht länger in Tanger, und mir war ziemlich schnell klar geworden, dass ich im Inneren Marokkos nicht nur eine Frau aus der westlichen Welt sein würde. Hier war ich eine anormale Erscheinung, eine Außenseiterin, deren Verhalten verletzend oder gar abstoßend wirken konnte.
Wie würde man mich in Marrakesch behandeln? Während wir auf der staubigen Straße weiterfuhren, wurde mir bewusst, dass meine schlecht geplante und überstürzte Abreise von einem einzigen Ziel angetrieben worden war: Etienne zu finden, für etwas anderes hatte ich einfach keinen Blick gehabt.
Ich sehnte mich so sehr nach ihm. Ich wollte mich endlich wieder sicher fühlen. Ich wollte spüren, dass ich zu jemandem gehörte, dass ich nicht allein war. Ich wollte endlich wieder dieses eine Gefühl haben, das Etienne in mir geweckt hatte.
Während ich meine Glieder streckte, die Schultern kreisen ließ und den Hals hin und her drehte, nahm ich einen unbekannten Geruch in der Luft wahr. Ich wollte wissen, was es war. Auch die Landschaft hatte sich kaum merklich verändert, die Berge waren nicht mehr zu sehen. Wir fuhren an einem dichten Wald vorbei. Die Rinde der Bäume war bis etwa einen Meter über dem Boden abgelöst, sodass der untere Teil des Stamms braun und glatt und der obere Teil weißlich und uneben war.
»Was sind das für Bäume?«, fragte ich Aziz, und er sagte: »Korkeichen. Der Mamora-Wald.« Da wurde mir klar, woher der Geruch kam. Wir fuhren durch den Wald, und oben auf der Anhöhe erstreckte sich eine gelbliche Fläche mit den ausgefransten Umrissen einer Stadt, jenseits derer wieder das blaue Band des Atlantiks zu sehen war.
»Das da Sale, die Stadt da vorn, und der Fluss heißt Bou-Regreg«, erklärte Aziz. Er beugte sich vor, um besser zu sehen, während er sich mit den Händen auf den Rückenlehnen der Vordersitze abstützte. »Und auf andere Seite von Fluss Rabat«, fügte er hinzu. »Sale und Rabat sind wie …« – er berührte Mustapha an der Schulter – »Cousins. Oder Brüder.«
Als wir uns der Stadt näherten, erblickte ich Feigen- und Olivenbäume. Sale, dessen Häuser ebenso weiß wie die Tangers waren, wurde von einer Mauer umgeben, war terrassenförmig angeordnet, und zahlreiche Minarette stachen in den Himmel. In der Ferne, weiter südlich, sah ich eine weitere Stadt, deren Silhouette sich am Abendhimmel ähnlich abhob, mit dem Unterschied, dass die Häuser lohfarben waren: Das also war Rabat.
»Wir Sie zu einem Haus bringen, wo Sie essen und schlafen«, sagte Aziz.
Haus? Meinte er ein Hotel?
»Und wie weit ist es noch bis nach Marrakesch?«, fragte ich.
»Morgen wir kommen Sie abholen, dann fahren an Casablanca vorbei und übernachten in Settat. Und nächste Tag Marrakesch. Inschallah«, schloss Aziz.
»Sie kommen mich abholen? Heißt das, dass Sie nicht im selben Haus übernachten?« Nun fühlte ich mich noch mehr allein, und die Aussicht, dass die einzigen beiden Menschen, die ich kannte, mich an einem fremden Ort zurücklassen würden, ängstigte mich.
Er schüttelte den Kopf. »O nein, Madame.«
Wir fuhren durch das massive, bogenförmige Stadttor und an einem von Bäumen beschatteten Marktplatz vorbei. Aus uralten Waagen auf Dreifüßen quoll rohe weiße Wolle heraus, und im angrenzenden Souk erblickte ich Stände mit Melonen, Feigen und Oliven, mit leuchtend roten und grünen Paprika, roten Zwiebeln. Der Duft von brutzelndem Fleisch in einer Pfanne stieg mir in die Nase. Vor den Ständen standen verschleierte Frauen, die mit den Verkäufern feilschten, und ihr Kreischen ließ mich vermuten, dass sie ihnen Wucherpreise vorwarfen. Bestimmt gehörte diese laute Art des Handelns zur marokkanischen Lebenskultur, denn die Frauen kauften die Waren dann doch, und die Verkäufer, die in gespielter Empörung den Kopf schüttelten, reichten ihnen die Einkäufe hinüber. Ich spähte in die engen Gassen, wo in winzigen Mauernischen kleine Jungen hockten und wunderschöne Läufer webten oder Körbe flochten und beleibte Händler miteinander plauderten, über ihren Köpfen die Waren, die an Haken baumelten.
Ich lehnte mich aus dem Wagenfenster, und als ich einen der Händler ansah, blickte er feindselig und finster zurück, ehe er die Lippen schürzte und einen Schleimklumpen in Richtung Wagen spuckte. Augenblicklich zog ich den Kopf zurück und drückte mich so weit wie möglich in meinen Sitz, um mein Profil hinter dem Autorahmen zu verbergen. Wieder fühlte ich mich unbehaglich. Obwohl Sale eine einigermaßen große Stadt war, waren nirgendwo Ausländer zu sehen. Ebenso wenig wie ein Gebäude, das auch nur im Entferntesten an ein Hotel erinnerte.
Ich zerbrach mir gerade den Kopf darüber, als Mustapha vor einem verschlossenen, abgesplitterten Holztor anhielt. Aziz stieg aus und bedeutete mir, es ihm gleichzutun. Dann trug er meine Koffer zum Tor, stellte einen auf den Boden, um mit der Hand an die Holztür zu pochen. Es war offensichtlich ein Hotel, aber eines, wie ich es noch nie gesehen hatte.
Durch eine vergitterte kleine Öffnung drang das leise Gemurmel einer Frauenstimme, woraufhin Aziz durch das Metallgitter sprach. Wieder kam ein Murmeln als Antwort, und das Tor wurde von einer ganz in Schwarz gekleideten Frau geöffnet. Ihr Gewand ließ nur zwei Augenschlitze frei, doch sie hatte die Augen niedergeschlagen.
»Gehen Sie hinein«, sagte Aziz, und ich folgte seiner Anweisung.
Er trat hinter mir mit meinem Gepäck in den gekachelten Innenhof. Anders als das schäbige, ungestrichene Tor vermuten ließ, lag dahinter ein wunderschöner Hof mit Rosenbeeten und Orangenbäumen.
»Die Frau ist Lalla Huma«, sagte Aziz und stellte meine Koffer auf den gekachelten Boden. »Sie gibt Ihnen Essen, Sie schlafen und geben ihr nur einen Franc.« Er wandte sich zum Gehen.
»Um wie viel Uhr werden Sie mich abholen?«, rief ich ihm nach. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber wieder überkam mich Angst, als er im Begriff war, mich mit der schweigsamen Frau allein zu lassen.
»Wenn Zeit zum Aufbrechen, Madame«, sagte er und fügte, zu der Frau gewandt, etwas hinzu. Sie nahm meine Koffer – obwohl sie kleiner war als ich, hob sie sie mit erstaunlicher Leichtigkeit an – und stieg eine Treppe hinauf, die sich an der einen Mauerseite emporschwang.
Das Tor fiel klirrend ins Schloss, und ich stand allein in dem Hof. Schnell lief ich hinter der Frau die Treppe hinauf und folgte ihr in ein winziges Zimmer im ersten Stock, dessen einziges Fenster mit einem kunstvoll geschnitzten Holzgitter versehen war und zur Straße hinausging. Der Raum war nur mit einer harten Pritsche auf dem Boden ausgestattet, in deren Mitte eine dicke, ordentlich zusammengefaltete, gewebte Decke lag. Am Fuß des Bettes stand eine Schüssel mit einem Holzdeckel, der Nachttopf, wie ich vermutete. Auf dem Fenstersims gab es ein kleines, verziertes Gefäß mit einer Kerze und daneben eine Schachtel Streichhölzer.
Ich zerbrach mir gerade den Kopf, wie ich mich Lalla Huma gegenüber verständlich machen sollte, als sie auch schon aus dem Zimmer huschte, nur um kurz darauf wiederzukommen. Sie hatte eine große Keramikschüssel mit heißem Wasser und ein langes sauberes Tuch dabei. Kaum war sie wieder gegangen, zog ich Schuhe und Strümpfe aus und begann mein Kleid aufzuknöpfen, um mich zu waschen, hielt jedoch inne, um zur Tür zu gehen und sie abzuschließen. Doch sie hatte kein Schloss.
Schnell wusch ich mich und zog mich wieder an, da ich keine Ahnung hatte, was von mir erwartet wurde. Kurz darauf kam Lalla Huma erneut herein, diesmal mit einem Tablett, auf dem ein irdener Teller mit klein gehacktem Fleisch und langen gekochten Karottenstiften sowie eine Kanne Pfefferminztee stand.
Sie nahm die Wasserschüssel und das feuchte Tuch und ging wieder. Weder bekam ich ihr Gesicht zu sehen noch die Augen, die sie bei allen Verrichtungen niedergeschlagen hielt.
Ich aß und trank und zog das Nachthemd an, ehe ich mich auf das schmale Bett legte und die schwere Decke über mich zog. Auf der Straße draußen war es ruhig, nur die Rufe von den Minaretten waren zu hören, als es dunkel wurde: Allahu akbar – Gott ist groß. Seit meiner Ankunft in Marokko hatte ich mich rasch an diese Rufe gewöhnt, die fünfmal am Tag erklangen.
Doch diese inzwischen so vertrauten Laute verstärkten mein Einsamkeitsgefühl noch. »Etienne«, flüsterte ich in die Dunkelheit hinein.
Bei Sonnenaufgang wurde ich vom ersten Gebetsruf geweckt, und ich stand auf, um durch das Holzgitter hinauszuspähen. In der noch ruhigen Straße stand der staubige Citroën. Davor knieten mit der Stirn am Boden Mustapha und Aziz. Ich zog mich schnell an, und ohne den Pfefferminztee entgegenzunehmen, den Lalla Huma mir anbot, kaum hatte sie meine Fußtritte auf dem gekachelten Boden vernommen, eilte ich hinaus. Doch die beiden waren bereits wieder im Wagen und schnarchten im Tandem. Ich dachte zunächst, ich hätte mich geirrt und womöglich zwei andere Männer beim Beten gesehen. Mustapha lag mit dem Kopf unter dem Lenkrad auf dem Rücken und streckte die Füße aus dem Beifahrerfenster; er hatte sich mit der rot-schwarz gestreiften dschellaba zugedeckt. Aziz kauerte in seitlicher Position auf seinem Rücksitz, die Knie angezogen. Auf dem Boden lagen mehrere Säcke und Taschen, vielleicht Proviant für den Rest der Reise, nahm ich an. Als sie mich bei Lalla Huma abgeliefert hatten, hatte ich mir keine Gedanken gemacht, wo sie übernachten würden, und wunderte mich nun, dass sie im Wagen schliefen.
Ich klopfte auf das Wagendach – die Ziegenhäute waren nicht mehr dort –, woraufhin Mustapha erschrocken den Kopf hob und ihn am Lenkrad anschlug. »Non, non, Madame«, sagte er, zog eine Grimasse und rieb sich den Kopf, und Aziz murmelte: »Zu früh für Abfahrt.« Beide Männer machten es sich wieder bequem, und ich ging ins Haus zurück, um zu frühstücken. Zu dem Pfefferminztee gab es das mir inzwischen vertraute ungesäuerte Brot mit Feigenmarmelade.
Ich wartete bis nach sieben Uhr, als von der Straße bereits vielfältige Geräusche hereindrangen: von Männern mit Handwagen, Kamelen und Eseln und kleinen Jungen, die mit Holzstöcken Ziegen vor sich hertrieben. Dann ging ich abermals zum Wagen hinaus. Es war mir schleierhaft, wie Mustapha und Aziz bei diesem Lärm schlafen konnten. Als es mir schließlich gelang, sie zu wecken, setzten sie sich auf und zogen eine mürrische Miene. Doch Mustapha schlurfte ins Haus und holte meine Koffer, um sie wieder neben Aziz zu verstauen, der zwar aufrecht, aber noch immer mit geschlossenem Auge auf dem Sitz saß. Über Nacht waren seine Bartstoppeln beträchtlich gewachsen. Bis zu unserer Ankunft in Marrakesch, so vermutete ich, würde er womöglich einen Vollbart haben.
Als wir losfuhren, fragte ich Aziz, ob sie die ganze Nacht im Wagen geschlafen hätten.
»Ein bisschen, Madame«, sagte er. »Zuerst haben wir Häute verkauft. Dann tanken, essen, Freunde besuchen. War gute Nacht. Lalla Huma auch gut zu Ihnen? Sie auch eine gute Nacht haben?«
»Ja«, sagte ich lächelnd. »Ja, danke, Aziz.«
Ich hatte mich einigermaßen vom Straßenstaub und -schmutz befreien können, ein herzhaftes Mahl eingenommen und tief geschlafen. Zwar hatte ich mich einsam gefühlt und traurig, doch das war seit der letzten Nacht, die ich mit Etienne verbracht hatte, im Grunde nichts Neues für mich.
»Wo lebt Ihre Familie, Aziz?«, fragte ich.
»Settat. Wie Mustapha.«
Ich hatte keine Ahnung, wie groß Settat war und ob es dort ein ähnliches Haus wie das von Lalla Huma gab, in dem ich übernachten konnte, oder ob ich bei Aziz oder Mustapha und ihrer Familie wohnen würde.
»Heute ich sehe Frauen und Kinder. Sie einen Monat nicht gesehen. Ich fahre an viele Orte mit Mustapha.«
Hatte er »Frauen« gesagt? Von Etienne wusste ich, dass Muslime bis zu vier Frauen haben konnten. »Wie viele Kinder haben Sie?«
Er lächelte stolz. »Sechs. Vier von erste Frau. Zwei von zweite Frau. Aber sie ist jung, zweite Frau. Mehr Kinder werden kommen. Inschallah.«
»Und Mustapha?«, fragte ich, indem ich den Fahrer anschaute. »Haben Sie auch zwei Frauen?«
Mustapha schüttelte den Kopf, und seine Mundwinkel bogen sich nach unten. Er hob den Zeigefinger.
»Mustapha haben kein Glück. Er kein Geld für zweite Frau. Aber vielleicht bald Schicksal ihm geben noch eine Frau.« Aziz sagte etwas auf Arabisch zu Mustapha, und der zeigte ein schiefes Lächeln.
»Ihr Mann«, sagte Aziz zu mir, »warum lassen seine Frau allein nach Marrakesch reisen?«
»Ich bin nicht verheiratet.«
Er runzelte die Stirn und schüttelte ungläubig den Kopf. »Quoi?«, sagte er und zog das Wort in die Länge. »Was?«, wiederholte er. »Warum keinen Ehemann?«
Ich atmete tief ein. »Vielleicht … vielleicht weil ich kein Glück hatte, so wie Mustapha.« Diese Frage war mir noch nie gestellt worden.
Aziz nickte traurig. »Das nicht gut. Ich bete für Sie, Madame. Ich bete, damit Sie Mann bekommen. Sie wollen, dass wir Sie zu Schrein bringen? Auf Weg nach Marrakesch wir an Gräbern von Heiligen vorbeikommen.«
»Nein, aber trotzdem danke, Aziz.« Ich drehte den Kopf zur Seite, um aus dem Fenster zu schauen. Aziz verstand die Geste und lehnte sich schweigend auf seinem Sitz zurück.
Von Sale aus folgten wir der Straße bergab in Richtung Flussmündung, wo ich eine Art Dampfboot sah, das am Ufer festgemacht hatte.
»Wir müssen Bou-Regreg passieren«, erklärte Aziz, und während unser Wagen langsam in Richtung der Landebrücke rollte, betrachtete ich neugierig die Menschenmenge, die sich versammelt hatte und offenbar ebenfalls den Fluss überqueren wollte, um nach Rabat zu gelangen. Da waren die unvermeidlichen Kamele, Esel und Ziegen, ebenso wie Scharen von Frauen in ihren weiten Gewändern mit Kleinkindern, die vorn aus ihren Falten oder aus einem Tuch auf ihren Rücken lugten; kleine Kinder, die sich an die Röcke ihrer Mütter klammerten.
Ein großer Mann in einem Gewand aus burgunderroter und blauer Seide saß auf einem Esel, der viel zu klein für ihn war und dessen Zügel von einem hochgewachsenen Mann mit dunkler, glänzender Haut in einem schlichten weißen Gewand gehalten wurden.
Als das Dampfboot so dicht gepackt war, dass auch nicht mehr eine Ziege, geschweige denn ein weiterer Passagier Platz gefunden hätte, wurden wir endlich über den braunen Fluss transportiert. Die kurze Fahrt war erfüllt vom Lärm der Tiere mit ihren verschiedenen Lauten – den Schreien der Esel, dem Blöken der Schafe und dem Meckern der Ziegen – sowie Kindergeschrei, den hohen Stimmen der Frauen, die schnell sprachen, und dem tieferen Gemurmel der Männer. Unser Wagen war der einzige auf der Fähre, und ähnlich wie in Larache starrte man mich unverblümt an. Eine Frau bückte sich, um in den Wagen zu spähen, und zischte etwas durch ihren Schleier hindurch, während sich ihre Augen zu Schlitzen zusammenzogen.
Ich wich vom Fenster zurück und lehnte mich zu Mustaphas Seite hinüber. »Was hat sie gesagt?«, fragte ich, an Aziz gewandt.
»Frauen denken, Sie schlecht, weil Sie alle Männer Ihr Gesicht zeigen.«
Von da an hielt ich mein Gesicht geradeaus gerichtet und blickte nicht nach links und rechts. Ich war heilfroh, als wir das gegenüberliegende Ufer erreichten und in Richtung Casablanca weiterfuhren.
Das Rif-Gebirge war schon unserem Blick entschwunden, ehe wir Sale erreichten, doch nun konnte ich weit im Osten die Umrisse anderer Berge erkennen.
»Atlasgebirge«, erklärte Aziz. »Aber nicht Hohe Atlas. Kleiner. Hohe kommen später, bei Marrakesch. Hohe Atlas.«
Die Straße folge der Küstenlinie des Atlantiks. Ich sah zu, wie die Sonnenstrahlen auf dem Wasser tanzten und die Möwen blitzschnell herabstießen. Auch hier war die Küstenlandschaft durchzogen von Olivenhainen und Orangenplantagen und die Luft frisch und rein. Die Ebene schien fruchtbar zu sein.
»Werden wir nach Casablanca hineinfahren?«, fragte ich, doch Aziz schüttelte den Kopf.
»Nein, nicht nach Casa. Zu groß, zu viele Menschen, schlecht zu fahren. Straße führen an Stadt vorbei.«
Wir passierten Casablanca auf der Küstenseite. Es lag groß und weiß und prächtig da, ein Meer aus Minaretten, Türmen und Befestigungsmauern. Wir ließen die herrlich anzusehende Stadt hinter uns und kehrten auch dem Atlantik den Rücken, indem wir in Richtung Landesinnere weiterfuhren, nach Marrakesch.
Eine Stunde später hielten wir vor der Mauer eines kleinen Lehmdorfs. »Wir essen«, sagte Aziz und bedeutete mir auszusteigen.
Erst da fiel mir das kleine Gebäude mit dem Wellblechdach auf. Zwei Männer standen an einem Kohlebecken mit Bratrost; beim Näherkommen erblickte ich eine verrußte Pfanne, in der in einer Fettlache Eier brieten. Schwärme blauer Fliegen schwirrten gefährlich nah über dem heißen Dunst. In der Nähe lag ein altes Kamel, die schwieligen Knie angewinkelt, und starrte uns mit hochmütigem Blick an, während es hin und wieder brummte und spuckte. Der Geruch, den es verströmte, überlagerte den der Spiegeleier.
Ich stand neben Mustapha und Aziz und schaufelte aus meinem Blechteller mit großen Brotstücken die fetttriefenden Eier in den Mund. Mustapha ging zum Wagen zurück und kam mit einer Tüte klebriger Feigen sowie einer Tüte Oliven zurück. Die Männer an dem Kohlegrill kochten Pfefferminztee für uns; ich trank ihn aus einer verbeulten Blechtasse. Dann stiegen wir wieder in den Wagen. Mustapha und Aziz hatten die Mahlzeit offensichtlich sehr genossen, denn sie rieben sich die Bäuche und rülpsten ausgiebig. Ich hingegen hatte noch immer den öligen Geschmack der Eier im Mund, obwohl ich danach Oliven und Feigen gegessen hatte.
»In drei oder vier Stunden wir nach Settat kommen«, sagte Aziz lächelnd. Ich ahnte, dass er es kaum erwarten konnte, seine Familie wiederzusehen.
Doch einige Meilen weiter wurde die Makadamstraße jäh blockiert. Haufen von entwurzelten Kakteen sowie rostiger Fässer lagen mitten auf der Fahrbahn. Jenseits der Blockade hatte sich die Straße gesenkt, und der Makadambelag war aufgerissen und lag in einzelnen Stücken kreuz und quer herum, so weit das Auge reichte.
»Aaaahhhh«, sagte Aziz schnaufend. »Nicht gut. Straße kaputt.« Dann sprach er mit Mustapha auf Arabisch.
Der drehte das Lenkrad scharf herum und lenkte den Wagen auf eine Fahrspur in der getrockneten Erde, die von der Straße wegführte. Ohne die kühle Brise vom Ozean blies der heiße Wind durch den Wagen, als wäre die Tür eines Backofens geöffnet worden, und bedeckte uns mit einem Staubfilm. Mustapha deutete zu der schmalen Fahrspur, die in das absolute Nichts zu führen schien, eine leere Leinwand aus Erde und Himmel.
»Piste, Madame«, sagte er.
Ich drehte mich zu ihm. »Pardonnez-moi?«, erwiderte ich.
»Piste, piste. Keine Straße, Sandpiste.«
Ich schüttelte den Kopf und blickte über die Schulter zu Aziz.
»Wir fahren Sandpiste«, erklärte dieser. »Die Spuren von Karawanen. Straßen nicht gut, wir fahren Pisten durch das bled. Vielleicht Straße kommt wieder, vielleicht nicht.«
»Bled?«, wiederholte ich, da ich das Wort nicht kannte.
»Bled. Bled, Madame. Keine Stadt. Land. Groß, hinter Stadt.«
Ich nickte und dachte bei mir, wie glücklich ich mich schätzen konnte, dass Aziz gut genug Französisch sprach, um mir die Beschaffenheit der Landschaft zu erklären und mir zu sagen, wenngleich in sehr rudimentären Worten, wo wir waren und was wir als Nächstes vorhatten.
Wir ruckelten über die raue Sandpiste. Die öde Landschaft war hie und da gesprenkelt von kreisförmig errichteten Lehmhütten mit Dächern aus gewebten Binsenmatten. Die Behausungen wurden von einer Mauer eingefriedet, und in der Nähe gab es ein kleines, behelfsmäßiges Viehgehege – die Zäune bestanden aus niedrigen Kakteenhecken oder geflochtenen Dornenzweigen –, in dem Hunderte von jämmerlich meckernden Ziegen eingepfercht waren. Im Schatten der Zäune saßen vermummte Gestalten; ich nahm an, dass es sich um Männer handelte, da keine Kinder zu sehen waren. Diese Dörfer, so erklärte mir Aziz, wurden nourwal genannt. Als wir dann einige Meilen weiter an Dutzenden von Zelten vorbeikamen, deren Wände aus Ziegen- oder Kamelfellen bestanden und die auf abschüssigem Felsgelände hockten, sagte Aziz, diese hießen douar. Mehrmals noch erblickte ich auf unserer Fahrt eine der beiden unterschiedlichen Behausungsformen, und ich begriff, dass die Lehmhütten mit ihren Wällen und alten Bäumen feste Siedlungen darstellten, während es sich bei den Fellzelten, in deren Nähe Kinder zu sehen waren, die kleine Kamel- und Ziegenherden hüteten, um Nomadendörfer handelte.
Als wir auf die Karawanenpiste eingebogen waren, hatte ich den Eindruck gehabt, die Landschaft sei flach. Welch ein Irrtum. Plötzlich ging es jäh bergab und ebenso jäh wieder bergauf, und das für eine schiere Ewigkeit. Ich klammerte mich am Armaturenbrett fest, während mir der Schweiß aus dem Haaransatz auf die Stirn und über den Nacken rann. Mein Magen hob und senkte sich im Gleichklang mit der Landschaft. Es war beinahe wie auf einem Schiff auf hoher See, und ich fragte mich, ob dieses Land einst von Wasser überschwemmt gewesen war. Fuhren wir vielleicht auf dem Grund eines vor Urzeiten versiegten Meeres?
Ich machte die Augen zu und zog eine Grimasse, während mein Magen einen Satz vollführte. Schließlich öffnete ich sie wieder und wandte mich Mustapha zu, indem ich das Armaturenbrett losließ und mich aufrecht hinsetzte. Ich räusperte mich, wollte keinesfalls, dass diese Männer mich bei einem Anflug von Übelkeit sahen. Es reichte schon, dass sie mich bemitleideten, weil ich unverheiratet war.
»Mustapha«, sagte ich, »ob wir wohl bald wieder auf der Straße fahren können? Ich meine, damit wir Settat vor Einbruch der Nacht erreichen.«
Mustapha antwortete nicht.
»Zu weit von Straße weg«, erklärte stattdessen Aziz. »Besser wir bleiben auf piste. Und heute Nacht wir schlafen in bled.«
»Hier? Mitten in der Landschaft?«, fragte ich ungläubig und blickte mich in der öden, unbevölkerten Weite um, die uns umgab.
»Schlafen in bled«, wiederholte er einfach, und ich starrte geradeaus und beschwor meinen Magen, Ruhe zu geben. Ich dachte, wie enttäuscht Mustapha und Aziz erst sein mussten, nach einem Monat der Trennung von der Familie so nah an zu Hause zu sein und es doch nicht mehr an diesem Tag zu erreichen.
Aber gleichzeitig malte ich mir aus, wie es sein würde, eine lange Nacht inmitten der marokkanischen Wildnis in einem kleinen Auto zu verbringen, noch dazu als Frau allein mit zwei Männern.