VIERUNDZWANZIG

Als ich kurz nach neun Uhr bei Manon eintraf, spielte Badou im Innenhof mit einem gelben Welpen mit weißen Pfoten und einem eingerissenen Ohr.

»Bonjour, Badou«, sagte ich, nachdem mich Falida hereingelassen hatte, ehe sie lustlos fortfuhr, den Boden mit einem Handbesen zu fegen. »Wo ist deine Mutter?«, fragte ich.

»Sie schläft«, antwortete er und schmiegte den kleinen Hund an seine Brust. Der Welpe knabberte an seinen Fingerknöcheln, und der Junge sah lächelnd zu ihm hinunter, ehe er den Blick zu mir hob. »Schauen Sie, mein Hund.«

Ich setzte mich auf den Rand des Springbrunnens. »Gehört er wirklich dir?«, fragte ich.

Badou schüttelte den Kopf. »Non«, gab er traurig zu. »Er gehört Ali vom Haus gegenüber. Manchmal lässt Ali mich mit ihm spielen. Aber ich hätte so gern, dass er mir gehört. Ich möchte auch einen Hund.«

Ich dachte an Zinnober und den Trost, den sie mir gespendet hatte, obwohl ich ja zehn Jahre älter gewesen war als Badou, zu dem Zeitpunkt, da sie in mein Leben kam. »Ich weiß«, sagte ich. »Vielleicht bekommst du ja eines Tages einen Hund von deiner Mutter.«

Doch Badou schüttelte wieder den Kopf. Er setzte den Hund ab und stellte sich vor mich hin. »Maman hat Nein gesagt. Sie sagt, ein Hund macht nur Ärger. Sie sagt, ich darf nie einen haben, und ich soll auch nie mehr fragen.«

Er sprach ohne die bei einem Kind zu erwartende Enttäuschung in der Stimme, sondern, wie ich schon mehrmals an ihm bemerkt hatte, mit dem stoischen Gleichmut, den sonst nur reifere Menschen an den Tag legten.

»Aber es ist doch schön, dass du mit diesem kleinen Hund spielen kannst«, sagte ich.

Der Hund tanzte um Badou herum und sprang an ihm hoch, um an seinem Ärmel zu zupfen. »Sidonie, ich mag dein dar nicht«, sagte er und achtete nicht weiter auf den Hund.

»Du magst mein Haus nicht?«, fragte ich. Ich hatte angefangen, mir einige einfache Wörter auf Arabisch einzuprägen.

»Ja. Ich mag es nicht. Es ist zu groß, und es gibt zu viele Menschen. Und sie lieben dich nicht«, fügte er ernst hinzu.

»Sie lieben mich nicht? Wer denn, Badou?« Seine Bemerkung und seine verdrießliche Miene verwirrten mich.

»Deine Familie. All die Menschen in deinem großen Haus«, erklärte er, und da verstand ich, was er meinte.

»O Badou, das ist nicht mein Haus. Es ist ein Hotel.« Sein fragender Ausdruck sagte mir, dass er das Wort Hotel nicht verstand. »Also, es ist ein großes Haus, das stimmt, aber es gehört nicht mir. Ich wohne nur für kurze Zeit dort. Und die Menschen sind nicht meine Familie.«

»Wer sind sie dann?«

Ich zuckte die Achseln. »Ich kenne sie nicht. Es sind Fremde.«

»Du lebst mit Fremden in einem Haus?« Seine Augen wurden größer. »Aber Sidonie, wie kannst du ohne deine Familie leben? Bist du nicht schrecklich einsam?«

Ich sah ihn an und überlegte mir, was ich sagen sollte. Als ich nach einer Weile immer noch nicht geantwortet hatte, fuhr er fort.

»Aber wo sind sie? Wo ist deine Mutter? Und dein Vater? Wo sind deine Kinder?« Badou hatte bereits begriffen, wie wichtig es in seinem Land war, eine große Familie zu haben. Trotz der Kälte seiner Mutter sprach er auch von Liebe.

Vielleicht hatte er die Antwort an meiner Miene abgelesen und meine Situation zumindest zum Teil intuitiv erfasst. Denn er fügte beiläufig und doch so bedeutungsvoll hinzu, wie es nur ein Kind vermochte, das bereits zu viel über die Welt weiß: »Tot?«

Ein Kind wie Badou konnte man unmöglich anlügen. Ich nickte und sagte bedächtig: »Ja. Sie sind alle tot.«

Da kam Badou zu mir und kletterte auf meinen Schoß, so wie er es bisher immer nur bei seiner Mutter und Aszulay getan hatte. Er kniete sich hin und schmiegte seine Wange an meine. Ich spürte seine heiße Haut, roch den Staub in seinem dicken Haar. Beiläufig kam mir der Gedanke, dass er ein Bad benötigte.

Ich konnte nicht sprechen, sondern legte einfach nur die Arme um seinen schmalen Rücken. Dann fuhr ich mit den Fingern über seine Rippen und spürte die kleinen Wirbel seines Rückgrats. Unter meiner Berührung entspannte er sich und ließ sich in meinen Schoß sinken, als sei es das Normalste der Welt. Der gelbe Welpe ließ sich zu meinen Füßen nieder, wo er sich seitlich auf die warmen Fliesen legte. Seine rosa Zunge schaute ein wenig hervor, und sein Auge zuckte, um die Fliegen abzuwehren. Falida fegte noch immer träge den Boden, und das Geräusch ihres weichen Handbesens bildete einen einschläfernden Rhythmus, während wir in dem gesprenkelten Licht des Innenhofs saßen, mein Kinn auf Badous Kopf ruhend, und darauf warteten, dass Manon aufstand.

Schließlich rief Manon nach Falida. Ich hörte ihre heisere und quengelige Stimme aus einem Fenster im ersten Stock. Falida stieg die Treppe hinauf, um gleich darauf wieder herunterzukommen und durch die Tür im Erdgeschoss zu gehen. Badou blieb auf meinem Schoß sitzen.

Kurz darauf hörte ich wieder Schritte auf der Treppe; ich wappnete mich innerlich, um Manon gegenüberzutreten.

Doch es war nicht Manon. Ein Mann, der sein dunkelblondes Haar notdürftig über die Stirn gekämmt und einen Bartschatten auf den Wangen hatte, wirkte ebenso erstaunt, mich zu sehen wie ich ihn. Er war gut aussehend, trug einen maßgeschneiderten, wenn auch zerknitterten cremefarbenen Leinenanzug und hielt einen breitkrempigen Hut in der Hand.

»O Madame«, sagte er und hielt einen Moment lang auf der Treppe inne. »Guten Tag.«

»Guten Tag.«

»Manon wartet auf ihren Tee. Ich glaube nicht, dass sie über Ihren Besuch informiert ist«, sagte er. »Soll ich …«

»Nein«, unterbrach ich ihn. Zu viele Gedanken kreisten in meinem Kopf. Dieser Mann hatte offensichtlich die Nacht bei Manon verbracht. War er ihr Mann? Nein. Das konnte nicht sein, oder? Ich warf Badou einen flüchtigen Blick zu. Als Badou gehört hatte, wie der Mann die Treppe herunterkam, war er aufgesprungen und stand nun mit dem Rücken zu dem Fremden da und streichelte geflissentlich den Hund. Und was war mit Aszulay?, überlegte ich weiter. »Ich warte hier auf sie«, sagte ich.

»Wie Sie wollen.« Er verbeugte sich leicht und ging dann zum Tor hinaus. Badou hatte er keinerlei Beachtung geschenkt.

Als das Tor hinter ihm ins Schloss fiel, fragte ich mich, wo Badou und Falida schliefen und was Manon ihnen wohl sonst noch zumutete.

Badou rannte die Treppe hinauf. Ich hörte, wie er mit seinem Stimmchen seiner Mutter sagte, dass ich im Innenhof auf sie wartete.

»Was will sie?«, antwortete Manon schlecht gelaunt.

»Ich weiß nicht, Maman«, sagte er. »Weißt du was? Ihr Papa und ihre Maman und ihre Kinder, sie sind alle tot.«

Ein Rascheln war zu hören. »Sie hat eben keine Familie verdient«, sagte Manon. Ich war schockiert, nicht nur aufgrund ihrer unverhohlenen Abneigung mir gegenüber, sondern auch weil es grausam war, so etwas gegenüber einem Kind zu sagen.

Ich dachte an die sanfte Wölbung von Badous Kopf, als er sich an mich gelehnt hatte. »Manon!«, rief ich laut und stand vom Brunnenrand auf, ehe sie noch mehr zu ihm sagen konnte. »Ich muss mit Ihnen reden.«

»Sie warten, bis ich so weit bin«, sagte sie im gleichen gereizten Ton, in dem sie mit Falida und Badou gesprochen hatte. Mir blieb wieder einmal nichts anderes übrig, als mich erneut zu setzen und zu warten, bis sie sich in den Innenhof bequemte.

Schließlich kam sie so langsam die Treppe herunter, als hätte sie alle Zeit der Welt. Sie trug nur einen weiten, beinahe durchsichtigen Kaftan; im Tageslicht konnte ich deutlich ihren schlanken und doch kurvenreichen Körper darunter erkennen. Sie hatte noch immer feste und üppige Brüste. Ihr Haar war ungekämmt und der Kohl um ihre Augen verschmiert. Ihre Lippen wirkten aufgedunsen.

Während ich zusah, wie sie hoheitsvoll die Treppe herunterkam, wäre ich am liebsten zu ihr gerannt und hätte sie die Stufen hinuntergestoßen oder sie an den Haaren gezogen oder sie geschlagen. Wie gern hätte ich sie angeschrien, dass sie eine Lügnerin und ein hinterlistiges Weibsstück sei, das einen so hübschen Jungen wie Badou und ein so schönes Haus nicht verdient habe. Die einen Liebhaber – den anderen, Aszulay – nicht verdient habe, der so viel Würde und Anstand ausstrahlte und sich so liebevoll und treu um Badou kümmerte. Wusste er, dass sie ihn ebenso betrog, wie sie mich hintergangen hatte?

Aber ich sagte oder tat nichts dergleichen. Ich blieb auf dem Brunnenrand sitzen, die Finger verkrampft ineinander verschlungen, die Lippen zusammengepresst.

Sie setzte sich auf das Sofa und rief abermals in scharfem Ton nach Falida. Das Mädchen kam augenblicklich aus dem Haus, in den Händen ein Tablett mit Teekanne und einem Glas sowie einigen Brotfladen und einer Schüssel mit etwas, das wie Marmelade aussah. Sie stellte es auf den niedrigen Tisch. Badou, der leise, beinahe schleichend, hinter ihr die Treppe heruntergekommen war, nahm neben seiner Mutter Platz.

»Hast du diesen Mann gesehen, Sidonie?« Sie war einfach zum Du übergegangen. »Den charmanten Olivier? Nicht schlecht, findest du nicht auch?«

Ich starrte sie nur an. Was erwartete sie von mir? Dass ich sie zu einem weiteren Geliebten beglückwünschte? Ihr hinsichtlich seiner Qualitäten zustimmte?

»Du siehst furchtbar aus, Sidonie«, sagte Manon, als wäre dies ein Grund zur Freude. »Blass und erschüttert. Als ginge es dir richtig dreckig.« Der Anflug eines Lächelns lag auf ihren Lippen. Sie nahm einen Schluck Tee und gab einen Löffel des fruchtigen Muses auf ein Brot und biss hinein.

Natürlich erwartete ich nicht, dass sie mir etwas anbot. Aber selbst ihrem Sohn gab sie nichts, der zusah, wie seine Mutter aß und trank.

»Was haben Sie denn erwartet, nach dem, was Sie mir erzählt haben?« Ich bemühte mich nicht, meine Wut zu unterdrücken. »Haben Sie wirklich gedacht, ich würde die Wahrheit nicht herausfinden, Manon – dass Sie mich angelogen haben? Dass ich Ihnen glauben und mir nichts, dir nichts abreisen würde? Den Schwanz einziehen wie ein geprügelter Hund?« Aber genau das hätte ich getan, hätte mich nicht Aszulay eines Besseren belehrt. »Was für ein grausames Spiel spielen Sie eigentlich mit mir? Und warum?«

Manon kaute in aller Ruhe und schluckte den Bissen herunter. »Ich musste selbst so vieles in meinem Leben überstehen. Ja, so vieles«, wiederholte sie. »Mein Maß an Unglück übersteigt alles, was du dir vorstellen kannst.« Sie hob das Kinn, als wollte sie mich herausfordern, dann warf sie Badou einen Blick zu. »Geh hinaus.«

Ungeduldig schüttelte ich den Kopf und verkrampfte die Hände im Schoß, um nicht aufzuspringen und ihr ins Gesicht zu schlagen. Nie zuvor hatte ich Gewalt angewandt, aber in diesem Moment juckte es mich in den Fingern. Badou durchquerte den Innenhof und ging zum Tor hinaus, während er mit einem schnalzenden Laut das Hündchen zu sich rief.

»Was immer du auch erlebt hast, Manon, hat nichts mit der Geschichte zwischen mir und Etienne zu tun.« Ich hatte keine Lust mehr, sie länger zu siezen, nachdem sie längst zum Du übergegangen war. »Ich kann mir keinen Grund vorstellen, der dich dazu berechtigt, auf derart erbärmliche Weise zu lügen. Warum hast du mir nicht schon bei meinem ersten Besuch gesagt, dass er nicht da ist? Was für ein abartiges Vergnügen bereitet es dir, mich so …« Ich unterbrach mich, wollte mir nicht ausmalen, mit welchem Gesichtsausdruck sie zugesehen hatte, wie ich schrie und zu Boden stürzte, nachdem sie mir erzählt hatte, dass Etienne tot sei.

Manon hob gleichgültig eine Schulter. »Etienne hätte dich niemals geheiratet, das weißt du doch«, sagte sie. »Nie im Leben hätte er dich geheiratet. Also dachte ich, es sei leichter für dich zu ertragen, wenn du ihn für tot hieltest. Dann hättest du nicht weiter vergeblich hoffen müssen. Du wärst nach Hause gefahren und hättest dir deine albernen Träume aus dem Kopf geschlagen.«

Sie konnte mich nicht zum Narren halten. Gewiss hatte sie mich nicht angelogen, um mir die Situation erträglicher zu machen.

»Woher weißt du, dass er mich nicht heiraten würde? Woher weißt du, was dein Bruder für mich empfindet oder was er tun würde?« Ich wusste, dass er nicht mit ihr über mich geredet hatte, sonst hätte sie sofort gewusst, wer ich war, als ich zum ersten Mal vor dem Tor stand.

Einen Moment lang war ich versucht, ihr von dem Kind zu erzählen, das ich verloren hatte, verwarf den Gedanken aber wieder.

»Etienne ist viel zu egoistisch, um zu heiraten.«

»Das weißt du nicht. Du hast nicht erlebt, wie er zu mir war.«

»Das ist auch nicht nötig. Ich kenne ihn nur zu gut, Sidonie.«

»Du kennst ihn als Bruder. Wenn man mit jemandem blutsverwandt ist, sieht man gewisse Dinge nicht. Die Beziehung zwischen Bruder und Schwester ist nicht vergleichbar mit der zwischen Mann und Frau.« Während ich sprach, bemerkte ich, wie sich ein anderer Ausdruck auf Manons Gesicht schlich, der Anflug eines anzüglichen Grinsens, wie mir schien.

»Im Übrigen würde er allein schon deswegen nicht heiraten, weil er kein Kind zeugen will«, sagte sie, und wieder sah ich diesen stichelnden Ausdruck in ihren Augen.

Ich schluckte, froh, meine Fehlgeburt nicht erwähnt zu haben. »Warum sagst du das?«

Sie lehnte sich lächelnd zurück. In ihrem Mundwinkel sah ich einen Klecks roter Marmelade; sie leckte ihn weg. Mir fiel auf, dass ihre Zunge rosa und spitz war. »Majoun«, sagte sie und beugte sich wieder vor, um einen weiteren Löffel voll Marmelade zu essen. »Magst du majoun, Sidonie?«, fragte sie und hielt mit dem Löffel auf dem Weg zum Mund einen Moment lang inne.

»Ich weiß weder, was das ist, noch interessiert es mich.«

»Vom kif-Rauchen bekomme ich einen wunden Rachen. Deshalb ziehe ich das hier manchmal vor – Cannabis mit Obst, Zucker und Gewürzen aufgekocht«, sagte sie und aß den Löffel voll, ohne ihn auf ein Stück Brot zu geben. »Ich füttere auch Badou damit – wenn ich will, dass er schläft«, fügte sie hinzu, und ich dachte an den Mann, mit dem sie die vergangene Nacht verbracht hatte.

Sie widerte mich dermaßen an, dass ich aufstehen musste. »Ich bin heute hergekommen, weil ich hoffte, endlich zu erfahren, wo ich Etienne finden kann. Und dass du mir den Grund für dein Verhalten mir gegenüber verraten würdest«, sagte ich. »Aber ich hätte wissen müssen, dass es dafür keine Erklärung gibt. Du bist einfach eine durch und durch boshafte und gehässige Frau.«

»Glaubst du, ich schere mich um deine Meinung?« Sie gab ein verächtliches Lachen von sich. »Du weißt doch gar nicht, welches Schicksal ich erdulden musste, du mit deinem bequemen Leben, deinem Haus mit Garten und dem Malen als Hobby, als Zeitvertreib, und deiner alten Katze zum Spielen. Dein Leben lang hast du immer tun können, was du wolltest.« Sie hatte die Schale mit dem majoun leer gegessen. Manon hob sie hoch und blickte mich über den Rand hinweg an, während sie die Reste der Haschischmarmelade mit ihrer spitzen, rosa Zunge ausleckte.

Ich starrte sie an. Woher wusste sie von meinem Garten und meiner Katze? Ich hatte ihr nichts davon erzählt. Mit Aszulay hatte ich flüchtig über meinen Garten gesprochen, aber über Zinnober … die Katze hatte ich nie erwähnt.

»Wenn du wirklich wüsstest, was das Leben ist – wenn du je außerhalb deiner kleinen, sicheren Welt gelebt hättest –, dann stünde dir das Recht zu, mein Verhalten zu kritisieren.« Sie stand auf und sah mich an. »Ich habe dich angelogen, weil ich es kann. Weil es mir Spaß machte, dich weinen zu sehen, dich schwach zu sehen. Du und Etienne, ihr habt ein gutes Paar abgegeben. Er ist genauso schwach wie du. Er hat dir ja nicht einmal von seiner Krankheit erzählt.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Seiner Krankheit?« Unwillkürlich dachte ich daran, dass sein Vater eine schwere Krankheit gehabt hatte.

Sie lachte, laut und fröhlich. »Etienne war zu schwach, um dir die Wahrheit zu sagen, und schämte sich, dich ihn so sehen zu lassen, wie er wirklich ist. Nur ich kenne seine Schwächen und Makel. Ich bin die Einzige, die ihn am Boden zerstört gesehen hat.«

»Von welcher Krankheit sprichst du?«

Manon setzte sich wieder und schenkte sich noch ein Glas Tee ein, ehe sie sich wieder zurücklehnte und träge ein Bein über das andere legte. Sie trank den Tee in einem Zug und rief dann auf Arabisch nach Falida. Das Dienstmädchen erschien mit der shisha und stellte sie vor Manon auf den Boden. Dann machte sie sich mit der Wasserpfeife zu schaffen, brachte ein Feuerzeug zum Vorschein und entzündete die Kohle, die auf Silberpapier über dem Tabak lag. Schließlich stülpte sie die Rauchsäule über das Tongefäß mit dem Tabak und reichte Manon den Schlauch mit dem Mundstück.

»Hast du denn die Anzeichen nicht bemerkt?«, fragte Manon und berührte mit den Lippen das Mundstück.

Ich blinzelte, suchte in ihrem Gesicht nach der Antwort.

»Er ist zwar noch im Anfangsstadium, aber dennoch können dir die Symptome doch nicht entgangen sein. Gleich als er hier ankam, wusste ich es. Er hat dieselbe Krankheit wie unser Vater. Bist du wirklich so blind, oder tust du nur so?«

Ich rief mir Etiennes Verhalten im Krankenhaus und bei mir zu Hause ins Gedächtnis, stellte mir verschiedene Szenen unseres Zusammenseins vor: wie wir im Restaurant zu Abend aßen, wie er seinen Wagen fuhr, wie wir zusammen im Bett lagen. Kleine, scheinbar unwichtige Bilder huschten mir durch den Kopf: wie ihm manchmal die Gabel oder das Messer entglitt und mit einem Klirren auf den Tisch fiel, sein gelegentliches Stolpern über einen Teppichrand. Wie er eines Nachts beim Durchqueren meines Schlafzimmers ins Straucheln geriet, und ich dachte, er sei einfach nur von einem langen Arbeitstag im Krankenhaus erschöpft oder aber dass er den Bourbon, den er nach dem Abendessen getrunken hatte, mehr als gewöhnlich spürte.

Das leere Pillenfläschchen, das ich in seinem Zimmer gefunden hatte, fiel mir wieder ein, das ein Medikament enthalten hatte, das bei Lähmungserscheinungen oder Epilepsie verschrieben wurde.

»Etienne hat alles von unserem Vater geerbt«, fuhr sie fort. »Ich bin leer ausgegangen. Doch nun bin ich froh, denn zusammen mit seinem Vermögen hat Marcel Duverger seinem Sohn auch etwas anderes vermacht.«

Ich tastete mit der Hand hinter mir nach dem Hocker und setzte mich darauf.

»Unser Vater hat Etienne auch die Dschinn hinterlassen, die von seinem Körper Besitz ergriffen hatten«, sagte sie. »Die Krankheit, die ihn umgebracht hat, wird nun auch Etienne töten. Aber bis dahin ist noch eine lange Zeit. Zuerst wird er leiden, so wie unser Vater gelitten hat.« Sie lächelte, ein ruhiges, träges Lächeln, während sie den Kopf ein wenig zur Seite neigte, als lauschte sie einer Musik, die aus der Ferne erklang, einer Musik, die sie wiedererkannte und liebte. »Aber glaubst du, mein Vater hätte mir wegen seiner Qualen leidgetan? Nein. Mein Vater musste für sein Verhalten mir gegenüber bezahlen.« Ihr Lächeln verwandelte sich in eine Grimasse, und ihre Stimme klang bitter, als sie weitersprach. »Dieses Haus«, sie wedelte flüchtig mit der Hand, »hat Etienne für mich gekauft, bevor er nach Amerika ging. Aber das reicht nicht. Keine Summe der Welt würde genügen, um das wettzumachen, was mir angetan wurde. Ich war froh, als mein Vater starb, und ich bin froh zu wissen, dass Etienne auf gleiche Weise leiden wird. Ich gönne ihm sein Erbe, denn nun wird er damit leben müssen, bis es ihn umgebracht hat, schreiend und sich beschmutzend wie ein Baby.«

Von welcher Krankheit sprach sie? Und was meinte sie damit, als sie von den Dschinn sprach, von denen sein Körper besessen war?

»Die Dschinn wandern vom Vater zum Sohn.«

Es handelte sich also um eine Erbkrankheit. Etiennes starkes Interesse an Genetik kam mir wieder in den Sinn.

Das Tor wurde aufgestoßen, und Badou kam mit dem Hund in den Innenhof zurück. Wieder setzte er sich neben seine Mutter und schlang die Arme um den Bauch des Hundes. Dann streckte Badou vorsichtig die Hand nach den kleinen runden Broten aus, die noch auf dem Teller lagen, während er Manon einen verstohlenen Blick zuwarf. Als sie nicht reagierte, nahm er eines, brach ein Stück ab und fütterte es dem Hund, ehe er selbst einen Bissen in den Mund stopfte.

»Aber wenn Etienne in Marokko ist«, sagte ich, »wird er doch bestimmt wieder nach Marrakesch zurückkehren. Um dich und Badou zu besuchen«, fügte ich hinzu, während mein Blick zwischen Manon und dem Jungen hin- und herhuschte. Diese zwei Menschen waren seine einzige Familie. »Wann wird er wiederkommen, Manon? Wenn das stimmt, was du mir erzählt hast, muss ich umso dringender mit ihm sprechen.«

Wieder zuckte sie die Schultern und nahm einen tiefen Zug aus der shisha. Dann öffnete sie träge ein wenig die Lippen und blies eine Rauchwolke nach oben, in die warme, unbewegliche Luft.