ACHTUNDZWANZIG
Mein Atem beschleunigte sich, als ich auf ihn zutrat. Ich schob meine Aufregung darauf, dass ich hoffte, von ihm Neuigkeiten über Etienne zu erfahren.
Als er meine Schritte vernahm, drehte er den Kopf in meine Richtung und wandte sich sogleich wieder ab.
Ich rief seinen Namen, und er sah mich erneut an, dann fragte er mich etwas auf Arabisch.
Ich zog den Gesichtsschleier herunter, woraufhin er unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Mademoiselle O’Shea«, sagte er. Dann, nach einem kurzen Moment des Zögerns: »Aber warum sind Sie …«
»Aszulay, haben Sie Neuigkeiten für mich? Ist Etienne zurückgekehrt?«
»Manon hat einen Brief bekommen.« Er nahm das Ende seines Turbans aus dem Gesicht, das zuvor seine untere Gesichtshälfte bedeckt hatte. Ich hatte ganz vergessen, wie weiß seine Zähne waren. Von der Arbeit in der sengenden Sonne war seine Haut dunkler geworden, wodurch das Blau seiner Augen noch intensiver wirkte.
Ich trat näher. »Einen Brief von Etienne?«
Er nickte. »Er ist gestern angekommen.«
Ich wartete, doch sein Gesichtsausdruck verriet mir, was er mir sagen würde. »Es tut mir leid, aber er hat geschrieben, dass er vorerst nicht zurückkommen kann. Vielleicht in ein paar Wochen oder erst in einem Monat.«
Ich schluckte. Noch ein paar Wochen, einen Monat. So lange konnte ich nicht bleiben; mein Geld ging zur Neige. »Aber …« Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf. »Was ist mit dem Stempel? Sicher verrät doch der Stempel, woher der Brief kommt? Oder wahrscheinlich hat er Manon seine Adresse geschrieben, wo sie ihn erreichen kann, nicht wahr, Aszulay?«, sagte ich und blickte ihm ins Gesicht. »Wenn ich seine Adresse hätte, könnte ich zu ihm reisen und müsste nicht hier auf ihn warten.«
Aszulay sah mich schweigend an.
»Hat er denn geschrieben, wo er sich zurzeit befindet?«, fragte ich. »Wo wurde der Brief abgestempelt?«
»Sie hat mir den Brief nicht gezeigt, Sidonie«, sagte er. »Sie sagte nur, dass er noch nicht kommt, sondern erst in ein paar Wochen oder einem Monat.«
»Dann gehe ich zu ihr und frage sie. Oder, nein, vielleicht könnten Sie sie fragen, Ihnen wird sie es vielleicht sagen, mir aber bestimmt nicht.«
Er schüttelte den Kopf. »Sie ist zurzeit nicht hier.« Mit einem Mal war mir viel zu heiß, die Sonne über mir eine weiße Scheibe, die mir ins Gesicht brannte.
»Sie ist nicht da?«, wiederholte ich. »Was heißt das?«
»Sie ist weggefahren. Für eine Woche oder auch zwei, zusammen mit …«, er unterbrach sich, »… mit einem Freund.«
Mir war sofort klar, dass Manon mit dem Franzosen weggefahren war. Olivier. Bestimmt wusste Aszulay das ebenfalls.
»Hat sie Badou mitgenommen?« Ich konnte ihn nicht ansehen und starrte stattdessen auf eine Fliese in der Mauer hinter ihm.
»Nein, sie hat ihn bei Falida gelassen.«
»Aber Falida ist doch selbst noch ein Kind«, sagte ich.
»Sie ist elf. In zwei, drei Jahren ist sie in einem heiratsfähigen Alter«, sagte er. »Ich schaue alle paar Tage in der Sharia Zitoun vorbei, um ihnen Essen zu bringen und nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.«
Ich nickte und zog den haik vor dem Gesicht zusammen, um mich vor der Sonne zu schützen. Nicht nur, dass Manon mit einem anderen Mann weggefahren war, sie verlangte auch noch von Aszulay, dass er sich um ihr Kind kümmerte. Hatte sie eigentlich überhaupt kein Gewissen, kein Schamgefühl? Und Aszulay – warum ließ er sich von ihr an der Nase herumführen?
Ich sah ihn an. Ich wusste, dass er ein Mann mit Würde und von Anstand war. Wie konnte er sich von Manon derart ausnutzen lassen? Wie konnte er zu ihr stehen, wo sie ihm so wenig Respekt entgegenbrachte? Er verdiente es nicht, so behandelt zu werden.
»Also werden Sie bleiben und warten?«, fragte Aszulay mit einem merkwürdigen Ton in der Stimme. »Sie bleiben in Marrakesch und warten auf Etienne, egal wie lange es dauert, bis er wiederkommt?«
Ich befeuchtete mir die Lippen. »Ich … ja.«
»Sidonie, ich denke, es ist besser, wenn Sie nicht mehr warten. Vielleicht sollten Sie jetzt wirklich nach Hause zurückkehren.«
»Nach Hause?« Er hatte noch immer nicht verstanden. Aber wie sollte er auch? Woher sollte er wissen, dass es in Albany nichts mehr gab, wofür es sich lohnte heimzukehren. Mit einem Mal wurde ich wütend auf Aszulay, weil er sich erlaubte, mir Ratschläge zu geben. Ich war wütend auf Manon, weil sie mein Bemühen, Etienne zu finden, vereitelte. Aber am wütendsten war ich auf Etienne.
Mir war heiß, und ich hatte Hunger, da ich an diesem Tag noch nichts gegessen hatte. »Nein, ich werde warten, so wie Sie auch«, sagte ich. Ich sah ihm in die Augen.
Er schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich? Worauf denn?«
»Auf sie. Manon.« Es gelang mir nicht, meine Verachtung für diese Frau zu verbergen. »Sie warten auf sie, tun, was sie von Ihnen verlangt, während sie mit einem anderen Mann weggefahren ist.«
Er wirkte überrascht. »Ich tue es für das Kind«, sagte er, doch seine Antwort genügte mir nicht.
»Ich weiß, dass Sie mich für eine Närrin halten, weil ich auf Etienne warte. Sagen Sie es mir ruhig ins Gesicht, dass ich eine Idiotin bin. Und dann sage ich Ihnen, dass ich Sie für einen Narren halte, weil Sie auf Manon warten. Sie benutzt Sie doch nur, damit Sie auf ihren Sohn aufpassen. Wie können Sie ihr erlauben, so mit Ihnen umzuspringen?« Es war nicht meine Absicht gewesen, in diesem Ton mit Aszulay zu reden; er war immer nur freundlich zu mir gewesen. Was war mit einem Mal mit mir los? Was ging mich das an, wie Manon ihn behandelte? Warum ärgerte es mich, dass er Manon liebte?
Seine Nasenflügel bebten. »Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem Sie Etienne erlauben, Sie mit Füßen zu treten.«
Wir starrten einander an. Seine Worte hatten mich getroffen. Sie mit Füßen zu treten. Plötzlich konnte ich ihm nicht länger in die Augen sehen und senkte den Kopf. Statt ihn zu beschämen, was meine Absicht gewesen war, hatte er mich beschämt. Plötzlich wurde mir klar, wie er mich sehen musste. Als eine Frau, die geduldig auf einen Mann wartete, der … Mir war schwindelig. Die Sonne blendete mich, ließ alles um mich herum zu klar, zu transparent erscheinen.
Den Blick noch immer gesenkt, sagte ich: »Tut mir leid. Ich habe kein Recht, Sie zu kritisieren. Tut mir wirklich leid, aber ich bin … ich bin wütend. Von dem langen Warten, und jetzt …«
»Ich verstehe«, sagte er, und ich sah ihn wieder an. Tat er das wirklich? Seine Stimme klang ein wenig gepresst, seine Züge waren angespannt.
»Da ist noch etwas«, sagte ich, nicht wissend, wann ich ihn wiedersehen würde. Es war mir klar, dass ich meinen Lebensstil abermals ändern musste, wenn ich noch länger in Marrakesch bleiben wollte.
»Ja?«
»Ich suche eine andere Übernachtungsmöglichkeit. Können Sie mir vielleicht helfen, ein Zimmer zu finden?«
»Aber hier in der Ville Nouvelle gibt es etliche Hotels für Ausländer, Menschen wie Sie. Und warum wollen Sie nicht in diesem Hotel bleiben?«
»Weil es mir nicht mehr gefällt.«
»Es gefällt Ihnen nicht mehr?«
»Hier darf ich keine marokkanische Kleidung tragen. Man hat mich aufgefordert, es zu unterlassen.« Es war mir peinlich, ihm gegenüber zuzugeben, dass mir auch das Geld ausging.
»Aber warum tragen Sie nicht Ihre westliche Kleidung? Überhaupt, warum ziehen Sie sich plötzlich wie eine Marokkanerin an?«
»Mit diesen Sachen« – ich zeigte auf meinen haik – »kann ich mich freier in der Stadt bewegen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Und wie kann ich Ihnen helfen?«
Ich beschloss, aufrichtig mit ihm zu sein. »Die Wahrheit ist, Aszulay, dass ich es mir nicht mehr leisten kann, in einem der Hotels im Französischen Viertel zu wohnen. Vielleicht kennen Sie ja ein Haus in der Medina, wo ich ein günstiges Zimmer bekommen könnte.«
Er wirkte überrascht. »Aber die Medina ist kein Ort für eine Frau wie Sie. Dort leben nur Marokkaner. Sie sollten bei Ihresgleichen wohnen.«
Ohne nachzudenken antwortete ich: »Mir gefällt es aber in der Medina.« Und das stimmte auch, wie mir jetzt klar wurde. Seit ich mich so kleidete, dass ich in der Menge nicht länger auffiel, fühlte ich mich auf eine Art lebendig, wie ich es nie zuvor empfunden hatte.
»In der Medina gibt es keine Hotels. Wenn Marokkaner aus anderen Städten zu Besuch kommen, wohnen sie bei Verwandten oder Freunden.«
»Ich brauche nur ein Zimmer. Ein Zimmer, Aszulay.«
»Nein, das ist unmöglich«, sagte er kopfschüttelnd.
»Es ist unmöglich, ein Zimmer zu finden? Ich würde niemanden stören, ich würde …«
»Sie müssen versuchen, die Gepflogenheiten des Landes zu verstehen. Eine Frau, eine nasarini, allein in einem muslimischen Haus. Das gehört sich nicht.«
Eine nasarini, eine Nazarenerin – eine Christin, wie man hierzulande Ausländerinnen nannte. Ich hatte dieses arabische Wort schon mehrmals in den Souks aufgeschnappt.
Mir war nie der Gedanke gekommen, dass meine Anwesenheit in einem Haus in der Medina die Menschen vor ein Problem stellen könnte. »Dann kann ich nicht länger in Marokko bleiben. Meine ganze Reise wird umsonst gewesen sein. Dabei bin ich so kurz vor meinem Ziel, Aszulay. Ich weiß, dass Sie der Meinung sind, ich sollte nicht mehr warten, aber …«
Immer wieder gingen Menschen an uns vorbei, während wir vor dem Hotel standen.
»Bitte«, sagte ich schließlich. »Ich kann nicht mehr nach Hause zurückkehren. Verstehen Sie doch, wie wichtig es für mich ist. Haben Sie noch nie …« Ich hielt inne. Beinahe hätte ich gesagt: Haben Sie noch nie jemanden so sehr geliebt, dass Sie alles für ihn getan hätten? Aber wie kam ich dazu, vor ihm mein Herz zu öffnen? Was wusste ich schon über diesen Mann und seine Gefühle?
»Ich werde sehen, was ich tun kann, Sidonie«, sagte er, doch er wirkte alles andere als zuversichtlich.
»Danke«, sagte ich erleichtert und berührte unwillkürlich seinen Handrücken als Geste meiner Dankbarkeit.
Er blickte hinab, ebenso wie ich; meine Finger auf seiner Hand wirkten klein. Ich zog sie rasch zurück, und er sah mir wieder ins Gesicht.
Nun bereute ich, so kühn gewesen zu sein. Offensichtlich hatte ich ihn in eine unangenehme Situation gebracht. Erst später wurde mir bewusst, dass er mich die ganze Zeit über Sidonie genannt hatte.
Als mich Aszulay zwei Tage später zu dem Haus in der Sharia Soura brachte, wirkte der Besitzer alles andere als zufrieden. Er trug eine dschellaba, deren Ärmel er ein Stück weit hochgerollt hatte, sodass die welke Haut seiner Arme entblößt wurde. Aszulay hatte mir gesagt, dass es noch nicht sicher sei, ob ich tatsächlich dort wohnen könne. Aber dieser Mann, ein Freund von ihm, sei möglicherweise bereit, mich für kurze Zeit bei sich aufzunehmen.
Es war am frühen Abend, und während wir im Innenhof standen – mein Gesicht war hinter einem Schleier verborgen, sodass nur meine Augen herausschauten –, sah mich der Mann misstrauisch an. Unwillkürlich senkte ich den Blick, wie es für eine Frau hierzulande üblich war. Als ich es wagte, ihn flüchtig wieder zu heben, sah ich, wie er den Kopf schüttelte.
Aszulay unterhielt sich mit ihm unaufgeregt auf Arabisch. Eine Weile ging es hin und her, bis ich begriff, dass es das übliche Gefeilsche über den Preis war, das ich von den Märkten kannte. Nur dass es diesmal um mich ging.
Aszulay behielt die ganze Zeit seinen ruhigen, festen Ton bei, bis der Mann schließlich in einer Geste der Resignation die Arme hob und sie wieder fallen ließ. Aszulay nannte mir den Wochenpreis für Kost und Logis; es war nur ein Bruchteil dessen, was ich für eine Nacht in dem schäbigen Hotel bezahlt hatte. Ich nickte, woraufhin Aszulay meine Koffer nahm und sie ins Haus hineintrug. In der einen Hand die gewebte Tasche mit meinen Malutensilien und in der anderen die Staffelei, folgte ich ihm.
Durch den abrupten Wechsel vom hellen Sonnenlicht zu dem Halbdunkel des Flurs hatte ich einen Moment lang das Gefühl, blind zu sein. Während ich hinter Aszulay eine Treppe hinaufstieg, heftete ich den Blick auf seine Füße, die in gelben babouches steckten. Die Treppe war eng und steil, und mein rechtes Bein schmerzte vor Anstrengung, während ich die hohen gefliesten Stufen erklomm. Als wir oben ankamen, tauchte eine Katze lautlos wie aus dem Nichts auf und sprang an mir vorbei die Treppe hinunter.
Aszulay öffnete eine Tür und stellte meine Koffer in die Mitte des Zimmers. Dann drehte er sich zu mir um.
»Ist es in Ordnung?«, fragte er, und ich nickte, obwohl ich noch nicht einmal dazu gekommen war, mich umzusehen. Doch ich wusste, dass ich keine andere Wahl hatte. Ein angenehmer würzig-frischer Duft nach Holz lag im Raum.
»Ja. Ja, es ist wunderbar, Aszulay. Vielen Dank.«
»Es gibt zwei Ehefrauen. Sie werden Ihnen morgens Tee und Brot bringen und mittags und abends ein warmes Essen. Neben der Küche befindet sich eine Toilette.«
Ich nickte.
»Aber bitte denken Sie daran, dass Sie sich hier nicht so frei bewegen können wie in einem Hotel. Und ohne männliche Begleitung sollten Sie das Haus nicht verlassen. Mein Freund weiß zwar, dass Sie keine Muslima sind, aber wenn Sie hier wohnen wollen, müssen Sie sich wie eine muslimische Frau verhalten, sonst verletzen Sie ihn in seiner Ehre. Er hat zwei Söhne, von denen einer gern bereit ist, Sie draußen zu begleiten. Und falls die Frauen es erlauben, können Sie ihnen ein wenig bei der Hausarbeit zur Hand gehen, wobei ich vermute, dass sie das nicht wollen.«
»Warum denn? Ich bin nicht …«
»Weil Sie sie als Rivalin betrachten, als mögliche dritte Ehefrau. Gleich, was ihr Mann ihnen erzählt, sie werden ihm nicht glauben. Seine zweite Frau ist vor ein paar Monaten gestorben, das hier war ihr Zimmer. Also wissen sie, dass er sich nach einer anderen Frau umschaut. Gehen Sie ihnen aus dem Weg, es sei denn, sie laden Sie ein, sich zu ihnen zu gesellen. Darra marra kif defla«, sagte er auf Arabisch. »Das ist ein arabisches Sprichwort, das besagt, wenn eine neue Frau ins Haus kommt, ist es für sie bitter wie Oleander. Die Frauen ersinnen manchmal allerlei Mittel, um zu verhindern, dass sich ihr Mann eine weitere Frau nimmt. Wenn der Mann ins Zimmer kommt, in dem Sie sich mit den beiden Frauen aufhalten, drehen Sie das Gesicht zur Wand, sodass er Sie nicht anschauen kann. Er vermietet Ihnen das Zimmer nur, weil er mir einen Gefallen schuldet, aber glücklich ist er mit dieser Lösung nicht. Also, bitte, vermeiden Sie es, irgendetwas zu tun, was seinen Unmut hervorrufen könnte.« Er hielt kurz inne. »Er sagte, es sei gut, dass Sie nicht wie eine Ausländerin aussehen. So kann er den Nachbarn erzählen, dass Sie eine entfernte Cousine seiner jüngsten Frau sind.«
»Danke, dass Sie mir dieses Zimmer besorgt haben«, sagte ich, »und für … Danke.«
Es war etwas anderes, mit ihm hier in diesem kleinen, schummrigen Zimmer zu stehen, als in der Sonne draußen auf der Straße. »Werde ich Sie wiedersehen, Aszulay?«, fragte ich. Durch die Tatsache, dass er mir dieses Zimmer besorgt hatte, fühlte ich mich ihm noch mehr verbunden, fast wie einem Freund.
Er sah mich an, öffnete den Mund, sagte aber nichts, sondern nickte nur. Dann wickelte er das Ende seines Turbans um Mund und Nase, ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Die Decke war so niedrig, dass ich sie, wenn ich den Arm ausstreckte, mit der flachen Hand berühren konnte. Die Wände bestanden aus einem kühlen, harten Material. Als ich mir eine Stelle näher besah, an der ein Stück Verputz abgebröckelt war, bemerkte ich, dass es sich um getrockneten Lehm handelte. Es war die rötliche Lehmerde aus der Umgebung von Marrakesch. Ich wusste, dass feuchter Lehm in einer Holzverschalung gestampft und getrocknet wurde, bis er hart war, anschließend wurden die Lehmmauern verputzt. Der Boden war mit zahlreichen Fransenteppichen belegt. Obwohl sie ein kunterbuntes Muster ergaben, boten sie ein wunderschönes Bild. Ich lüpfte den Rand eines Teppichs und sah, dass darunter Holzplanken waren. Ich ließ ihn wieder fallen und zog Schuhe und Strümpfe aus. Die Teppiche waren zwar schon alt, fühlten sich jedoch noch immer dick und weich unter meinen Füßen an. Neben der Schlafmatratze stand ein kleiner kunstvoll verzierter Schemel und auf der anderen Seite an der Wand ein geschnitzter Tisch aus hellem Holz. Nun wurde mir klar, woher der würzige Holzduft kam, und ich fragte mich, ob der Tisch aus dem thuya-Holz bestand, von dem Mrs Russell geschwärmt hatte und das in der Gegend von Essaouira wuchs. Neben dem Tisch lehnte ein Spiegel an der Wand, dessen Rahmen mit glitzernden Glassplittern dekoriert war.
Ich blickte aus dem hohen, schmalen Fenster in den Innenhof hinab. Kein Lufthauch schien durch die Öffnung in den Raum zu dringen. Ich zog haik und Kaftan aus und schlüpfte in ein einfaches Baumwollunterkleid.
Es war meine erste Nacht in der Medina, in diesem winzigen Zimmer aus Lehm mit den herrlichen Teppichen und dem würzigen Holzduft. Über die Matratze war eine blau-weiß gestreifte Baumwolltagesdecke gebreitet. Ich betrachtete sie und versuchte, nicht an die arme Frau zu denken, die dieses Zimmer bewohnt hatte. Ob sie hier in diesem Bett gestorben war?
Ich packte die anderen Kaftane aus, die ich vor kurzem gekauft hatte, sowie die wenigen Toilettenartikel, die ich benötigte. Meine Kleider ließ ich zusammengefaltet im Koffer liegen. Die Kaftane und den haik hängte ich an die Nägel an der Tür, dann reihte ich die Toilettenartikel auf dem Tisch auf und legte die Fliese von dem Blauen Mann – wie war noch mal das arabische Wort dafür? Zellij? – auf den Schemel neben mein Bett. Die zusammengeklappte Staffelei ließ ich neben dem Spiegel stehen.
Dann setzte ich mich auf das Fenstersims – es war mindestens einen halben Meter tief –, indem ich mich mit dem Rücken an den einen Fensterstock lehnte und die Füße an den gegenüberliegenden stützte. Die Hitze ließ nun rasch nach, und ein weicher, beinahe kühler Lufthauch machte sich bemerkbar.
Ich blickte in den im Dämmerlicht liegenden Innenhof hinab, mit seinen in großen Trögen gepflanzten Bäumen, den Blumen in ihren irdenen Übertöpfen und den Mosaikfliesen mit ihren geometrischen Mustern. Bis auf das entfernte Trommeln vom Dschemma el Fna her war es ruhig. Die Katze – nun erkannte ich, dass sie rötlich braun war – schlich durch den Hof und blieb wachsam vor einem der Blumenkübel stehen. Ich musste an Zinnober denken.
Als die Straße jenseits des Innenhofs zu neuem Leben erwachte, wurde auch ich geweckt. Ich sah blinzelnd auf meine Uhr; es war erst kurz nach sieben, doch draußen war es schon recht laut. Ich stand auf und blickte zum Fenster hinaus, aber im Innenhof rührte sich noch nichts. Nur von außerhalb des Tors hörte man Hufgetrappel auf dem Kopfsteinpflaster der engen Straßen und die Stimmen von Männern, die ihre Esel antrieben. Eine Fahrradklingel ertönte, und der Duft frisch gebackenen Brots stieg mir in die Nase. Dann näherte sich ein rhythmisches Klatschen, begleitet von Kinderstimmen, die ein Lied sangen, bis sich beides wieder entfernte; offensichtlich Kinder auf dem Weg zur Schule. Kleine Kinder weinten. Aus dem Raum unter mir hörte ich ein Räuspern und Husten, gefolgt von dem unmissverständlichen Geräusch, wenn jemand ausspuckt. Ich ging in mein Bett zurück und versuchte, wieder einzuschlafen, aber es war unmöglich. Während ich dalag, wurde mir bewusst, dass ich tief und traumlos geschlafen hatte. Seit meiner Ankunft am Tag zuvor hatte ich nicht mehr an Etienne gedacht.
Als ich eine Männerstimme vernahm, stand ich wieder auf und begab mich abermals zum Fenster, um wieder in den Innenhof hinabzublicken. Der Hausherr sprach mit jemandem, den ich nicht sehen konnte, und ging dann zum Tor. Ich zog mich an, legte den Gesichtsschleier um und ging hinunter in die Küche. Drei Frauen waren dabei, Essen zu kochen: eine in mittleren Jahren, eine jüngere sowie eine Schwarze mit runzligem Gesicht, offensichtlich eine Dienerin. Alle drei trugen einfache Kaftane und darüber farbenfrohere dfinas. Sie waren unverschleiert, und als sie mich sahen, hielten sie in ihrer Arbeit inne und starrten mich an.
»Assalam aleikum«, sagte ich. Die alte Dienerin schürzte die Lippen und fuhr fort, in einem Topf zu rühren. Die Frau in den mittleren Jahren drehte mir den Rücken zu und hackte mit kräftigen Hieben Koteletts von einem großen Stück Fleisch. Nur die dritte Frau, die jünger war als ich, sah mir in die Augen und sagte: »Slema.« Ich kannte das Wort nicht, aber es hörte sich wie ein Gruß an, und so nickte ich ihr lächelnd zu. Mir war klar, dass sie meinen Mund unter dem Schleier nicht sehen konnte, doch hoffte ich, dass sie an meinen Augen sehen konnte, wie sehr ich ihre freundliche Erwiderung schätzte. Sie hatte eine Tätowierung auf der Stirn, ein Muster aus kleinen Punkten.
Ich ging zur Toilette und durchquerte danach abermals die Küche. Keine der Frauen schenkte mir Beachtung. Dann ging ich in den Innenhof hinaus und setzte mich auf eine Holzbank. Die Katze näherte sich. Ich schnipste mit den Fingern und lockte sie mit leisen, schnalzenden Lauten. Vorsichtig schlich sie heran, schnupperte an meinen Fingern und schoss wieder davon.
Nach einer Weile brachte mir die jüngere Frau einen Teller mit ungesäuertem Brot, Honig, weichem Käse und einer Scheibe blassgrüner Melone; dann ging sie wieder ins Haus, um mit einer Kanne Pfefferminztee zurückzukommen. Als sie wieder gegangen war, nahm ich die Gesichtsbedeckung ab. Während ich ein Stück Käse zum Mund führte, dachte ich an Aszulays Worte, der gesagt hatte, dass die Frauen alles versuchen würden, um zu verhindern, dass eine weitere Frau ins Haus käme. Unwillkürlich wanderten meine Gedanken zu Falida, die für Manon auf dem Friedhof Knochen und Zähne ausgegraben hatte, und zu Manon, die mir erzählt hatte, wie sie ihren Kohl herstellte – aus Ingredienzien, die Männer verrückt vor Begierde machten. Sicherlich würde sie die Knochen und Zähne für irgendeinen Zaubertrank brauchen, von denen Etienne mir berichtet hatte.
Ich rief mir in Erinnerung, wie ich in meinem Haus in Albany saß und Etiennes Erzählungen über Hexerei und Dämonen in einem Land unter sengender Sonne lauschte, während draußen der kalte Winterwind ums Haus heulte und an den Fenstern rüttelte. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als handelte es sich um eine alte Erinnerung. Oder um eine Szene aus einem Buch, das ich vor langer Zeit gelesen hatte.
Und nun saß ich hier in einem dampfigen Innenhof und betrachtete das Stück Käse zwischen meinen Fingern, während ich mich fragte, ob jemand vielleicht ein wenig pulverisierten Knochen, paar Zahnsplitter oder irgendein anderes Zaubermittel auf mein Essen gestreut hatte, ehe man es mir servierte.
Dann schalt ich mich innerlich, dass ich auf bestem Wege war, ebenso abergläubisch zu werden wie eine waschechte Marokkanerin, ehe ich ein Stück abbiss, es kaute und bedächtig schluckte. Es war cremig weich und schmeckte köstlich. Ich aß den Teller leer und trank den Tee. Eine Weile blieb ich noch im Innenhof sitzen, unschlüssig, was ich tun sollte. Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, dass ich nicht nach Belieben aufstehen und nach draußen gehen konnte. Ich fragte mich, ob sich Frauen, die ihr ganzes Leben schon so zubrachten, ebenfalls eingesperrt fühlten.
Als ich weibliche Stimmen von oben vernahm, sah ich an der Hauswand empor. Ich konnte nichts erkennen, machte aber drei verschiedene Stimmen aus, die vermutlich vom Dach kamen.
Ich bedeckte wieder das Gesicht, stieg die Treppe hinauf, ging an meinem Zimmer vorbei und erklomm eine weitere Treppe. Die Stimmen der Frauen kamen näher, und als ich aus dem düsteren Treppenhaus auf das Dach trat, musste ich gegen das helle Morgenlicht anblinzeln. Die Stimmen erstarben, sie gehörten den beiden Ehefrauen und der Dienerin, die im Schneidersitz um einen Haufen goldener Getreidekörner herumsaßen.
Aszulay hatte mir geraten, mich nicht zu ihnen zu gesellen, es sei denn, sie forderten mich dazu auf. Und als sie wieder wegsahen und fortfuhren, das Getreide zu verlesen, indem sie Schmutzteilchen herauspickten und die von Unreinheiten gesäuberten Körner auf einen Jutestreifen gaben, setzte ich mich ans hintere Ende des Dachs.
Ich ließ das Gesicht bedeckt, fühlte ich mich doch irgendwie wohler, wenn sie meine Miene und die Unsicherheit, die ich vermutlich ausstrahlte, nicht sahen. Was hatte der Mann wohl über mich erzählt? Was dachten sie von mir, einer Frau allein in einem Land, in dem eine Frau ohne Mann gar nichts war? Gewiss empfanden sie Mitleid. Vielleicht Abneigung. Ich wusste es nicht.
Sie begannen wieder zu plaudern, doch etwas leiser als zuvor und indem sie mir gelegentlich verstohlene Blicke zuwarfen. Während ich den Blick über die Altstadt schweifen ließ, sah ich immer wieder flüchtig zu ihnen hinüber. Über meinem Kopf schossen Schwalben hin und her. Ich wünschte, ich hätte verstehen können, was die Frauen sprachen. Von den Flachdächern der anderen Häuser waren manche ein wenig höher, andere wiederum niedriger als das, auf dem ich saß. Hie und da wurde das Dächermeer von einem Minarett überragt. Wie Leuchttürme, die ein wenig fehl am Platz wirkten, erhoben sie sich quadratisch und gleichermaßen stabil und schlank aus ihrer Umgebung.
In einiger Entfernung hinter der Stadt schimmerte das Atlasgebirge in der Sonne. Wenn ich die Augen fast zumachte und ein wenig blinzelte, schien es, als müsste ich nur die Hand ausstrecken und ich könnte die Berge berühren.
Ich dachte daran, wie ich auf dem Hoteldach in Tanger gestanden hatte und dass ich mich wie eine Frau gefangen zwischen zwei Welten gefühlt hatte. Doch hier, in einem Kaftan und mit Gesichtsschleier, hatte ich das Gefühl, eine unsichtbare Grenze überschritten zu haben. In diesem Moment gab es nur diese eine Welt hier, die ich bewohnte.
Auch auf einigen der benachbarten Dächer erblickte ich Frauen und Kinder; Männer waren nirgendwo zu sehen. Ganz offensichtlich waren die Dächer das Refugium der Frauen, der Ort, an dem sie frei waren. Hier waren sie unverschleiert und konnten sie selbst sein. Hier erinnerten sie nicht an die dunklen Gestalten, die in den Straßen und Gassen der Medina an mir vorbeigehuscht waren. Während sie Laken zum Trocknen ausbreiteten und ihre Kinder stillten oder über einer Näharbeit gebeugt dasaßen, lachten und plauderten sie ausgelassen. Eine Frau stritt laut mit einer jüngeren, und an der vertrauten Art, wie sie miteinander umgingen, spürte ich, dass es sich um Mutter und Tochter handelte. Eine alte Frau lag schlafend und mit offenem Mund auf dem Rücken in der Sonne. Kleine Kinder spielten, kletterten über ihre Mütter oder kauten an einem Stück Brot, das sie mit ihrer kleinen Faust umklammerten.
Nach einer Weile schienen die drei Frauen mich vergessen zu haben. Sie lachten und nickten einander zu, während sich ihre kräftigen Hände geübt und flink an dem Getreideberg zu schaffen machten. Plötzlich beneidete ich sie um ihre Nähe, die freundschaftliche Art, wie sie miteinander umgingen.
In der Juniper Road hatte ich bewusst Freundschaften gemieden, doch hier sehnte ich mich danach, Teil dieser kleinen Gruppe zu sein, auch wenn ich selbst nicht wusste, warum. Ich hätte gern eine Hand voll goldener Getreidekörner zwischen meinen Fingern durchrieseln lassen, und obwohl ich ihre Gespräche nicht verstand, wollte ich, dass ihre fremden Worte mich umflossen und sich mir um die Schultern legten wie ein leichter Mantel.