Kapitel 6



Unter ihnen rauschte das Metroplex vorbei, während Danal aus dem engen Fenster des Hovercars starrte, das von dem Soldaten gelenkt wurde. Er saß in dem Abteil (Arrest- und Ladungsabteil) ganz hinten und sagte nichts. Die eskortierenden Soldaten ignorierten ihn.

Der Aufzug hatte Danal von einer der unteren Etagen der Resurrection Inc. hochgebracht und somit in das Foyer befördert. Der Empfangsbereich war größtenteils mit kräftig gemasertem Klonbaumholz ausstaffiert worden, das ihm das gediegene, düstere Erscheinungsbild eines altertümlichen Beerdigungssaals verlieh. Danal war aus dem Aufzug gestiegen und hatte – ohne sich zu bewegen – auf den Teppich, die Ornamente, den beleuchteten Springbrunnen und die Empfangsdame gestarrt. Nur einen Moment später kam einer der Soldaten und führte ihn zu einem wartenden Hovercar, wo er ihm befahl, im hinteren Bereich Platz zu nehmen.

Sie verließen die überfüllten Straßen über den Luftweg. Der ewige Gleichklang des Fußgängergemurmels verstummte und ließ eine unheimliche Art Stille zurück. Nur der Klang der Bürsten von den Smog-Schrubbern ergänzte das Summen der Reinigungsdrohnen, die die Luft und die Oberflächen an den Seiten der größeren Gebäude filterten, um wertvolle chemische Elemente wiederzugewinnen. Wohnungen und Geschäftskomplexe dehnten sich in den Himmel aus, und eine unendliche Menge von blinden Augen starrte in Form von Fenstern auf die Welt hinunter.

Je höher sie flogen, umso größer wirkte das Metroplex, so sauber und sich wiederholend, wie ein riesiger Computerchip: Straße für Straße, Block für Block – alle geometrisch angeordnet. Die größeren Industriezentren konnte man schon von weitem erkennen, aber die Zwischenräume teilten sich die Einkaufszentrenten und Wohnsiedlungen.

Als das Hovercar sein Ziel erreicht hatte, entdeckte Danal die Umrisse eines viktorianischen Hauses vor sich, das inmitten der dichtgedrängten Eigentumswohnungskomplexe deplatziert wirkte. Das Dach des Haupthauses überragte das ganze Gebiet. Es befand sich am Ende dieses Blocks und wirkte sehr separiert, was durch den schmalen Grünstreifen aus fein gestutztem Kunstrasen nur noch unterstrichen wurde.

Van Rymans bizarres Haus bestand aus eigenartigen Winkeln, schiefen Dachgiebeln sowie schwarzen Fensterläden, von denen die Farbe abblätterte. Eine der Dachrinnen hing schief, als ob sie absichtlich aus dem Gleichgewicht gebracht worden war, um damit eine beabsichtigte Wirkung zu erzielen, so dass das Haus noch kurioser und klappriger erschien. Eine Wetterfahne tanzte in alle Richtungen, und ihre Silhouette erweckte den Eindruck, als ob dort ein betrunkener Luftdämon Pirouetten drehte. Grinsende Gargoyles hockten auf den Dachgiebeln, wirkten heller und glänzender als der Rest des Gebäudes, als ob man sie neu angebracht hätte.

Aber die Gargoyles wurden doch entfernt!

Aus Wut vom Haus geschlagen.

Warum sind sie wieder da?

Danal wusste nicht, wie ihm geschah, als ihn die Erinnerungen mit voller Wucht trafen, und das, obwohl er versuchte, den ruhigen und gelassenen Ausdruck auf seinem Gesicht aufrechtzuerhalten, den ein Diener haben sollte. Er griff nach einem dieser flüchtigen Gedanken, der aus dem Inneren seines Geistes nach oben geflogen war, und ihm wieder durch seine mentalen Finger rutschte. Die feinen Wellenbewegungen seiner Erinnerungen erstarben und ließen ein Loch zurück, ohne den Anschein einer Antwort zu erwecken.

Etwas anderes hatte sich tief in seinem Unterbewusstsein zusammengesammelt, wie die Gasblase in einem Mineralwasser oder einer Limonade – es war die Ansammlung von begrabenen Erinnerungen hinter einer Wand aus Tod, als ob sie eine ausgestreckte Hand aus dem Grab festhalten würde. Das erste Zerplatzen seiner ungezähmten Erinnerungen hatte sich deutlich in sein Hirn gebrannt – da hatte er gestanden, die Flüssigkeit aus dem Wiederauferstehungstank tropfte ihm vom Körper und er war wieder ins Leben zurückgekehrt. Ein Name, eine Ungewissheit – Julia – aber kein Gesicht dazu, und auch keine anderen Details, um diese Sorgen abzumildern …

Jetzt, da er draußen war, ergossen sich so viele Eindrücke, Klänge, Gerüche und Erfahrungen über seine aushungerten Sinnesorgane. Alles fiel geordnet in die leeren Taschen seiner Erinnerungen, bestückte die Regale, füllte die Lücken. Danal war nach wenigen Minuten bereits völlig fertig. Er musste die Erlebnisse filtern, musste die unwesentlichen Details aussondern, egal wie sehr er dieses neue Leben wollte und wie sehr es ihn traurig machte, nicht alles auf einmal erfassen zu können.

Er fragte sich, ob sich alle Diener wie er fühlten.

Der Soldat öffnete das Arrest-/Ladungsabteil, erlaubte Danal Schritt für Schritt aus dem Hovercar zu steigen. Der Diener stand neben dem Soldaten, genau vor Vincent Van Rymans Villa, und wartete. Der Soldat wirkte beunruhigt, geradezu nervös. Danal fühlte, wie ihn eine zweifelnde Neugier erfasste, vielleicht sogar eine gewisse Art Auflehnung. Ein Teil von ihm wusste, was Diener waren und wie sie zu sein hatten. Aber etwas in ihm sprach nicht die Wahrheit. Und das erschreckte ihn.

Der Soldat trat schließlich auf den Weg, der zur Veranda führte, dicht an eine kaum sichtbare Wand in der Luft: das tödliche Kraftfeld von Van Rymans Verteidigungssystem, das zum Schutz vor Einbrechern gedacht war.

»Vincent Van Ryman!«, rief der Soldat, offenbar zu ängstlich, um überhaupt in die Nähe des Hauses zu gehen. »Ich Ihren Diener Danal hierhergebracht.« Der Soldat zitterte. Danal hingegen stand einfach nur da, fehlerlos, ausdrucklos.

Das Glitzern in der Luft verblasste, und Danal spürte, dass das Feld ausgeschaltet worden war. Aber der Soldat schien nicht gewillt, einen Schritt weiterzugehen. Er räusperte sich. »Du gehst vor, Diener. Befehl: Gehen.«

Der Soldat bedeutete ihm vorauszugehen, und Danal schritt ruhig den Gehweg zur Veranda entlang. Der Weg war aus schwarzem, strukturiertem Beton gegossen; im Garten gab es kein Unkraut. Danal ging weiter, setzte einen Fuß vor den anderen, da ihn die Diener-Programmierung dazu zwang, dem Befehl des Soldaten Folge zu leisten. Die Unruhe in ihm wuchs weiter, aber er versuchte, alle weiteren aufkommenden Gedanken nicht an die Oberfläche steigen zu lassen, wo sie der Mikroprozessor greifen und sie untersuchen konnte.

Déjà-Vu. Dieser Gedanke blieb auf einmal in seinen Kopf – es hatte Klick! gemacht, und irgendwie fühlte es sich richtig an.

Unter seinen Schritten knarrte es auf der Veranda, wo das Geländer zersplittert und verwittert aussah, aber als er für einen Augenblick seine Aufmerksamkeit darauf richtete, wurde ihm klar, dass es angemalt und strukturiert worden war, um so auszusehen. Das alles wirkte irgendwie vertraut, und der Teil von ihm, der sich nicht fürchtete, wollte verstehen, was Vincent Van Rymans Villa zu verstecken versuchte.

Offenbar erleichtert darüber, dass er die Ware sicher abgeliefert hatte, salutierte der Soldat den wahrscheinlich unbeobachteten Kameras der Van Rymans Villa zu, drehte sich um und ging zügig zu seinem Hovercar zurück. Danal beobachtete ihn für einen Augenblick, war verblüfft, und sah dann auf die Tür.

»Ihr Diener meldet sich zur Stelle, Master Van Ryman.« Er blieb auf der Veranda, saugte die Details des Holzes in sich auf und entdeckte sogar ein künstliches Hornissennest, das ordentlich unter der Dachrinne angebracht worden war. Er starrte den kunstvollen Türgriff an, ein in Messing gegossener scheußlicher Kopf Gorgons, der den Türklopfer in seinen Fängen hielt.

Eine Stimme erklang aus einem versteckten Lautsprecher in Gorgons kantigem Maul. »Mach die Tür auf und komm herein, Danal.«

Die Eingangshalle wurde von einem Kronleuchter erhellt, dessen spärliches Licht die Ecken in einer tiefen Finsternis unbeschienen ließ. Ein weicher, violetter Teppichboden federte Danals Schritte ab, als er noch einen Schritt vorwärts ging und wieder stehenblieb. Master Van Ryman stand am Ende der Halle in einem Schatten.

»Willkommen, Danal.« Seine Haltung zeigte eine ungewöhnliche Mischung aus Erregung und Schrecken, nur schwach hinter einer Maske verborgen, mit der er ruhig erscheinen wollte.

Danal benutzte den Mikroprozessor freiwillig, um zu denken und um mit größerer Geschwindigkeit zu prüfen und die Details in seiner wachsenden geistigen Datenbank einordnend. Van Ryman war fast genauso groß und von ähnlicher Statur wie Danal, aber er hatte dunkles, welliges und langgewachsenes Haar, das ihm über seine Schultern fiel; sein Gesicht war breit und wirkte rau, aber aufnahmebereit. Eine teure grüne Robe bedeckte nur schwach die enganliegende schwarze Kleidung, die er darunter trug. Van Rymans Stirn war nass, spiegelte das Licht und war so rot, als ob er sich gerade kräftig daran gekratzt hätte.

Sie standen wie festgefroren da, starrten einander an, und Danal fühlte sich seltsamerweise daran erinnert, dass sie sich wie Tiere belauerten, als würden sie um ein Territorium kämpfen müssen. Van Rymans Gesicht rief eine merkwürdige Reaktion in ihm hervor. Es kam ihm geradezu vertraut vor, verrückterweise. Danal wollte ihm eine Frage stellen, aber es fühlte sich in ihm alles andere als angenehm an – unangenehm, und zum Glück regulierte das SynHerz seinen Puls. Ohne die feine Kontrolle seiner Gesichtsmuskeln außer Acht zu lassen, um seine Sorgen nicht zu zeigen, brach ein Strudel an zurückkehrenden Erinnerungen in seinen Geist.

Um die erstarrte Situation aufzutauen, drehte sich Danal reflexartig um und schloss die schwere Tür aus Klonbaumholz. Vincent Van Ryman lächelte vergnügt vor sich hin und kam zwei Schritte näher; Danal hörte seinen leisen Seufzer der Erleichterung wie einen Donnerhall durch die angestaute Stille des Hauses. Im Licht des Kronleuchters sah Danal die Augen seines Masters, und ihm wurde klar, dass sie es waren, was ihn wie mit einer Lanze der Verwirrung gestreift hatte: die Augen irgendwie falsch. Etwas passte nicht, aber Danal versteckte seine Gedanken und kämpfte seine Gefühle nieder, verzweifelt darum bemüht, sein Auftreten als Diener beizubehalten.

»Noch einmal: Willkommen in meinem Haus, Danal.« Van Rymans Blick wirkte ein wenig erschreckend, streifte Danals Gesicht, scharfsinnig, als ob er auf eine Reaktion wartete. Der Diener kämpfte dagegen an, seinem Master in die unbekannten Augen und auf die vertrauten übrigen Körpermerkmalen zu starren.

Van Ryman überraschte ihn, als er vortrat, um den grauen Overall des Dieners zu packen, den er dann über der Brust öffnete. Mit einem offensichtlichen Schaudern, das aus Erregtheit oder Ekel bestand, fasste Van Ryman die blasse Narbe von Danals Todeswunde auf seiner weißen Haut an. Der Mann lächelte vor sich hin, nickte. Unfähig, Widerstand zu leisten, stand der Diener bewegungslos vor ihm und ließ die Kontrolle über sich ergehen.

In diesem Licht konnte Danal kleine rote Nadelstiche hinter den Ohren Van Rymans erkennen. Sie folgten einer ungeraden Linie, die bis zum Kiefer hinunterführte. In noch schlechterer Beleuchtung oder auf größere Distanz wären sie gar nicht zu erkennen gewesen. Danal bemerkte ähnliche Nadelstiche auch an den Fingerspitzen seines Masters.

Van Ryman schürzte seine Lippen, stemmte die Hände in die Hüften und stand ruhig da, um den Diener mit einem verträumten Blick anzustarren. Dann zupfte er Danals grauen Overall wieder zurecht, als ob nichts passiert wäre, klatschte in die Hände und rieb sich die Handflächen.

»Bitte, komm doch mit in mein Studierzimmer. Befehl: Folgen.« Er sprach freundlich, aber bestimmt und mit einem enormen Selbstbewusstsein. Van Ryman ging die Halle entlang, drehte sich dann noch einmal um, damit er Danal beobachten konnte, als ob es ihm nicht behagte, den Diener im Rücken zu haben. Sie gingen an dem kleinen Kontrollraum für das Verteidigungssystem gegen Einbrecher und an dem Badezimmer vorbei. Danal folgte, wieder mit großen Augen, und versuchte alle Details des Hauses hinunterzuwürgen, die in ihn hineingingen.

Er fühlte einen Hauch von unwirklichem Altertum in dunkler Eleganz: viel davon alt und wertvoll, aber ohne ein gewöhnliches Zentrum und ohne ein Zeitalter, als ob ein Sammler sie einfach gesammelt hatte, weil sie alt waren, als ob es ihm egal war, ob sie in ihrer Anordnung zusammenpassten.

Hatte die Dämmerung

schon immer in diesem Haus Einzug gehalten?

Danal gab sich selbst eine mentale Ohrfeige, um diese Summstimme in seinem Kopf zu vertreiben. Die Flashbacks wirkten auf ihn wie die Erinnerungen an einen Unbekannten, jemanden, den er niemals gekannt hatte, jemanden ganz anders als Danal. Aber er kämpfte gegen die noch größere Angst der aufkommenden Fragen an.

Van Ryman bog um eine Ecke, und sie befanden sich in einem von einem Feuer beleuchteten Studierzimmer wieder. Der Master drehte sich zu ihm um und sah ihn mit einem hoffnungsvollen, verzweifelten Gesichtsausdruck an.

»Ich möchte ein langes Gespräch mit dir führen, Danal. Ich brauche ein paar Antworten.«