Kapitel 4



Der Körper mit dem Namen Danal hing am Ende in dem reinigenden Bad einer amniotischen Lösung. Ein leichter Geruch nach Chemikalien wehte aus den schmalen Schlitzen am oberen Rand des Tanks. Rodney Quick wünschte sich, dass sein Geruchssinn ein für alle Mal dagegen unempfindlich werden würde.

Eine lange, farblose Narbe lief über die Mitte von Danals Brust, wo Rodney das SynHerz implantiert hatte – eine Narbe, die niemals verblassen würde, da ein Diener nicht heilen konnte. Danals Körper war rasiert und seine Nägel geschnitten worden; er hing in einem bernsteinfarbenen Nährstoffbad, trieb darin umher und wurde von schweren Gewichten unten gehalten. Die Augen des angehenden Dieners waren glückselig geschlossen, als ob er einen letzten friedlichen Kuss des Todes genoss.

Ein unwillkürlicher Schauder lief Rodneys Rücken hinunter, aber es gelang ihm, dieses Gefühl zu verbergen – vor all den Augen, die er nicht sehen konnte. Siebzig andere Tanks arbeiteten ohne Unterlass in dem großen Raum, schufen Diener für Diener. Jeden Tag kamen neue Diener-Rohlinge an und wiederauferstandene Körper gingen angetrieben von einem eigenständigen Motor gleichzeitig hinaus. Mikroprozessor eingebaut, Reise genehmigt. Das ganze System war viel zu effektiv, um irgendwie hässlich zu wirken, und vielleicht war das der Grund, warum es ihn solange zum Narren gehalten hatte.

Die hellen, diffusen Lichter von Untergeschoss Sechs erschienen ihm mit jedem Tag kälter. Der Tod umgab Rodney und der Gestank der Wiederauferstehungschemikalien hing wie eine Wolke über ihm, der Hauch des Schnitters, der an ihm haftete, selbst wenn er von der Arbeit fortging und ein normales Leben zu leben versuchte.

Ein merkwürdiges, grauenhaftes Gefühl wuchs seit Tagen in ihm heran, das es ihm schwer machte, seinen Job ordentlich zu erfüllen. Nach all der Zeit, die er für die Resurrection Inc. gearbeitet hatte, sah er schließlich seiner eigenen Sterblichkeit entgegen, sah der realen Möglichkeit seines eigenen Todes entgegen. Das Wissen darum ließ seine Nerven allmählich immer dünner werden.

Die Aufseherin hauchte ihm, während sie ihm über die Schulter sah, ihren Atem gegen den Hals, als wäre sie ein Vampir, was seinen Job nur noch mehr zu einem Albtraum machte. Offenbar hatte sie es auf Rodney abgesehen, wollte ihm aus einer Laune heraus den Arbeitsplatz wegnehmen. Rodney wusste von anderen Menschen, die für sie gearbeitet hatten. Sie hatten alle ganz unterschiedliche Berufe gehabt – völlig anders, als es sein Job war –, und sie alle waren verschwunden, ohne Erklärung und ohne Abfindung des Managements. Als wandelnde Schnittstelle zum Internet, wusste die Aufseherin nur zu gut, wie unentbehrlich sie für Resurrection Inc. war. Sie wirkte ekelerregend überzeugt von sich, wusste, dass niemand dem Aufmerksamkeit schenken würde, was sie tat. Rodney war in einem Katz-und-Maus-Spiel gefangen und konnte nur ganz leise für sich in Panik geraten. Er machte einfach weiter seinen Job, hoffte darauf, dass es nicht dieser Tag wäre, nicht dieser. Aber er wusste nicht, wie viel länger er es aushalten konnte, wie viel länger er kriechen könnte und Entschuldigungen finden würde, um die zunehmenden, komplizierten Anschuldigungen der Aufseherin abzuwehren.

Den schlechtesten Teil hatten ein paar der neuen Diener-Rohlinge erwischt, die gemäß den Daten als inoffiziell einzustufen waren und die kurz nach dem nicht-offiziellen Verschwinden einiger Angestellter eintrafen – die bevorzugten Opfer der Aufseherin. Diese Aufzeichnungen gaben gänzlich andere Identitäten der Leichen aus, wohingegen das Internet bestritt, dass es diese fehlenden Menschen je gegeben habe. Doch Rodney vergaß nie ein Gesicht. Nicht einmal die wachsartige Grimasse eines Toten konnte ihn an den Identitäten der Körper zweifeln lassen, wie sie in den Auferstehungstanks hingen.

Und in einen Diener verwandelt zu werden, musste schlimmer sein, als einfach nur zu sterben.

Aber welche Alternative hatte er? Menschen, die einen sauberen Tod starben, endeten als Diener; Rodney kannte als einer von wenigen die Kriterien für diese Aufnahme. Musste er darauf warten, dass ihn eine Krankheitswelle erwischte, die seinen Körper stark genug ruinierte … oder brauchte er einen Tod, in dem sein Körper so sehr verschandelt wäre, dass kein Techniker der Welt, die Stücke wieder zusammensetzen konnte?

Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr fühlte sich Rodney hilflos – es gab keine Möglichkeit des Entkommens, wenn ihn die Aufseherin auserwählt hatte, um ihn zu vernichten. Und er konnte nichts tun, um dann seinen Körper zu schützen. Was für Möglichkeiten blieben da noch?

Doch, er wusste von einer Möglichkeit. Er traute sich kaum, seine innere Stimme aussprechen zu lassen: das Krematorium. Allein die Idee erschrak ihn, aber er wusste, dass es das Richtige sein musste. Er glaubte an das Krematorium. Auch wenn sonst kein Mensch daran glaubte, jetzt war es notwendig.

Mehr als jemals zuvor, mussten sich die Menschen damit beschäftigen, mussten Angst vor dem Tod haben – verursacht durch die zunehmende Gleichgültigkeit, die die Anwesenheit der Diener bewirkte. Aber Rodney hatte von dieser rätselhaften Gruppe Kämpfer gehört – das Krematorium –, wer einen Vertrag mit ihnen schloss, der konnte sich darauf verlassen, dass sie seinen Körper nach dem Tod zerstörten, damit der Kunde nach dem Tod garantiert kein Diener würde. Asche zu Asche, Staub zu Staub, mit der ganzen dazugehörigen Zeremonie. Echte Informationen über das gesetzlose Krematorium gab es kaum, und das Internet verschlang sämtliche Berichte über ihre Aktivitäten.

Francois Nathans selbst hatte schon mehrfach immense Belohnungen für jegliche Information über das Krematorium ausgeschrieben. Nathans schien wegen ihnen nervös zu sein, geradezu ängstlich – doch war es vielleicht viel mehr als nur ein Gerücht, wenn sich ein so mächtiger Mann darum kümmerte? Die Soldaten-Gilde drehte jede geeignete Leiche um und brachte sie zur Resurrection Inc.; Rodney wusste nicht, ob der Staat sie brauchte, ob das Unternehmen einfach nur gut für sie zahlte oder ob Nathans selbst gerade an den Schrauben der Hierarchie der Gilde drehte. Aber, wenn das Krematorium geeignete Diener-Rohlinge unter Nathans‘ Nase abgreifen könnte, dann wäre er in die Enge getrieben, müsste sich ein paar unangenehmen Fragen stellen.

Rodney wusste nicht, ob er sich überhaupt traute, sich mit dem Krematorium selbst in Verbindung zu setzen, aber er musste es bald tun. Würden sie ihn überhaupt treffen wollen? Auch wenn sie wussten, dass er für die Resurrection Inc. arbeitete? Er fing wieder an zu zittern. Rodney hatte nicht die leiseste Ahnung, wie man sie suchen sollte. Was, wenn das jemand herausfand?

»Ich mag es, wenn ein Mann nachdenkt … denkt.«

Die Stimme des Mannes schien von den Wänden widerzuhallen, und Rodney wirbelte herum, suchte danach, wo die Stimme herkam. Für einen schrecklichen Moment war er verwirrt, sah die drei anderen nicht in dem Irrgarten aus Tanks und Arbeitstischen stehen.

»Das ist einer der Gründe, warum ich so hart daran arbeite, Diener zu erschaffen«, fuhr der Mann fort. »Um dem Menschen mehr Zeit für das Philosophieren zu lassen.«

Dann sah Rodney die violette ärmellose Tunika der Aufseherin und ihren kalten, leicht fokussierten, starren Blick, aber ihm wurde mit etwas Erleichterung klar, dass sie sich auf die zwei neben ihr stehenden Männer zu konzentrieren schien. Der Große von den beiden war viel älter, dünn, aber mit einem wissenden Blick in den Augen, der sogar den Blick der Aufseherin harmlos erscheinen ließ. Er hatte sich fein angezogen und es gab keine Strähne an seinem stahlblauen Haar, die an seinem Kopf nicht ihren festen Platz hatte. Der andere Mann wirkte zwar jünger, aber er war untypisch müde und unruhig. Er hatte leuchtendes, dunkles Haar, und sein schattiger Teint sprach genetisch von seiner asiatischen oder indischen Abstammung. Er war ein paar Zentimeter kleiner als der ältere Mann, aber seine Schultern waren breit und er strahlte etwas Animalisches aus.

Der ältere Mann zog seine Augenbrauen hoch, schaute sich Rodney an und sprach weiter, ohne seinen Blick von dem Techniker zu nehmen. »Seien Sie nicht unhöflich, Aufseherin. Stellen Sie uns einander vor.«

»Ja, Sir«, sagte sie und guckte überrascht. »Mr. Nathans, dies ist Rodney Quick. Rodney, dies ist Francois Nathans und der Herr danaben ist Vincent Van Ryman.«

Niemand lehnte sich vor, um irgendjemandem die Hand zu reichen, und Rodney tat alles, um seine Fassung nicht zu verlieren. Er hatte noch nie zuvor einen der beiden Männer gesehen: den Chef der Resurrection Inc. und der Mann, von dem man vermutete, er wäre Hohepriester der Neo-Satanisten gewesen. Was wollten sie von ihm? Wegen was hatte die Aufseherin ihn denn jetzt wieder angeschwärzt?

Rodney wurde misstrauisch. Er wusste ja gar nicht, wie Nathans oder Van Ryman aussahen. Sein Herz hämmerte schneller, das Blut pulsierte mit solcher Kraft durch seine Adern, dass es den Angstschweiß aus seinen Poren presste. Das konnte eine Falle sein. Das konnte ein eingefädelter Trick sein, damit er in Ehrfurcht vor den wichtigen Besuchern seine Maske der Aufseherin gegenüber fallen ließ … und dann würde sie irgendetwas tun, so dass er womöglich noch sein eigenes Ende in die Wege leitete.

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Doch was, wenn diese zwei wirklich Nathans und Van Ryman waren? Dann würde Rodney wahrscheinlich wie ein Idiot dastehen und seinen Untergang ohne die Hilfe der Aufseherin herbeiführen. Aber er wusste es einfach nicht. Rodney kannte nur eine Reihe Halbwahrheiten und Legenden über diese berühmten Personen. Er besaß zwar ein Online-Kennwort der Stufe Sechs, aber das erlaubte ihm auch keinen Zugang in die wirklich vertrauenswürdigen Datenbanken.

Rodney wusste, dass dieser Francois Nathans Resurrection Inc. gegründet hatte, als der Juniorpartner von Stromgaard Van Ryman – dem Vater von Vincent Van Ryman – der einen Großteil der finanziellen Sicherheiten für das junge Unternehmen zur Verfügung gestellt hatte. Stromgaard Van Ryman hatte offenbar ein gutes Gespür für ein lohnenswertes Geschäft, aber Nathans war ihm stark überlegen in puncto Weitsicht, Charisma und politischem Verständnis. Acht Jahren nach Gründung der Resurrection Inc., als die Diener schon einen beachtlichen Teil der Belegschaft ausmachten, übernahm Nathans dann seine Position als Unternehmenschef und Stromgaard Van Ryman verkaufte seinen Unternehmensanteil. Zur gleichen Zeit kam Stromgaard offenbar mit der gerade entstandenen Bewegung der Neo-Satanisten in Kontakt, aber zwei Jahre nachdem sich diese neue Religion fest in der Gesellschaft etabliert hatte, war Stromgaard unter mysteriösen Umständen verschwunden. Einige spekulierten, dass ihn sein eigener Kult geopfert habe. Kurz darauf, so das Gerücht, wäre sein 21 Jahre alter Sohn Vincent als Hohepriester der Neo-Satanisten aufgetaucht.

Das war bereits einige Jahre zuvor geschehen. Und mittlerweile kannte Rodney den Diener aus Tank 66 – Danal, korrigierte er sich in Gedanken – der in irgendeiner Weise besonders sein sollte. Vincent Van Ryman hatte vermutlich irgendetwas Wichtiges mit ihm vor. Aber warum interessierte sich auch Nathans für ihn? Einfach wegen der Freundschaft mit seinem Vater? Oder wollte er nur sichergehen, dass sein wichtiger Kunde in Zufriedenheit davonzog? Oder hatte Nathans selbst etwas mit den Neo-Satanisten zu tun?

»Mr. Nathans und Mr. Van Ryman möchten jetzt gerne Danal sehen. Sie wollen sich vergewissern, dass alles zu ihrer Zufriedenheit verläuft.« Die monotone Stimme der Aufseherin enthielt mehrere Andeutungen, und jede von ihnen prasselte wie ein spitzer Eiszapfen auf Rodneys Trommelfell. Van Ryman hatte bis zu diesem Moment noch nicht gesprochen.

»Ich habe gesehen, wie Sie unseren Danal untersucht haben, als wir hereinkamen«, sagte Nathans. Seine Stimme klang gewinnend und freundlich, doch gleichermaßen auch leicht entfernt, als ob er durch die Maske seiner wahren Persönlichkeit spräche. »Es ist wunderbar, so einen Fleiß vorzufinden, besonders bei einem unserer eigenen Mitarbeiter.«

Rodney fand schließlich seine Stimme wieder, ging dann instinktiv in eine Abwehrhaltung und war bemüht, das Stottern von seinen Worten zu feilen, bevor er sie aussprach. »Ja, Sir. Die Aufseherin erwähnte bereits, wie wichtig Ihnen dieser Diener sei, und ich habe ihm deswegen mehr als die gewöhnliche Aufmerksamkeit geschenkt. Ich bin mir sicher, dass alles zu Ihrer vollsten Zufriedenheit verläuft. Mein chirurgischer Eingriff, ein SynHerz bei ihm einzusetzen, ist die beste je von mir durchgeführte Arbeit.«

Nathans lächelte. »Ich bin sehr erfreut, das zu hören, Mr. Quick. Darf ich Sie Rodney nennen?«

Er nickte schnell, wurde sich dabei mit einem Mal bewusst, dass seine Haare nicht gekämmt waren, fragte sich, ob es irgendwie angemessen saß, ob sich Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet hatten oder ob zumindest seine Nase ölte.

Van Ryman ging zu dem Tank, schien von Danals in der goldenen Lösung untergetauchtem Körper fasziniert zu sein; er wirkte geradezu unfähig, seine Augen davon loszureißen. Der dunkelhaarige Mann beugte sich schließlich vor und presste sein Gesicht gegen das Glas, um noch deutlicher sehen zu können.

»Aufseherin! Bitte lassen Sie uns allein«, sagte Nathans auf einmal.

Obwohl es die Aufseherin offensichtlich überraschte und sie am liebsten dem Fortgeschicktwerden widersprochen hätte, drehte sie sich ohne ein Wort um und ging. Der blubbernde Klang aus den Tanks verschluckte das Rascheln ihrer Kleidungsstücke, als sie sie verließ. Rodney konnte seinen zufriedenen Gesichtsausdruck kaum unterdrücken und registrierte Nathans‘ lässigen Umgangston mit ihr. Rodney fühlte sich wichtig und war wieder so bedeutend wie all die anderen Menschen. Er musste sich extrem zusammenreißen, um nicht wie ein Vogel durch den Gang zu stolzieren.

Nathans beugte sich vor und legte eine väterliche Hand auf Rodneys Schulter. Der Techniker versteifte sich für einen Moment, aber ließ sich dann doch herumdrehen, während der ältere Mann die Reihen der Wiederauferstehungstanks abzuschreiten begann. Rodney folgte ihm dicht, und Francois Nathans fing an, mit einer hypnotischen Stimme zu sprechen, die sich warm und überzeugend anfühlte – er sagte nur das Richtige, kontrollierte den Moment.

»Rodney, seit langem beobachten wir deine Arbeit. Du hast ein besonderes Verhältnis zu den Dienern und du kennst den Wiederauferstehungsprozess in- und auswendig. Unglücklicherweise nannte uns deine Vorgesetzte deinen Namen stets im Zusammenhang mit kleinen Dingen, Nachlässigkeiten. Dennoch ist uns keineswegs entgangen, von welcher Qualität deine Arbeit zeugt. Ich bin geneigt zu glauben, dass sie wieder eins ihrer Spiele spielt, so etwas wie Blinde Kuh vielleicht. Du weißt, dass sie das tut. Du erinnerst dich, dass sie nicht ganz normal ist, nicht wie du und ich – immerhin gab sie viel auf, um zur wandelnden Schnittstelle des Internets zu werden. Das Unternehmen braucht diese Fähigkeiten, auch wenn sie manchmal ihren Zuständigkeitsbereich überschätzt. Ich glaube nicht, dass es bei dir etwas gibt, um das ich mir Sorgen machen müsste.« Nathans lächelte breit.

»Sie weiß, wie sie mir die Arbeit erschweren kann«, sagte Rodney ruhig. Ein innerer Instinkt hinderte ihn daran, sich auf die Freundschaftlichkeit des Mannes einzulassen. Er fragte sich immer noch, warum die beiden Männer zu ihm gekommen waren, was der Grund dafür war. Als Rodney und Nathans an einer Reihe von kürzlich entleerten Tanks vorbeigingen, bemerkte der Techniker, dass Ryman weiterhin durch die Glasscheibe von Danal starrte, der da in der Wiederauferstehungslösung hing.

Nathans unterbrach seine Gedanken. »Du fragst dich sicherlich, warum ich mir die Zeit nehme, um herzukommen und mit einem einfachen Techniker ein Gespräch anfange.« Er machte eine Pause. Rodney wagte es nicht, diese Vermutung mit einem Nicken zu bestätigen.

»Nun, ich glaube fest daran, dass die Zukunft eines Unternehmens bei seinen Wurzeln beginnt. Unsere künftigen Manager sind die heutigen Techniker. Und – wenn ich so offen sein darf – ich möchte immer auf einen Pool von Kandidaten für eine mögliche Beförderung zurückgreifen können.«

Rodneys Herz flatterte; das war doch nicht möglich. Dann sah er im Augenwinkel, wie Vincent Van Ryman an der Öffnung oberhalb von Danals Tank herumfummelte. Er drehte sich in seine Richtung, um besser sehen zu können, doch plötzlich lag Nathans‘ Hand auf seiner Schulter. Er brachte allen Mut auf, drehte sich wieder zurück und starrte dem Chef der Resurrection Inc. direkt in die Augen.

»Danke für Ihr Vertrauen in mich, Mr. Nathans.« Rodney zwang sich zu einem ruhigen Gesichtsausdruck. »Ich werde mich bemühen, Sie nicht zu enttäuschen.«

Nathans lächelte ihn wieder an, diesmal in strahlender Aufrichtigkeit. Als Vincent Van Ryman zu ihnen stieß, wurde Rodney unruhig, da er den intensiven Ausdruck von Trauer in Van Rymans Gesicht lesen konnte.

»Ich denke, alles wird zufriedenstellend verlaufen, Mr. Quick«, verkündete Van Ryman; seine Stimme klang ruhig, sanft und mit einer Spur aufgesetzter Freundlichkeit. »Sie verstehen offenbar Ihr Handwerk.«

Rodney wandte seinen Blick ab und versuchte, wegen des Kompliments beschämt auszusehen. »Es war eine routinemäßige Wiederauferstehung. Ich bin sicher, dass Sie mit Ihrem Diener zufrieden sein werden.«

Die Dinge erschienen auf einmal weniger planbar. Zumindest auf die Aufseherin konnte er sich verlassen. Er wusste, dass sie ihren psychologischen Krieg fortsetzen würde. Sollte Nathans wirklich ein mitfühlender Chef sein, der er zu sein vorgab?

Rodney hatte gesehen, wie Van Ryman an Danals Tank herumfummelte. Er war sich sicher, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, inwieweit der dunkelhaarige Mann etwas an dem Tank sabotieren wollte. Wenn Van Ryman tatsächlich der Hohepriester der Neo-Satanisten war, hatte er vielleicht ein Ritual im Sinn. Und obwohl es ihm hätte Angst machen können, war es Rodney in diesem Fall völlig egal. Religion und Aberglaube waren die Waffen gegen die ungebildeten Blaukragen.

Aber falls Van Ryman etwas getan hatte, sollte es Rodney dann gegenüber Nathans nicht erwähnen? Oder wäre das noch schlimmer, als nichts zu sagen? Wäre es das nicht, sofern Nathans ein Teil davon war? Immerhin hatte Nathans ihn von dem Tank abgelenkt, weggeführt, wodurch Van Ryman alleine vor dem Tank bleiben konnte.

Oder aber Nathans war tatsächlich aufrichtig gewesen, und vielleicht suchte er wirklich neue Rekruten für das Management. Dann war das mit Sicherheit so eine Art Test, um zu verstehen, wie sehr sich Rodney engagierte, wenn es um die Erfüllung seines Jobs ging. Wenn dem so war, wenn er von irgendjemandem eine Manipulation am Unternehmen erwarten konnte – selbst, wenn sie so einflussreich wie Vincent Van Ryman war – dann musste er doch Nathans davon berichten. Aber er musste auch bereit sein, seinem obersten Chef, Francois Nathans, in allen Dingen zu vertrauen. Und wenn Nathans geradezu offensichtlich an diesem inszenierten Herummanipulieren beteiligt war, konnte Rodney ja davon ausgehen, dass Nathans das aus gutem Grund tat, da er vielleicht auf diese Weise ein Problem lösen konnte. So viel Vertrauen sollte er dann doch haben. Oder? Er dachte nach. Sollte er jetzt etwas sagen oder nicht?

Rodney dachte noch immer angestrengt nach, als ihn Nathans auf dem Rücken klopfte und ihm Van Ryman die Hand schüttelte, dankbar dafür, dass er ihm einen kleinen Vorgeschmack auf seinen neuen Diener habe nehmen lassen. Der Techniker zwang sich dazu, eine letzte Abschiedsbemerkung zu machen: »Danke für Ihr Kommen. Es hat mir sehr gefallen, Sie beide kennenzulernen. Ich hoffe darauf, dass ich Sie keinesfalls enttäuscht habe.«

»Natürlich hast du das nicht, Rodney. Ich bin sicher, dass wir uns wiedersehen werden.« Nathans nickte ihm zu und wies mit einer Hand auf die offene Aufzugtür, in die Van Ryman zuerst eintreten sollte. Die Türen schlossen sich und schon waren die beiden Männer verschwunden.

Im gleichen Augenblick, in dem sich die Türen geschlossen hatten, sprang Rodney zu dem Tank hinüber, in dem der sogenannte Diener Danal schwamm. Aufmerksam untersuchte er die Verschlüsse, konnte aber nicht sagen, ob sie geöffnet worden waren. Er schnupperte, versuchte einen ungewöhnlichen Geruch in der Luft zu erkennen, fand aber keinen. Ein Abdruck an dem durchsichtigen Tank zeigte, wo Van Ryman das Glas angefasst hatte, aber das bewies noch gar nichts. Er starrte in die gelbe amniotische Flüssigkeit, versuchte, Veränderungen zu entdecken. War sie trüber als zuvor? Gab es irgendeinen Unterschied?

Die Aufseherin würde keinen Moment zögern, sofern Rodney etwas unternahm, das die erfolgreiche Wiederauferstehung dieses wichtigen Dieners gefährdete. Die Bakterien, die als Letztes in die Nährstofflösung eingegeben wurden, in der Danal jetzt hing, waren genetisch labil, leicht flüchtig, und mehr als einmal hatte sich eine veränderte Lösung ungünstig auf die körperlichen oder geistigen Bedingungen von einem wiederbeseelten Diener ausgewirkt. Manchmal schien die Motorenkontrolle verzerrt zu werden; manchmal wurden die geistigen Fähigkeiten geschwächt oder verstärkt – und ein ungewöhnlich intelligenter Diener machte mehr Probleme als ein völlig dummer. Was, wenn die ursprünglichen Erinnerungen des ehemals lebenden Individuums irgendwie zurückkehrten? Aber ohne diese letzte Lösung, in der ein weiterer Reinigungsprozess durchlaufen wurde und die Synapsen im Gehirn aktiviert wurden, konnte der implantierte Mikroprozessor nicht richtig funktionieren.

Rodney versuchte nicht, an ein Herummanipulieren zu denken. Denn dann hätte er an dem Tank arbeiten müssen, hätte eine Probe der amniotischen Lösung zum analytischen Labor nehmen müssen. Er müsste seinen Verdacht erklären, und das konnte ihm genauso viel Ärger bereiten, wie er ihn zu vermeiden versuchte.

Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr war er davon überzeugt, dass Nathans ihn einem Test unterzogen hatte. Oder vielleicht hatte die Aufseherin das alles inszeniert. Aber sogar die Tatsache, zu wissen, dass dies ein Test war, half ihm keineswegs. Genauso wenig wusste er, was ihn erwartete, falls er bei dem Test versagte.