Kapitel 25
Danal fiel in eine nicht greifbare Schwärze,
warf seine Arme hin und her. Er konnte nichts sehen, aber er
spürte, wie die anderen Körper fielen, wie sie alle gemeinsam
fielen.
Mit einer erschreckenden Plötzlichkeit pressten Nylonseile die Luft aus Danals Lungen, und er wippte unkontrolliert nach oben und nach unten, bis er schließlich in einem riesigen Netz, das irgendwo oberhalb befestigt worden war, liegenblieb. Er kämpfte und drehte sich herum, guckte in die Richtung, von der sein Hirn meinte, dort wäre oben.
Fast fünf Meter über sich konnte er das unscharfe, grüne Quadrat einer prismatischen Lichtfläche erkennen, die wie die Rückseite einer Illusion wirkte. Als sich Danals Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er, dass die Halteseile des Netzes, an drei darüber hängenden Trägern festgemacht worden waren.
Nichts ergab einen Sinn. Er war noch immer vollständig – nicht von einem Desintegrator-Feld zu einer Wolke aus verstreuten Atomen zerstoben. Er nahm einen tiefen Atemzug, schmeckte einen salzigen und muffigen Hauch der Luft. Und unter sich hörte er leise vorbeiströmende Geräusche … er vernahm sogar vereinzelt irgendwo tief in der Dunkelheit Gesprächsfetzen.
Neben ihm schaffte es der Soldat, sich auf dem wackeligen Netz hinzuknien, und war offenbar gleichermaßen verblüfft. Danal spannte sich an, war bereit, sich jeden Moment zu verteidigen, falls der Soldat eine seiner Waffen ziehen würde, aber der bewaffnete Mann zog stattdessen seinen Helm vom Kopf.
Benommen erkannte Danal an seiner blassen und glatten Haut, dass es ein Diener war.
Die Krankenschwester (Techniker) schüttelte sich und stieß dann einen langen Seufzer aus. »Da sind wir also.«
Danal befand sich im Griff seiner irritierten Verwunderung und konnte nicht antworten.
Der Soldat (Diener) ignorierte ihn, da er zum Rand des Netzes wankte, wobei ihm seine steife Rüstung nur hinderlich war. Er fand eine Strickleiter, an der er sich sofort zu einer schmalen hölzernen Plattform nach oben hochzog. »Du warst gut aufgestellt, Laina. Aber es musste irgendwann enden.« Er drehte sich zu Danal und lächelte mit dem Ausdruck von ruhiger und fühlbarer persönlicher Wärme. »Ich heiße Rolf. Willkommen.«
Die Krankenschwester (Techniker) – Laina – griff nach der Strickleiter, während der Soldat (Diener) in der Dunkelheit verschwand. Ihr weißer Kittel bauschte sich an ihren stämmigen Beinen auf, gab den Blick auf eine dunkle Strumpfhose frei, die die Leichenhaut wie normales Fleisch aussehen ließ. Danal blieb bewegungslos, hockte auf dem sanft schwingenden Netz. Er schaute verwirrt nach oben auf das helle Grün.
»Aber … wir sind immer noch hier! Wir sind doch durch den Desintegrator hindurch …«
»Eine Öffnung für Instandhaltungsarbeiten.«
»Es war eine von den ›Nicht betreten‹-Rasenflächen! Und ich hab gesehen, wie wir hineingefallen sind.«
»Eine Öffnung für Instandhaltungsarbeiten.«
»Was passiert hier gerade – bitte?«
Laina hörte den verzweifelten Klang seiner Stimme und hielt inne, um ihm alles zu erklären. Während er ihr zuhörte, begann Danal die Lücken in all den ungeklärten Geheimnissen zu füllen, obwohl weitere, neue Fragen in seinem Geist aufklafften.
»Das ist die Bay Area Metroplex, erinnerst du dich daran?«, fing Laina an. »Wann hast du jemals in deinem Leben ›the Bay Area‹ – die Bucht – gesehen? Alles, was du findest, ist Metroplex – die Gebäude, die Straßen und die Bürokomplexe. Vor vielen Jahren stieß unsere sich ausbreitende Stadt an den Rand des Ozeans. Und irgendwann wurde auch über dem Wasser weitergebaut, wobei Bauunternehmer Pfahlkonstruktionen bis ins Fundament rammten.« Sie weitete ihre Arme, um das Ausmaß dieser Pfahlkonstruktionen zu unterstreichen. »Das hier war alles Eigentum direkt am Meer!
Am Anfang hat man Öffnungen für Instandhaltungsarbeiten gelassen, damit die Arbeiter nach unten gehen konnten, um den Zustand der Pfahlkonstruktionen zu überprüfen und die Stützbalken zu untersuchen. Aber das ist alles in Vergessenheit geraten, da wir inzwischen die netzgesteuerten, programmierten Reparaturratten haben, die sich um die routinemäßige Wartung kümmern. Wie auch immer – die Öffnungen für Instandhaltungsarbeiten sind immer noch da. Ein paar verrückte Stadtplaner verdeckten sie mit holographischem Gras. Wahrscheinlich weil sie meinten, dass das hübsch aussehen würde, oder sowas.«
Sie lächelte und hob ihre geschminkten Augenbrauen; ihr dicker Lippenstift wirkte feucht im dunklen Licht. »Holographisches Gras. Oh, die Menschen müssen doch gesehen haben, wie jeder Dreck durch diese Illusionen gefallen ist – daher auch die Hinweisschilder »tödliches Desintegrator-Feld«. Aber das ist jetzt lange her, und wir haben sichergestellt, dass das Netz keine echten Informationen über die Öffnungen für Instandhaltungsarbeiten bereithält. Ich bezweifle sogar, dass die Bonzen die Wahrheit kennen.«
Sie stand auf der schmalen Plattform und legte die Hände auf ihre Hüften. Die Perücke, die sonst ihre kahlgeschorene Kopfhaut bedeckte, war Laina verrutscht und vor die Augen gerückt, als sie heruntergefallen waren. »Gut, bist du jetzt fertig damit, mich anzuglotzen, oder möchtest du, dass ich dich herumführe? Gregor will wahrscheinlich wissen, was da gerade passiert.«
Danal kämpfte sich zur Strickleiter vor, verlor zweimal die Balance auf dem Wackeligen Netz. Unter sich konnte nur die bodenlose Dunkelheit erkennen, die sich ihm wie ein offener Mund entgegenstreckte. Von irgendwo dort unten hörte er das sanfte Rauschen der Wellen, die sich an den zahllosen Pfählen und Trägern brachen.
»Und wer ist dieser Gregor, über den ihr andauernd sprecht?«
Die Krankenschwester (Techniker) reichte ihm ihre Hand, um ihm aufzuhelfen. Ihr Griff fühlte sich kalt und zugleich stark an. »Er ist unser furchtloser Anführer.«
Mit der präzisen Genauigkeit eines Dieners führte ihn Laina über den schmalen Steg, ein zehn Zentimeter breiter, hölzerner Balken. Danal stellte fest, dass sich ähnliche Gehwege, von einer Stelle zur nächsten erstreckten, Etage für Etage, die wiederum durch Strick- oder Metallleitern und vereinzelten Plattformen miteinander verbunden waren.
»Nach Anbruch der Ausgangssperre benutzen wir manchmal die ›Nicht betreten‹-Rasenflächen, um nach draußen zu gehen. Aber meistens wählen wir weniger dramatische Ausstiege – inzwischen haben wir eine Menge Öffnungen und Ausstiegsluken in den unteren Etagen von Gebäuden gefunden – seit wir wissen, wo wir suchen müssen, ist das auch kein Problem mehr.«
»Nach Anbruch der Ausgangssperre?«, fragte Danal überrascht.
»Sicher, warum nicht?«
»Habt ihr keine Angst vor den Soldaten?«
Sie machte ein ironisches Gesicht. »Es ist nicht schwierig, klüger zu sein, als ein Haufen gelangweilter Soldaten.«
Unterschiedlich helle Lichter hingen von verschiedenen Stützen und Trägern; Leitungen baumelten wie Schlangen in die zähen Schatten, führten zu den verwinkelten Stromleitungssystemen des Metroplex. Die schwingenden Lichter vor ihnen wirkten wie ein Muster aus Sternen über einem dunklen Wasser. Große Kisten, mit Vorräten an Nahrung und Geräten hingen in an Querstreben aufgehängten Netzen und schaukelten leicht über den Gehwegen hin und her.
Laina eilte zwei Strickleitern hinunter, führte ihn näher an den Klang des Ozeans heran. Dann fing Danal an, Personen zu sehen, weitere Diener in zusammengewürfelter Kleidung. Einige hatten graue Overalls an; die meisten trugen jedoch helle und lebhafte Farben. Sie alle bewegten sich mit einem entschlossenen Lebenswillen, ohne die mechanische Apathie, wie es bei normalen Dienern der Fall war.
»Sind das alles … Erwachte?«, fragte Danal.
»Darauf kannst du wetten.« Viele von den anderen rührten sich, beobachteten seine Ankunft. Einige lächelten; einige sahen besorgt aus.
Das System der Erwachten aus Hängematten, Plattformen, eingestellten Lichtern und Tauen wirkte wie eine eigenständige surreale Welt. Einige Erwachte lagen unter Bräunungslampen, als würden sie sich sonnen – offenbar mit der Absicht, auf ihr Melanin einzuwirken, um etwas Hautfarbe wiederzuerlangen, obwohl sie wegen des klaren SynBlutes niemals einen rötlichen, lebendigen Teint haben würden.
Ganz nah an seinem Ohr hörte Danal ein klickendes zerstörerisches Geräusch. Er blickte auf und sah ein Paar flinke, arbeitende Reparaturratten, die sorgfältig ihre Runden zogen – lästige Instandhaltungsarbeiten, Rohrverbindungsstücke und Drähte, die sie befestigten und deren strukturelle Schäden sie behoben. Kleine Suchlichter, die an ihnen befestigt waren, beleuchteten ihr Sichtfeld und tauschten mit dem Internet Bilder und Daten aus, so wie es laut Gesamtkonzept vorgesehen war. Die Reparaturratten trugen allesamt eine Auswahl kleiner Werkzeuge und einige Aufbauelemente mit sich, um jegliche Abweichung zu reparieren, die sie entdeckten.
Laina bemerkte die Reparaturratte und fluchte hinter zusammengebissenen Zähnen. Danal bemerkte, wie eine dieser mechanischen Drohnen gerade dabei war, eine der hängenden Bräunungslampen zu demontieren. Laina griff nach oben, schaltete beide Reparaturratten aus und schaltete sie wieder ein, nachdem sie sie auf eine andere Querstrebe gesetzt hatte. »Sie werden Tage brauchen, um sich wieder zu orientieren.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Für gewöhnlich ignorieren wir die verdammten Dinge, es sei denn, sie versuchen, unsere beabsichtigten Änderungen rückgängig zu machen, die wir hier unten gemacht haben. Es ist ein unaufhörlicher Kampf.«
Danal empfand dieses Problem als wunderbar normal.
Gregor wartete in einem abgetrennten Bereich auf sie. Weiter unten, näher an den aufgewühlten Wellen, standen mehrere Pfähle zusammen und verhinderten dadurch die ungestörte Sicht auf den Anführer des Erwachten, der sich auf einer breiten Hängematte zurückgelehnt hatte. Eine stabile Plattform aus Bohlen bildete einen festen Fußboden, denn sie war an den Pfählen befestigt und oben mit Seilen gestützt worden. Mehrere Bräunungslampen strahlten mit einer intensiven gelben Glut herab. Mit freiem Oberkörper lag Gregor da, sonnte sich und las ein dünnes Hardcover-Buch: Frankenstein.
Die Krankenschwester (Techniker) führte Danal über die schmalen, knarrenden Gehwege und stieg auf die Plattform des Anführers hinunter. Gregor legte ein Lesezeichen zwischen die Seiten und ließ das Buch zuschnappen, während er sich aufsetzte. Die Hängematte schaukelte, als Gregor die Beine zu einer Seite heraushängen ließ.
»Du solltest mir besser erzählen, was geschehen ist, Laina«, rief Gregor, bevor sie sprechen konnte. Der Anführer des Erwachten war ein großer Mann mit hohen Wangenknochen, einem deutlichen Unterkiefer und glasigen braunen Augen. Seine dunklen Augenringe ließen ihn sehr besorgt wirken – nicht bösartig, sondern schwer belastet.
Laina hielt sich unter Kontrolle und lächelte den Anführer an, obwohl ihre Stimme einen verdrießlichen Tonfall hatte. »Es ist deine Order, dass anderen wiedererwachten Dienern um jeden Preis zu helfen ist. Aber warte, bis du gehört hast, wer das hier ist.«
Sie stellte Danal vor. Er antwortete unbeholfen, noch immer nicht im Reinen mit dem, was er gerade erfahren hatte … zu viel, zu schnell erfahren. Trotzdem gelang es ihm und der Krankenschwester (Techniker) seine Geschichte zu erzählen. Er hatte darauf gehofft, dass der Schmerz absterben würde, sobald er seine Erlebnisse noch einmal erzählte – aber die Wunden saßen tief, auch wenn sie inzwischen ein wenig erträglicher zu sein schienen.
Als sie zu Ende erzählt hatten, wirkte Gregor beeindruckt. Er spitzte seine Lippen. »Vincent Van Ryman? Und ein Doppelgänger. Wissen ist eine mächtige Sache, Danal, und du hast gerade unsere Macht vergrößert.« Er strich sich über sein Kinn und betrachtete die drei nahestehenden Stützpfeiler mit einem entfernten Blick.
Danal war verwirrt, und fühlte sich auf seltsame Weise geehrt. Aber bevor er Gregor darum bitten konnte, das zu erklären, hörte er, wie sich jemand schnell näherte und er leichtsinnig die schmalen Planken hinunterrannte.
Mit einem Schlag landete ein weiterer Erwachter auf Gregors Plattform. Danal sah in ihm einen Jungen mit grauer, sommersprossiger Haut, die wegen seiner Diener-Blässe fleckig und krankhaft aussah. Voller Aufregung würdigte der Junge Laina und Danal nur eines flüchtigen Blicks, dann sprach er zu Gregor. Er trug einen Teil seiner Tarnung, etwas fleischfarbener Schminke, die verschmiert worden war, und eine rötliche Perücke unter seinem Arm.
»Wir haben Monica verloren!«, brach es aus ihm heraus. Mit zeitlupenartiger Deutlichkeit sah Danal, wie sich Gregor versteifte und gleich eine Statue dasaß. Der Junge fuhr fort. »Bei der Resurrection Inc.! Nachdem es uns gelungen war, Rodney Quicks Körper rauszuholen, kreuzten einige Soldaten auf und verhörten die Diener.« Der Junge schluckte und machte dann weiter. »Sie – sie löschte sich selbst, damit sie nicht antworten konnte.«
Gregor ließ seinen Kopf hängen. »Nein, nicht Monica«, murmelte er. Der junge Erwachte stand da und wartete, sah den Anführer an, dann Danal und die Krankenschwester (Techniker). Danal war jedoch etwas anderes viel wichtiger. »Rodney Quick?« Er konnte kaum glauben, was er da gehört hatte. »Das … das ist der Techniker. Das ist der, den ich getötet habe! Was habt ihr mit seinem Körper gemacht?«
»Wir hatten einen Deal mit ihm.« Gregor machte ein finsteres Gesicht, aber er benutzte die Frage als Stütze, um von seinem Kummer abzulenken. Der Anführer starrte ihn mit einem harten, kalten Blick an.
»Wir sind das Krematorium.«