Kapitel 37
Ein
unaufhörlicher Nieselregen erfüllte die Luft, als Danal auf die
Van-Ryman-Villa zu marschierte. Inzwischen war die Sonne
untergegangen, was den Beginn der Walpurgis Nacht kennzeichnete,
auch wenn sich dadurch am verhangenen Himmel kaum ein Unterschied
ausmachen ließ.
Die Reparaturratten hatten ihre Arbeit beendet. Zeit für ihn, anzufangen.
Fußgänger suchten Schutz vor der Kälte und dem Regen, so dass der Klang auf den Straßen verstummte. Der Wind bewegte die toten Blätter einer in der Nähe stehenden Palme, als ob das knisternde Geräusch eines Hexenbesens durch die Luft flog.
Danal trug herausfordernd seinen alten Diener-Overall, scherte sich nicht darum, seine Identität zu verbergen. Soll der Doppelgänger doch glotzen, dachte er. Vielleicht macht ihm das noch ein schlechtes Gewissen. Er lächelte grimmig in sich hinein. Niemals hätte er daran geglaubt, dass er eines Tages sein eigener Racheengel werden würde.
Der Nieselregen umriss sehr deutlich den hemisphärischen Schirm des Verteidigungs-Feldes, denn wo immer die Tröpfchen einschlugen, verdampften sie augenblicklich. Als ob er in das verzerrte Bild eines Fischaquariums hineinsah, konnte Danal die kunstvollen Giebelspitzen und reptilienartigen Dachschindeln der Villa erkennen. Die Grimassen der neuen Wasserspeier starrten von oben auf der anderen Seite der unsichtbaren Wand herab.
Der kalte Nieselregen perlte von seiner glatten Haut ab und wurde vom Stoff des Overalls aufgesogen. Sein SynHerz hatte zu hämmern angefangen, aber er schaltete es herunter, beruhigte sich, fühlte, wie ihn das Adrenalin in eine gedankenfreie Euphorie hob.
Er schlich um das Haus, um das Verteidigungs-Feld herum. Niemand würde ihn stoppen. Er würde es nicht zulassen. Er musste nur seine Aufmerksamkeit vollkommen fokussieren.
Danal sah sich die Struktur des Daches an, folgte den Giebeln mit den Augen, bis er den Punkt unter einer der emaillierten Hexagrammfliesen entdeckte. Dann kniete er sich hin, robbte vor und ignorierte die Pfützen auf dem Boden, bis er beinahe gegen das Feld selbst gekommen wäre.
Der feine Nieselregen erleichterte die Sichtbarkeit der Öffnung im Verteidigungs-System natürlich sehr.
Er könnte den vollen Ozongestank des ionisierten Regens riechen. Danal setzte sich, ließ jeder Wahrnehmung freien Lauf und starrte auf das Glitzern, an den Stellen, an denen die Regentropfen auf das Feld schlugen. Dann suchte er das Hologramm, das auf die Öffnung geworfen wurde, beschleunigte seinen Mikroprozessor und wartete, bis er schließlich erkennen konnte, wo sich das Muster spiegelte. Als eine Serie von mehreren Tropfen auf die unsichtbare Wand schlug, wurde in der gleichen Reihenfolge – die Illusion – in einem Meter Entfernung ein Abbild reflektiert.
Beim Installieren der Systeme – eine gefühlte Lebenszeit zuvor – hatte er die zusätzliche Anstrengung auf sich genommen, um einen Notzugang zu entwerfen. Denn Vincent hatte darauf bestanden, dass er sein eigenes Haus unbeobachtet von demjenigen betreten zu können, der das Verteidigungs-System kontrollierte. Der Doppelgänger konnte also unmöglich davon wissen.
Danal starrte einen Moment länger darauf, bis er sich völlig sicher war, stieß dann seinen Kopf und die Schultern durch den unbeobachteten Eingang, hoffte darauf, sich nicht im vermeintlichen Hologramm geirrt zu haben. Lebhaft und gnadenlos erinnerte er sich an die verkohlten Leichen der ersten Demonstranten, die versucht hatten, das Feld zu durchqueren.
Danal erstarrte und seufzte vor Erleichterung, folgte dann mit dem Rest seines Körpers durch das Feld. Er stand im bekannten Schutz und der Wärme dahinter auf und strich sich den Schlamm vom Overall. Darüber konnte er das Glitzern der Regentropfen erkennen, wo auch immer sie einschlugen. Sowohl er als auch der Doppelgänger waren hier drin gefangen – wie in einer Arena.
Danal ging den schwarzen Betonstein-Gehweg hinunter und machte entschlossene Schritte. Fühlte sich groß und mächtig. Er starrte zur Regenrinne hinauf und nahm die Wetterfahne wahr, deren Zufallsmotor sie in alle Richtungen drehte. Die Gargoyles schienen sich durch seine Anwesenheit zurückzuziehen, da er ihr Geheimnis kannte. Danal lächelte wieder, aber brachte seinen Gesichtsausdruck wieder unter Kontrolle. Der Doppelgänger würde wahrscheinlich inzwischen auf ihn warten.
Er öffnete die Haustür und stieg in den Schlund der Schatten. Der Teppichboden dämpfte seine leichten Schritte, und im Licht des schwankenden Kronleuchters konnte Danal den erschrockenen Nachahmer seines Ichs auf sich zukommen sehen. Der Diener starrte in das gestohlene Gesicht des Mannes und war verwirrt, als ob er einen Zerrspiegel betrachtete.
Danal drehte sich um und schloss die Tür, schloss sie beide im Inneren ein.
Der Doppelgänger kam zwei weitere Schritte auf ihn zu, um ihm gegenüberzutreten, und hielt nervös inne. Sein Gesicht wirkte verzogen und ausgezehrt, und er sah Danal mit einer ungewöhnlichen Mischung aus Eifer und Angst an. Der Diener betrachtete ihn mit kaltem Schweigen, suchte nach der Richtigen, unter einer Handvoll von Anklagen.
Der unechte Vincent Van Ryman sprach zuerst, stand aber völlig erstaunt da. »Nathans sagte, du könntest möglicherweise noch am Leben sein.« Er atmete tief ein, und ein von Visionen schweres Feuer entzündete den Entschluss des Mannes. Danal konnte nicht antworten, seine Erwartungen wurden erstickt, verflogen im gegensätzlichen Zorn. Obwohl sein Schweigen nur eine Sekunde oder zwei gedauert hatte, schien der Moment zugleich ewig gedauert zu haben.
»Sehr gut, allein«, murmelte der Doppelgänger vor sich hin und rieb seine Hände schnell aneinander. »Folge mir, Danal. Es ist perfekt. Wir bereiten gerade das wichtigste Ereignis des technologischen Zeitalters vor.«
Der falsche Van Ryman schlurfte den Korridor entlang. Danal war verwirrt aber zugleich bereit, sofort auf jeden Trick zu reagieren, folgte ihm an dem Kontrollraum des Verteidigungs-Systems vorbei zum Studierzimmer, in dem so viele Ereignisse begonnen hatten, zu der offenen Sitzecke, über der die Räumlichkeiten der oberen Etage lagen. Die verschlossene Tür unter der Treppe hatte zuvor Danals vergrabene Erinnerungen heimgesucht, aber die Räume dahinter, verursachten lediglich die verblassenden Albträume, denn sie waren der Privattreffpunkt des inneren Kreises der Neo-Satanisten, wo er gefesselt gelegen hatte, als dem Doppelgänger das Gesicht von Vincent Van Ryman gewachsen war.
Dieser Doppelgänger holte einen Schlüssel hervor, der an einem Lederband um seinen Hals hing und mit dem er die Tür öffnete. Ein nasskalter Hauch wehte herauf, und der falsche Van Ryman atmete tief ein.
»Ich bin so froh, dass du zurückgekommen bist, Vincent – ich wollte dich wirklich gerne wiedersehen.« Er drehte sich um und suchte Danals Blick. »Wirst du dich mir bei einem kleinen Sabbat anschließen? Es ist Walpurgis Nacht, wie du weißt, und daher passt es, dass die Dinge auf diese Weise enden.«
Ohne die Antwort abzuwarten, drehte sich der Doppelgänger um und ging die Treppen hinunter. Danal zögerte, war verwirrt; er hatte das überhaupt nicht erwartet, und konnte keineswegs sagen, ob der Doppelgänger die Niederlage zugab oder ob er weitere Pläne für Danal verfolgte und ihn nur nach unten locken wollte. Aber dem Diener war klar, dass es keinen Unterschied machte – er würde niemals zurückgehen. Danal duckte sich und betrat den Durchgang.
Farbe erschien dezent auf den Bodenfließen, um wie Moos auszusehen, säumte die Zwischenräume der Fliesen, und ein Audiochip spielte den echoartigen Klang von tropfendem Wasser in einer muffigen Luft. Steinerne Bänke umgaben ein gehauenes Granitpodest; Pentagramme, Runen und dämonische Symbole waren an die Seiten des Podiums eingraviert worden, mit dem mittig sichtbaren, markanten Pentagramm-Symbol der Neo-Satanisten. Flackernde elektrische Lampen standen wie Heugabeln in drei Messingleuchtern daneben. Ein Online-Terminal war in zwei massive Steinblöcke der Wand eingesetzt worden, und die weißbemalten Quadrate auf der Tastatur sahen wie die Reihen von Zähnen eines grinsenden Schädels aus.
»Warte hier«, sagte der falsche Van Ryman selbstsicher, während er hinter einen Vorhang und damit in eine Nische reichte und die gewellte Robe des schwarzen Hohepriesters mit den rot besetzten Ärmeln hervorholte. Er blickte auf sein Chronometer.
»Heute Abend wird alles zu seinem Ende kommen.« Er zog die Robe an, zuckte mit den Schultern, um den Stoff zu richten, und ging dann einen Schritt auf das Online-Terminal zu. »Mit deinem Opfer, Danal, können wir die letzten Räder des Universums in Bewegung setzen.«
Der Diener hörte mit der Schauspielerei auf und kehrte wieder in die Normalgeschwindigkeit seines Mikroprozessors zurück. Ohne ein Wort stürzte er vor, packte die Falten der schwarzen Robe des Doppelgängers und warf ihn gegen sie Steinblöcke der gegenüberliegenden Wand. Er achtete besonders darauf, dass seine Hand den Mann nicht versehentlich tötete, aber seine Finger rutschten an dem Stoff ab und drückten sich in den Brustkorb des falschen Van Ryman. Die Reibung des Stoffs brannte an Danals Fingern. Der Doppelgänger kämpfte, aber die Reflexe des Dieners hielten jeder Anstrengung stand.
»Du hast meine Identität gestohlen, du Bastard!«
»Ich habe sie dir zuerst gegeben«, spuckte der fast amüsierte Mann zurück. Die Augenlider des Doppelgängers verengten sich leicht. Zu spät wurde Danal klar, dass das nicht bloß jemand war, der wie er aussah – Nathans hatte ihn wegen seiner Cleverness, seiner Intelligenz und seines Einfallsreichtums ausgewählt. Der falsche Van Ryman rief eine Anweisung.
»Befehl: Lass mich frei!«
Zu seinem Entsetzen zogen sich Danals Hände automatisch zurück, als ob er heißes Wachs angefasst hätte. Die Beine des Dieners gingen zwei schnelle Schritte zurück. Und er stieß einen hilflosen Schrei heraus.
»Befehl: Bleib stehen!«, brachte der Doppelgänger heraus.
Selbstgefällig in seinem Triumph, sammelte er sich wieder, strich die schwarze Robe glatt und schaute auf den hilflosen Diener. Er rieb erneut für einen Moment seine Hände und wischte nervös den Schweiß von seinen Handflächen. »Du bist noch immer ein Diener, Vincent. Du musst meine Befehle ausführen.« Er beugte sich zu Danal; sein Atem roch nach Glenlivet Scotch. »Hör zu.«
Mit wallender Robe ging er zu dem Steinpodest hinüber, bei dem er nach einem riesenhaften in Leder gebundenen Buch griff, eins der von Vincent Van Ryman und Francois Nathans zusammengeschusterten Handbücher der Neo-Satanisten. Der Doppelgänger öffnete es auf einer von schmierigen Fingerabdrücken übersäten Seite und begann, es auswendig zu zitieren. Seine Augen hafteten weiterhin an Danal.
»›Und alle haben ihre Missionen, und alles wird Dienen, selbst, wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. Der Größte von ihnen wird Danal genannt werden, und er ist der Bote. Er ist der Prophet. Er ist der Überbringer von Veränderungen und der Erfüller von Versprechen. Er ist der Unbekannte, den jeder kennt. Er ist der Erweckende und der Erweckte. Er ist der Zerstörer. Die Rückkehr von Satan ruht in seinen Taten.‹«
Die Augen des Doppelgängers weiteten sich in Inbrunst, und er sprach so vehement, dass ihm der Speichel aus dem Mund sprühte. »Danal. Wir wählten diesen Namen, während du in jenem Tank gelegen hast, wegen der Schriften, um die Erfüllung der Prophezeiung zu gewährleisten.« Er klappte die Seiten wütend zu einer anderen Stelle und zitierte erneut, wobei er dem Diener das Buch fast ins Gesicht drückte, um ihm die Stelle zu zeigen. »Schau her! Es steht geschrieben: ›Opfert beide: die Lebenden und die Toten‹, sagte Satan. ›Und ich werde zurückkommen, um mir zu nehmen, was mir gehört.‹«
Er klappte das Buch mit einer gewissen Endgültigkeit zu und ließ es unvorsichtigerweise mit einem Schlag zu Boden fallen. »Es steht alles in den Schriften – es erfüllt sich vor unseren Augen. Ihre Bedeutung ist klar. Du sollst wieder geopfert werden, und die Walpurgis Nacht ist der perfekte Zeitpunkt.«
»Ich schrieb das meiste, was in den verdammten Schriften steht!« Danal stand selbst wie ein Gargoyle da, unbeweglich, aber von Hass erfüllt. Er konnte sich nicht bewegen. Der Befehl hatte alle seine Muskeln außer Kraft gesetzt.
»Ich weiß. Ich war dabei.«
Ein schrecklicher Verdacht kroch Danals Rücken hinauf, als der Doppelgänger innehielt und verwundert zu lächeln begann. »Ah! Du weißt es nicht, oder? Nathans hat es dir nicht gesagt.«
Danal starrte den Doppelgänger mit großen Augen an. Der seltsame-und-doch-vertraute Blick des Mannes, der Körperbau, seine Bewegungen – alles passte zusammen wie die Teile eines Puzzles. Stromgaard.
Der Mann kicherte. »Du solltest dein Gesicht sehen, Vincent!«
»Du bist tot«, sagte Danal mit flacher Stimme.
»So wie du«, konterte der Doppelgänger. »Aber mein Tod wurde nur inszeniert.«
Danal erinnerte sich an die Nacht der Opferung, sah seinen »zeitweise kranken« Vater sterben und auf dem Altarstein dahinschwinden. Er konnte noch immer die ekelerregende, packende Sensation sehen, das Brechen der Knochen, als der Opferdolch in den Brustkorb seines Vaters drang. Blut spritzte in die Luft. Die vielen Stoppeln an seinem Kinn … sollte das die feine Linie aus Nadelstichen vom Oberflächen-Klonen abdecken?
Stromgaard war tot. Er musste es sein. Die Muskeln an Danals Hals traten hervor, als er versuchte, seinen Kopf zu schütteln, um das zu verneinen. Aber der Befehl hielt ihn bewegungsunfähig.
»Ich wollte aus euren kleinen Spielchen aussteigen«, fuhr der Doppelgänger fort. »Und natürlich, ich wurde krank von dem ganzen kalten Zynismus von Nathans und dir über unsere Religion. Glaubst du in deinem Leben nicht mehr an Wunder? Kannst du deine Zweifel nicht durch übernatürliche Ereignisse beeinflussen lassen?
Nathans gab mir ein anderes Gesicht, damit ich unerkannt bleiben konnte, und wir benutzten einen der bekehrten Neo-Satanisten, um meinen Platz auf dem Opferaltar einzunehmen – so viele von ihnen waren bereit dazu! Eine traurige Erzählung und etwas Make-up überzeugten euch davon, gerade das zu tun, was wir wollten. Es war für das Beste – es war für das Gute der Religion –, weil es den Machtwechsel von einem Hohepriester zu seinem Nachfolger überdeckte.« Stromgaard Van Ryman machte ein finsteres Gesicht, als ob er etwas Schlechtes gegessen hätte. »Ich war beim Sabbat anwesend. Weißt du, wie es sich anfühlt, im Publikum zu stehen, während du dabei zusiehst, dass der eigene Sohn seinen Vater tötet?«
»Du warst ebenfalls dazu bereit, mich zu ermorden, als wir die Rollen getauscht haben«, widersprach Danal.
»Egal.« Stromgaard zuckte mit den Schultern. »Ich reiste, ich ging auf Wallfahrten zu dem ursprünglichen Salem, nach Massachusetts, zum Brocken, in den Balkan, nach Budapest, nach Transsylvanien. Ich studierte die Schriften, sie alle, mit einem offenen Geist, nicht mit deinem vorlauten Spott. Es ging alles so glatt – ich führte ein fehlerloses Leben als Asket. Bis du uns verraten hast! Du und diese Hure!«
Danal strengte sich an, bis er glaubte, seine Muskeln könnten platzen, aber er war nicht in der Lage, die unsichtbaren Fesseln des Befehls noch nicht aufschließen.
»Das ist der Grund, warum ich zurückkehren musste – um die Religion zu retten. Für das Gute am Neo-Satanismus. Du verdientest all das, was du bekamst, Vincent. Für das Verraten der Hoffnungen von Tausenden Menschen, für das Spotten über Dinge, die du nicht einmal zu verstehen versucht hast.« Er schüttelte seinen Kopf und wirkte dabei traurig. »Aber jetzt haben wir dich zurückgebracht, den ganzen Weg zurück, und du kannst dich selbst losbinden und das nächste Millennium verkünden.«
Danal erinnerte sich, wie es war, durch den Tod zu schwimmen: die warme Dunkelheit, das beruhigende Licht, die Glockenspiele, und die letzte unzerbrechliche Wand der Erinnerungen, in die er nicht eindringen konnte. »Du weißt nicht, wie grausam das war. Meine Erinnerungen wiederzuerlangen war das Schwerste.«
»Es war notwendig«, sagte Stromgaard.
»Warum? Warum war es notwendig«?
»Nathans hatte seine eigenen Gründe. Und ich hatte meine.« Das Gesicht des Doppelgängers nahm den Ausdruck von ungeduldiger Verachtung an. »Nathans hat Angst vor dem Tod, auch wenn er sich durch Resurrection Inc. ständig damit befasst. Er will leben, um den Nutzen seiner perfekten Welt zu genießen, an der er so hart arbeitet. Hah! Und wenn eine wiederauferstandene Person alle ihre Erinnerungen wiedererlangen kann, dann kann Nathans weiterleben, solange er wünscht. Das ist es, woran er denkt. Wenn er stirbt, kann er wieder auferstehen, seine Erinnerungen kehren zurück und er kann wieder leben. Seine eigene Art der Unsterblichkeit. Das alles spielt natürlich keine Rolle mehr und wird nichts bringen, wenn heute Abend Satan und das Neue Zeitalter gekommen sein werden.«
Van Ryman führte den Diener zum Terminal an der Wand hinüber, indem er ihm befahl, ihm zu folgen. Danal bewegte sich steif. Er hatte keine Wahl. Der Schweiß brach ihm auf seiner Stirn aus; er leistete mit jeder Zelle seines freien Geistes Widerstand, aber sein Körper achtete nur auf die Befehle – mehr nicht. Inzwischen konnte er sich zumindest bewegen. Es gab auch eine Chance, zumindest so lange, wie ihm Stromgaard erlaubte, seine Stimme zu behalten.
»Und was interessiert dich daran, dass ich meine Erinnerungen zurückerlange?«, fragte Danal.
»Es ist offensichtlich, Vincent …«, brachte er hervor. »Wenn du den Schriften doch nur mehr Aufmerksamkeit geschenkt hättest. ›Opfert beide: die Lebenden und die Toten‹, sagt die Schrift. ›Und ich werde zurückkommen, um mir zu nehmen, was mir gehört.‹
Wir opferten erfolglos Leben – ein paar Unglückliche und sogar einige Diener. Aber ich habe es jetzt verstanden – es passt alles zusammen. ›Opfert beide: die Lebenden und die Toten‹ – das bist du: ein Diener, der einst tot war und dann zu seinem alten Leben zurückkehrte. Und du bist sogar jener Danal, so wie es in den Schriften geschrieben steht. Wir müssen das gleiche Opfer darbringen, zuerst als lebendes Wesen, dann ein zweites Mal als wiederauferstandener Diener, ein Diener mit all seinen Erinnerungen, mit seiner eigenen Seele. Das ist äußerst entscheidend.«
»Ich habe diese Passage geschrieben!«, schrie Danal. »Es bedeutet nichts. Du weißt das – ich habe es direkt vor deinen Augen niedergeschrieben.«
Van Ryman guckte aufmerksam Danal an, dann sprach er mit flacher, ehrfürchtiger Stimme: »Und woher willst du wissen, dass deine Hand nicht gelenkt wurde? Von einer höheren Macht?«
Danal konnte kaum glauben, was er gerade gehört hatte. »Sei nicht albern.«
»Wenn du Glauben hast, brauchst du keine Antworten. Wenn du keinen hast, dann ist keine Antwort annehmbar.«
Aus Trotz schnaubte Danal verächtlich. »Das ist genau die Art von unbesiegbarer Ignoranz, nach der wir uns am Anfang gerichtet haben.«
»Aber es macht Sinn. Du hast die Wahrheit niedergeschrieben, ohne es selbst zu wissen. Denk darüber nach: Satan hat sich verstecken müssen, schlief, weil die Zahl Seiner Anhänger in den letzten Jahrhunderten zu gering war. Aber jetzt ist der Neo-Satanismus stark – und durch die Resurrection Inc. können die Toten wieder gehen, so wie es in Dutzenden Prophezeiungen geschrieben steht.
Jetzt wurdest du, Vincent, Ihm geopfert, und dann brachten wir dich zurück. Wir rissen deine Seele aus Satans Pranken, griffen sie wie einen Bonbon aus Seinen Klauen. Wie könnte Er das ignorieren? Er ist erwacht – ich kann es fühlen. Er wird dir hierher folgen, um zurückzuholen, was Ihm bereits gegeben worden ist.«
Van Ryman entfernte eine Handvoll von glänzenden Elektroden aus dem Inneren des Online-Terminals und drehte sich mit großen und entrückt wirkenden Augen zu Danal um. »Halt still, jetzt.« Stromgaard positionierte die Elektroden in einem Bündel an Danals Hinterkopf. Der Diener versuchte seine Fäuste zu ballen, aber sein Körper versagte ihm sogar das.
»Ich habe viel Zeit beim Nachdenken und beim Meditieren verbracht, und ich erfuhr eine Große Offenbarung. Es war wunderbar, Vincent – es würde dir den Atem rauben! Du siehst, dass Satan jahrhundertelang über niemanden Macht ausüben konnte, weil die zynischen Menschen gelernt hatten, Widerstand zu leisten. Du weißt, wie man durch materialistisches Denken, durch Skepsis, durch Vergessen die Furcht vor dem Unbekannten schürt. Aber die Menschheit hat den eigenen Untergang heraufbeschworen und mit den eigenen Händen einen Verstand erschaffen, der Satans größter Besitz von allem sein wird! Ein einzelner Verstand, um die Erde zu dominieren und alles zu kontrollieren. Das Netz!«
Zuvor war Danal stets zu abgestumpft gewesen, um die Leidenschaft in den Augen von jemandem zu sehen, der tatsächlich an den Kult glaubte. Aber jetzt zeigte Stromgaards Gesicht einen glückseligen, glasigen Blick der Erwartung, die jedem rationalen Gedanken trotzte. Danal empfand es beängstigend.
»Das Netz hat keinen Widerstand, keine Hemmungen, keine moralischen oder religiösen Bedenken, die Satans Feuer auslöschen könnten!«, machte Stromgaard weiter. »Sobald Satan vom Netz Besitz ergriffen hat, kann Er in einer Sekunde die ganze Welt kontrollieren. Alle Maschinen und alle Menschen werden sich Ihm beugen müssen.« Er schloss seine Augen und atmete tief und begeistert ein.
»Sorgfältige Beweisführung, Vincent, haarklein durchdacht. Du solltest das zu schätzen wissen. Wir opferten dich das erste Mal auf die traditionelle Weise. Dann rissen wir deine Seele von Satan zurück, und als nächstes werde ich Ihm eine andere Art von Opfer darbringen.« Der Doppelgänger befestigte die letzte der Elektroden auf Danals kahlem Kopf und zog die zu dem Terminal führenden Drähte gerade. »Ich werde den Mikroprozessor deaktivieren, der dich am Leben erhält, und den Impuls ins Netz schicken. Wenn Satan deine Seele zurück haben will, wird Er dir folgen müssen … und dabei eine unglaubliche Ihn erwartende Welt entdecken!«
Danal grinste und spielte mit. »Und ich nehme an, dass du das hier allein tust, um den ganzen Ruhm für dich selbst einzustreichen? Wenn es funktioniert, wirst du dann der mächtigste Mann der Welt sein, weil du es allein geschafft hast, Satan zurückzuholen?« Er musste das Gespräch in eine andere Richtung lenken, ehe er zurückschlagen konnte.
»Warum sollte ich nicht? Nathans hat mir die Resurrection Inc. gestohlen. Du hast mir den Neo-Satanismus gestohlen, noch während wir ihn entwickelten. Der Neo-Satanismus sollte vermutlich mir gehören, Vincent. Für mich sein! Jetzt hole ich mir endlich, was mir gehört. Ich bin wahrlich der einzige, der an das glaubt, was wir drei einst geschaffen haben. Du und Nathans glaubt, dass Neo-Satanismus nur ein Spiel sei, ein Taschenspielertrick. Aber ich weiß es besser. Wenn Satan zurückkommt, wird Er mich und was ich gemacht habe kennen, und Er wird sich erkenntlich zeigen.«
Danal lachte amüsiert. »Ich glaube nicht!« Es war fast vorüber. Van Ryman hatte ihm nicht den Befehl zu schweigen erteilt. Und so gelangten sie zu dieser Falle.
»Was meinst du?« Stromgaard verengte die Augen.
Er zuckte mit den Schultern, fast schüchtern. »Vergiss nicht, dass ich mich, als ich meine Erinnerungen wiedererlangte, auch an all meine Online-Zugangscodes erinnert habe. Weißt du … wer zuletzt lacht, lacht am besten!«
»Was hast du getan?«
Danal gestattete seinen Lippen, sich in ein Lächeln zu verwandeln, und wartete so lange wie möglich in Ruhe darauf, die Unsicherheit und Unruhe des Vaters wachsen zu lassen. »Ich bin ein Diener – ich hatte keine Zukunft in meinem alten Leben. Also habe ich heute Nachmittag alles, was zu meiner Identität gehörte, aus dem Netz entfernt. Vincent Van Ryman existiert nicht mehr. Wenn Satan vom Netz Besitz ergreifen will, wird er nicht einmal einen einzelnen abgebrannten Chip vorfinden, der sich an dich erinnert!« Er lachte wieder, ein offener, selbstzufriedener Klang, der am Ende in Verbitterung umschlug. »Du hast das Gleiche mit Julia getan.«
»Nein!«
Danal legte einen selbstgefälligen Ausdruck in sein Gesicht. »Überprüf es für dich selbst, wenn du mir nicht glaubst. Ich hab Zeit.«
Van Rymans Gesicht verzog sich vor totalem Zorn und Ungläubigkeit. Er hämmerte auf die weißen Quadrate der Online-Tastatur und knurrte den Bildschirm an. Danal riss sich zeitgleich die Elektroden vom Kopf und ließ sie zu Boden fallen. »Bleib, wo du bist!«, rief ihm Stromgaard zu.
Danal rutschte in seine beschleunigte Wahrnehmung der Zeit, beobachtete Van Rymans Finger, die dabei waren, ihn einzuloggen, und das Passwort mit den dreizehn Ziffern eintippten. Der Doppelgänger starrte auf seine Eingabe im Sichtfeld des Bildschirms, bis seine Verbindung mit dem Internet genehmigt wurde … die Falle hatte sich aktiviert.
Als die Login-Daten akzeptiert wurden, sammelte sich die gesamte Energie des Verteidigungs-Systems wie mit einer Explosion in einem einzelnen Terminal – folgte dabei einer Stromverbindung, die die Reparaturratten kurz zuvor umgeleitet hatten. Die Plastikabdeckung zerbrach. Ein Stromstoß sprang aus der Tastatur in den Körper des Doppelgängers. Silberne Blitze der elektrischen Spannung überzogen Van Rymans Finger und Hände wie die Krallen eines Dämons und durchstrahlten ihn. Seine dunklen Haare fielen durch die Entladung von ihm ab, als wären sie die Samenkörner einer sterbenden Pusteblume.
Danal kehrte zur Normalzeit zurück. Stromgaard Van Ryman taumelte rückwärts. Der Geruch von geräuchertem Fleisch und Dampfschwaden quoll aus der schwarzen Robe.
Danal gestattete sich keinen Moment der Traurigkeit für seinen Vater – Stromgaard hatte seinen Weg vor langer Zeit gewählt. »Ich würde niemals meine eigene Identität löschen«, sagte Danal sanft zu dem Toten auf dem Fußboden. »Nicht wenn ich annehme, dass ich gewinnen kann.«
Er setzte sich auf eine der Steinbänke, da ihn die Ereignisse einholten. Danal fühlte sich benommen, und seine Gedanken kreisten. Er hatte Stromgaard getötet, und das war nur der Anfang. Die Räder, die er in Bewegung gesetzt hatte, würden noch vor Ende der Nacht durch sie hindurchfegen.
Als er alle Erinnerungen an einem sicheren, mentalen Ort versteckt hatte, ging der Diener über den nasskalten Aufgang hinauf und betrat die Stufen, die ihn ins Haus führten, sein Haus, und er schaltete alle Verteidigungs-Systeme ab. Er hoffte darauf, dass es letztmalig wäre.
Dann sandte er das Signal seines Sieges aus, der die ganzen Erwachten zu ihm bringen würde.