Kapitel 21



Soldat Jones rannte blind durch die Straßen, wedelte mit den Armen, obwohl sich die Menge bereits aufgelöst hatte. Er atmete schwer; die feuchte, ungefilterte Luft pfiff ihm in die Nase.

Der Soldat trug nur noch die Stiefel seiner Rüstung am Körper sowie die hautenge, schwarze Hose; alles andere war fort. Er hatte die Teile seiner Rüstung bei seiner Flucht nach und nach von sich geworfen. Das Funkgerät hatte er auf diese Weise verloren, es war unter jemandes Füßen zermalmt worden. Auf seiner Haut kribbelte es, wenn er an die vielen Hundert Hände dachte, die ihn hatten fangen, greifen, zerreißen oder einfach töten wollen – und sei es nur durch die Kraft der reinen Überzahl.

Es donnerte in seinen Ohren, aber Jones vermied es, zu schreien und den Druck, der sich immer noch in ihm aufbaute, einfach rauszubrüllen. Was hatte er denn getan? Hatte er das verdient? Der Soldat lief weiter, versuchte wegzukommen, immer tiefer im Meer der Anonymität zu verschwinden.

Soldaten hatten Order, nicht zu rennen. Aber in diesem Augenblick interessierte ihn seine Gilden-Zugehörigkeit herzlich wenig. Besonders die beklemmenden Erinnerungen an die unauslöschlichen Momente der Angst wollte er vergessen …

Nachdem der aufsässige Diener auf den Straßen verschwunden war und sich dabei schneller bewegte, als es für einen Menschen möglich gewesen wäre, hatte sich der Mob über Jones hergemacht. Denn er hatte jemanden getötet. Vielleicht sogar mehr als eine Person. Die Menge hatte ihn wie mit den Tentakeln eines gefräßigen Tintenfischs gepackt. Ein vom puren Chaos getriebener Zorn erfüllte die Luft, so dass es ihm schwerfiel, im von Schweiß, Beleidigungen und eiskaltem Hass angefüllten Meer nach Luft zu schnappen. Hände, Körper, Personen schubsten ihn herum.

Mehrere Fußgänger begannen, mit Gegenständen nach ihm zu werfen. Jones fühlte, wie gegen seine Rüstung geschlagen und gedrückt wurde – und er schlug zurück. Er feuerte mit seinen Waffen in die Luft, hoffte darauf, dem Gesindel damit Ehrfurcht einzuflößen, es zu ängstigen und zu vertreiben, um etwas mehr Platz zum Atmen zu bekommen.

Er war ein Soldat. Sein Freund Fitzgerald Helms war für Jones gestorben, um ihn in die Gilde zu bekommen. Die Fußgänger interessierten ihn nicht – er brauchte den Diener. Er musste den Diener stoppen, weil er gar nicht darüber nachdenken wollte, wohin ihn die Gilde versetzen würde, wenn er es ein weiteres Mal vermasselte. Jones konnte sich nicht viel mehr erlauben.

Aber der aufsässige Diener war geflohen – verwundete, aber fort – und nur der Mob tobte weiter. Der Mob wollte Blut sehen, und sie hassten Soldaten fast so sehr, wie sie Diener hassten.

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Einem anscheinend selbstmörderischen alten Mann gelang es, eine von Jones‘ Waffen zu ergattern, die er dann fröhlich in seinen krummen Händen schwenkte. Der Soldat erschoss ihn. Die Waffe drehte sich in der Luft, flog in die Menge hinein, und nur Momente später nahm sie jemand an sich und begann, unüberlegt draufloszuschießen. Jones wurde mit Bestürzung bewusst, dass mehrere Menschen in der Menge lachten.

Immer mehr von ihnen griffen nach den übrigen Waffen, die aus seiner Rüstung lugten. Training und Reflexe übernahmen mittlerweile die Kontrolle; Panik erstickte alle Gedanken eines rationalen Teils von seinem Gehirn. Jones ruckte hierhin und dorthin und schoss in allen Richtungen, bis seine Taschenbazooka leergeschossen war.

Aber die Meute blieb nicht zurück.

Jemand riss das Glühmesser aus der Halterung an seiner Seite, denn hörte er, wie der Sicherungsverschluss mit einem leisen »Plopp« aufging. Die heiße Klinge rutschte aus der weißen Rüstung des Soldaten. Flinke Hände rissen die anderen zwei Schusswaffen aus den Holstern heraus, und Jones wussten, dass sogar die Durastahl-Rüstung so einem Angriff nicht standhalten konnte.

Doch der Pöbel schob ihn weiterhin vor sich her. In seiner Verzweiflung, bald nicht mehr verschwinden zu können, blieb Jones einfach stehen und ließ alles an seiner äußeren Hülle abprallen. Völlig losgelöst wählten seine Hände die letzte für ihn denkbare Alternative.

Jemand versuchte, ihm den Arm zu brechen, aber Jones schaffte es, ihn wieder zu befreien, was glücklicherweise an der glatten Oberfläche der Rüstung lag. Einer sein Finger ertastete schließlich den Druckpunkt unter einer Brustplatte und drückte den Release-Button.

Dichte Wolken aus schwarzem Rauch quollen aus den Gelenken seiner Rüstung, der den Mob mit seinem beißenden Geruch zurückdrängte. Von den Nebelschwaden versteckt, zog Jones seinen Helm aus und warf ihn in die Menge, die er nicht sehen konnte. Dann hielt er den Atem an und lief durch die Massen der geblendeten und röchelnden Menschen, versuchte unerkannt zu bleiben, warf Stücke seiner Rüstung von sich und setzte alles daran, unsichtbar zu werden, normal zu werden, wie ein x-beliebiges Gesicht auf der Straße. Eigentlich war die Rüstung sein Schutz, ein fester Bestandteil seines Jobs; es machte ihn zum Soldaten, zu jemandem, der gefürchtet und respektiert werden sollte, und er warf sie mit wachsender Furcht einfach von sich. Er musste diese Rüstung einfach loswerden, musste von der grapschenden, mörderischen Menge wegkommen …

Jones fühlte sich betäubt, bewegte sich mechanisch und kam auf diese Weise zu einem eingezäunten Grundstück zwischen zwei großen, nichtssagenden Gebäuden. Ein Maschendrahtzaun mit Stacheldraht darüber riegelte den Bereich ab. Auf diesem Grundstück stand ein scheinbar ziellos ausgerichteter Wald aus Parabolantennen. Es gab sowohl solide Schüsseln als auch solche, die man aus Draht zurechtgebogen hatte.

Die Schatten der Streben und Satellitenschüsseln winkten ihm, und irgendein irrationaler Impuls drängte ihn dazu, dass er hineingelangen musste. Jones suchte den Boden ab, fand eine zerbeulte Aludose und warf sie gegen den Maschendrahtzaun, wobei er auf mögliche Funken wartete.

Der Soldat fühlte wieder einen Adrenalinschub, da er sich vorstellte, die Hände würden erneut nach ihm greifen … seine Waffen rauben, damit spielen, sie gegen ihn einsetzen … der Zorn des Mobs, der wie siedendes Öl ausgegossen worden war, in dem Wissen, dass er ihm jeden Augenblick Glied für Glied vom Körper reißen würde …

Jones griff nach dem Maschendrahtzaun und krabbelte hinauf. Er hielt vor dem Stacheldraht inne, fragte sich, ob dieser vielleicht mit einer tödlichen Chemikalie oder einer lähmenden Droge beschichtet war. Auch wenn er in diesem Moment keine schützende Rüstung mehr trug, so hatte er doch in seinem Soldaten-Training gelernt, wie er das Berühren von Stacheldraht vermeiden konnte. Er schwang seinen trainierten, dunklen Körper darüber und ließ sich dahinter zu Boden fallen. Die Panzerstiefel verhinderten ein zu heftiges Aufkommen, und er ging in die Hocke, sah sich um, hechte einen Moment später in die Sicherheit des nächsten Schattens.

Sein Brustkorb hob sich, während er sich tiefer in den Schatten zurückzog, um vor all den Blicken geschützt zu sein. Jones ließ das letzte bisschen Adrenalin durch seinen Blutkreislauf schwirren, Runde für Runde, bis es sich in seinem Kreislauf verteilt hatte. Kurz darauf versank er erschöpft und wie betäubt in einen Schlaf.

Er erwachte erst spät am Abend. Die einsetzende Dunkelheit um ihn herum ließ die Parabolantennen wie fremdartige Wesen erscheinen. Er konnte durch das Drahtgeflecht einer Antenne den Sternenhimmel erkennen, an dem jedoch viele der Sterne durch die Helligkeit des Metroplex‘ verblassten.

Jones setzte sich mit einem Ruck auf und blickte auf seinen Handgelenkschronometer. Weit nach Mitternacht – und lange nach Einsetzen der Ausgangssperre. Und er war ein Soldat, ohne Uniform und ohne ID.

Er schüttelte sich. Er hatte seine Rüstung zurücklassen müssen. War er denn überhaupt noch ein Soldat? Er hatte seine Pflicht nicht erfüllt. Er hatte einen aufsässigen Diener entkommen lassen. Er hatte Zivilisten getötet. Wegen ihm war es zu einer blutigen Unruhe gekommen.

Wie würde das die Gilde sehen? Würde sie ihn bestrafen, ihn zum Ausüben eines noch schlechteren Jobs degradieren? Würden sie ihn entlassen, was ihn dazu verdonnerte, auf Jobsuche zu gehen – was ihn wiederum unweigerlich dazu verdammte, zu einem der Arbeitslosen zu werden? Oder würden sie ihn einfach umbringen, um dem System jegliche Peinlichkeit zu ersparen?

Jones hockte da, blieb unbeweglich und überlegte sich, ob er versuchen sollte, die Patrouillen der Ausgangssperre zu umgehen, zu seiner eigenen Wohnung zurückkehren, ohne gefangen zu werden. Oder sollte er dort bleiben, wo er war, in der Feuchtigkeit der Nacht frieren und darauf hoffen, dass ihn niemand vor dem nächsten Morgen fand?

In seinem Versteck, unter dem Skelettgerüst der Satellitenschüssel, fühlte er sich verloren, kalt und war durcheinander. Er war eine Schande für die Gilde. Er wollte seinen Kameraden nicht gegenübertreten. Und davor würde ihm nur die vertraute Umgebung seines Zuhauses helfen. Er wollte nach Hause gehen. Er wollte dort sein, wo er sich wirklich sicher fühlen konnte.

Jones griff an den Maschendrahtzaun und fing an, daran hochzuklettern. Er fror und blieb jedes Mal starr an einer Stelle, wenn der Zaun in der Stille der Nacht klapperte. Er wartete, kletterte dann den Rest des Zauns hinauf. Der Stacheldraht war schräggestellt und zeigte nach draußen, so dass das Drüberklettern eigentlich viel leichter sein sollte.

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Er sprang herunter und blieb in den Schatten der Häuser, schlich von einer Straße in die nächste, suchte nach bekannten Orten, versuchte sich irgendwie zu orientieren. Zwar befand sich Jones nach Anbruch der Ausgangssperre weit draußen, aber er konnte die Klänge von einem der inszenierten Straßenkämpfe der Gilde hören. Aber dieser fand weit entfernt von diesem Ort statt. Somit war er sicher.

Die Lichter eines leisen Hovercars leuchteten auf ihn herab, während er gerade versuchte einen unbeleuchteten Durchgang zu durchqueren. Jones hielt mitten im Schritt inne, wusste nicht weiter und ließ dann seine Schultern vor Resignation sinken.

Während Frampton und er nach Anbruch der Ausgangssperre auf Streife gewesen waren, ertappten sie die meisten Menschen erst nach Mitternacht, die sich zu verstecken und zu fliehen versuchten, was die Soldaten dazu brachte, mit der Betäubungs-Kanone des Hovercars auf die Flüchtenden zu schießen – Jones wusste, wie aussichtslos seine Flucht wäre. Daher ergab er sich ohne Widerstand.

Zwei Soldaten sprangen aus dem Fahrzeug und kamen auf ihn zu. Jones wartete, die Angst in ihm begann zu wachsen – aber diesmal ignorierte er sie – er hatte genug Angst für einen Tag gehabt.

Der kleinere der beiden Soldaten begann mit barscher Stimme den bestimmten Paragraphen der Gilden-Verordnung zu rezitieren, den Jones gebrochen hatte. Jones hob seine Hand und begann, die gleichen Worte mitzusprechen, bis sein Gegenüber zu sprechen aufhörte.

»Ich weiß«, sagte Jones. »Ich bin auch Soldat. Ich bin auch schon nach Anbruch der Ausgangssperre auf Patrouille gewesen.« Er gab ihnen seinen Namen und seine ID und erzählte, wie es zu seiner Situation gekommen war, wobei er genau wusste, was die zwei Einheiten der Nachtwache dabei dachten; er hatte selbst so viele unterschiedliche Entschuldigungen gehört, während er auf Streife gewesen war. »Habt ihr wegen mir schon ein A.P.B. erhalten?« Natürlich hatten sie das. Er war ein Soldat, der beim Ausüben seiner Pflicht nicht anwesend war. Jemand war auf der Suche nach ihm. Jemand, der das erklären konnte.

Der größere des beiden Soldaten, der noch kein Wort gesprochen hatte, gab Jones‘ ID und weitere Daten in sein tragbares Online-Terminal ein. Jones wartete, bis die Überprüfung abgeschlossen war. Doch stattdessen gab der ruhige Soldat alles noch einmal ein und wirkte äußerst verblüfft. Er rief den anderen Soldaten zu sich und tippte die gleichen Informationen ein drittes Mal ein.

Ein Schrecken schlug Jones in die Magengrube. Was hatte die Gilde jetzt schon mit ihm gemachte? Das war alles zu viel für ihn, und er glaubte nicht daran, dass er noch mehr Panik ertragen konnte. »Hört zu, ihr könnt mich zu meinem Appartement zurückbegleiten. Da werdet ihr mich ohnehin hinbringen müssen. Das Netzwerk wird mich reinlassen, und da werde ich euch meine Identität beweisen.«

Er wartete und war völlig aufgebracht. Der zweite Soldat sah ihn an, dann sahen sie einander an und zeigten auf das Terminal.

»Ich kann es euch beweisen! Kommt schon.«

»Ich glaube, Sie sollten das tun, Mr. Jones«, sagte der kleinere Soldat schließlich. Seine Stimme klang hohl hinter seinem Visier.

Jones folgte den zwei Soldaten zu dem gepanzerten Hovercar. Er musste sich zurückhalten, nicht vorne einzusteigen und ging selbstzufrieden in den abgetrennten Bereich.

Der Bereich hatte kein Fenster, und Jones war traurig, zog seine Knie zu seinem seinem freien Oberkörper hoch. Schüttelte sich, fror. Fragte sich, was er nun machen sollte. Das Hovercar hob ab und flog durch die Luft. Er wartete; es fühlte sich wie eine Ewigkeit an.

Aber schließlich senkte sich das Hovercar zur Erde zurück und machte ein dumpfes Geräusch, als es ganz auf dem Boden aufkam. Jones blinzelte und trat in die Dunkelheit hinaus, als sich die Einstiegsklappe mit einem Druckluft-Zischen öffnete. Die zwei Soldaten flankierten ihn auf beiden Seiten. Vor ihnen befand sich der große Komplex des Gilden-Wohnheims, und Jones blickte auf die Reihen von Fenstern, die sich Etage für Etage wiederholten. Jedes Fenster wirkte identisch, und Jones hatte keine Ahnung, welches zu seiner eigenen Unterkunft gehörte.

Während sie ihn skeptisch beobachteten, geleiteten ihn die zwei Soldaten der Nacht-Patrouille zu dem Terminal, das neben dem verschlossenen Eingang aufgestellt worden war. Jones versuchte selbstsicher zu wirken, auch wenn er sich nicht so fühlte, und gab Login-Name, ID, Zahl und Passwort ein. Seine Knie fühlten sich weich an, bis ihn die Erleichterung durchströmte, als auf dem Bildschirm »Zugang gewährt« aufleuchtete und sich die Tür öffnete.

»Wir würden Sie lieber zu Ihrem Raum begleiten«, sagte der kleinere Soldat.

»Selbstverständlich«, sagte Jones – etwas selbstsicherer. Die Drei gingen hinein und nahmen einen Aufzug, der sie in den sechsten Stock brachte.

Er gelangte an seine Tür, versuchte die Erleichterung in seiner Stimme zu verbergen und sagte: »Hier ist es. Sorry für all die Mühe, die ich euch gemacht habe. Ich bin mir sicher, dass ich morgen einigen Verweisen entgegensehen werde.«

Jones machte die Tür auf und ging einen Schritt hinein. Er sah eine Bewegung in der Dunkelheit seines Zimmers, und er keuchte auf als zwei Mitglieder in blauen Rüstungen, die zu den Elite-Einheiten der Gilde gehörten, gleichzeitig aufstanden, da sie offenbar auf ihn gewartet hatten.

Die zwei Soldaten in ihren weißen Rüstungen versteiften sich vor Schock und Verwirrung. Jones wollten etwas sagen, aber die Worte zerfielen in seinem Mund. Er hatte die Eliteeinheiten bisher nur ein oder zwei Mal gesehen, beim Eskortieren von sehr wichtigen Personen oder bei äußerst gefährlichen Missionen höchster Sicherheitsstufe. Er könnte sich nicht vorstellen, was er getan hatte, das ihrer Aufmerksamkeit bedurfte.

Die zwei Eliteeinheiten kamen auf Jones zu, und einer trat den Patrouilleneinheiten der Ausgangssperre entgegen: »Ab hier übernehmen wir. Ich empfehle euch, hierüber keinen Bericht zu schreiben. Wir werden uns um die Details kümmern. Geht einfach zurück an die Arbeit und macht eure Schicht zu Ende.«

Die weiß-gekleideten Soldaten grüßten mechanisch und drehten sich weg, um zu gehen, so als ob sie weglaufen müssten.

Jones stand bewegungslos und erschrocken da. Einer der Elite-Gardisten schloss die Appartementtür, verriegelte sie und schloss damit alle Drei gemeinsam ein.