Kapitel 20
Als
Danal wieder zu Bewusstsein kam, blickte er in das betroffene
Gesicht der über ihn gebeugten, matronenhaft aussehenden
Krankenschwester (Techniker). Die Realität kehrte mit der Kraft
eines losgelassenen Gummibands zurück. Aber noch immer ergab nichts einen
Sinn.
Danal wurde erneuert bewusst, wie viel stärker er sich fühlte. Er drehte seinen Kopf herum und sah, dass die Wunde an seiner Schulter mit fleischfarbenem Plaskin bedeckt worden war; nach etwa einer Stunde würde sich das synthetische Melanin im Plaskin zur genau gleichen Farbe der blassen, toten Haut verwandeln, die es bedeckte.
Die Krankenschwester (Techniker) betrachtete ihn mit einem harten und berechnenden Blick, der auf ihrem überladenen Make-up-Gesicht fremd wirkte. »Du hast geredet, als du bewusstlos warst. Du hattest einen Albtraum.« Sie beobachtete ihn genau, während sie sprach. »Diener haben normalerweise keine … Albträume.«
Er guckte durch den Raum und erkannte, dass er mit der Krankenschwester (Techniker) allein war. Eine Augenbraue hob sich, als ob sie über eine schwierige Entscheidung nachdachte. »Soll ich deinen Master benachrichtigen? Vielleicht kann er erklären, warum du Albträume hast.«
»Nein!«, sprudelte es aus Danal heraus. Er hoffte darauf, dass er seine Kraft diesmal würde zügeln können, dass er sie nicht einfach aus dem Weg schlagen würde. Er musste erneut fliehen. Diese Gedanken und die Entscheidung aktivierten sich im selben Moment, in dem er auf seinen Füßen stand. Er langte mit seinem Arm vor, in der Absicht, sie im Nacken zu packen und zur Seite zu werfen.
Aber die stämmige Krankenschwester (Techniker) bewegte sich mit der gleichen rasenden Geschwindigkeit und überdurchschnittlichen Kraft, blockierte seinen Schlag und griff seinen Arm mit ihrem knallharten Griff, als wären ihre Finger aus Stahl. Ihre gummibehandschuhte Hand wackelte ein bisschen, da er sich mit all seiner Kraft dagegen wehrte, aber sie drehte ihn um und zwang ihn, sich auf dem wattierten Behandlungstisch auszuruhen. Danals Augen wurden weit, und er hörte auf, ihr Widerstand zu leisten.
»Jetzt«, sagte die Krankenschwester (Techniker) mit fester Stimme, wobei sie einen ihrer Handschuhe auszog und die blasse, blutleere Haut ihrer Hand enthüllte. Die Haut eines Dieners! »Sag‘s mir. Wahrheitsgemäß. Erinnerst du dich an irgendetwas aus deinem ersten Leben?«
Er hatte Julia unter einem seiner Pseudonyme getroffen.
Sogar nachdem er die Robe des Hohepriesters der Neo-Satanisten angelegt hatte, hatte Vincent weiterhin seine alternativen Leben im Internet gepflegt, jene Identitäten, mit denen er Geschäfte und Korrespondenzen vollführte.
Er benutzte den Namen von Randolph Carter, als Vincent einen langen Dialog in einer Chatgroup mit einer Frau namens Julia führte. Wochenlang tauschten sie sich wortgewaltig aus, ein Hin und Her, in dem sich Randolph Carter für eine Grundlage aller Religionen aussprach – eigentlich mit den Argumenten einer früheren Diskussion, die er mit Francois Nathans geführt hatte – und Julia antwortete mit der gleichen Logik, aber von einem anderen Standpunkt aus, um zu einem anderen Ergebnis zu kommen.
In Vincent wuchs der Respekt für den Geist, der hinter den Argumenten seines Gegenübers steckte, und er plante, sie persönlich zu treffen.
Also hatten sie sich in einem abgenutzten Plastikseparee einer recht geschäftigen Kantine zusammengesetzt. Das Geklapper einer automatischen Geschirrspülmaschine ertönte vom Ende eines Fließbands; fortwährend stellten die teilnahmslosen Kantinenbesucher ihre schmutzigen Teller und Tabletts auf das Band und hatten keine Zeit, um darauf zu warten, bis diese im Spülraum angelangt waren, wo spritzendes Wasser und chaotische Klänge auf diese warteten. Die mehrfarbigen Trennwände zwischen den einzelnen Sektionen brachen die Monotonie des großen Saals auf; transplastische Wände schotteten den kleinen Raucherbereich vom Rest der Kantine ab. Und das Summen der Gespräche stieg wie in Wellen an und fiel immer wieder ab.
Julia lehnte sich über die zerkratzte und dreckige Tischplatte und lächelte ihn an. »Wir könnten auch allein an einem Ort wie diesem sein. Und wir könnten über alles diskutieren, das uns einfällt.«
Julia war schlank, durchschnittlich groß, und trug ihre langen blonden Haare offen, mit Mittelscheitel, und ließ sie hinter ihren Schultern herabfallen. Sie hatte große Augen, und Vincent glaubte, dass er Dutzende von Gedanken hinter ihnen würde sehen können, und erwartete, dass sie mit der Zeit zu ihm an die Oberfläche dringen würden. Ihre hohen Wangenknochen und ihr zartes Gesicht ließen sie zerbrechlich erscheinen, aber sie argumentierte kraftvoll und intelligent, auf eine ganz nüchterne Weise, die sofort jeden Eindruck von Hilflosigkeit im Keim erstickte.
Sie beide tranken Kaffee, den Vincent ein wenig bitter fand, im markanten Wiederverwertungs-Geschmack einer typischen Kantinen-Mischung; Julia hatte darauf bestanden, für sich selbst zu zahlen. Geradezu zwanghaft rührte Vincent in seiner Tasse herum, während sie weiter sprachen; sie schlürfte gelegentlich an ihrem Kaffee, und mehr als einmal schwappte er über den Rand ihrer Tasse, da sie beim Sprechen sehr lebhafte Gesten machte.
»Aber nehmen wir mal an, nehmen wir einfach mal an«, sagte Vincent, »dass die Neo-Satanisten gar nicht der Wahrheit entsprechen wollen, geschweige denn, ein echter Glauben sein wollen. Was, wenn es vielmehr eine Falle für Menschen ist, damit sie sich in ihrer eigenen Dummheit verstricken? Bestimmte Menschen. Um ihnen zu zeigen, wie leichtgläubig sie sein können? Was, wenn es nur ein Trick ist, eine richtige Lachnummer, sagen wir, die einfach nach hinten losgeht?«
Julia ließ das für einen Moment auf sich wirken. »Dann hat derjenige, wer auch immer es geplant hat, von Anfang an unrecht. Wer solche Macht und Einfluss hat, sollte nicht absichtlich die Öffentlichkeit irreführen. Warum haben sie denn nicht von Anfang an den richtigen Weg eingeschlagen?«
Er saß für einen langen Moment schweigend da. Sie wirkte verblüfft, doch sie wartete. »Ich bin Vincent Van Ryman«, sagte er mit weicher Stimme. Und dann – natürlich – erklärte er ihr alles.
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Vincent mietete einen Hovercopter, und die beiden machten sich zusammen auf, um an der kalifornischen Küste entlangzufliegen und zum Point Reyes National Seashore hinaufzugelangen. Julia war sehr belesen und konnte das Gespräch dadurch mit interessanten und exotischen Details bereichern, aber sie war weder niemals zuvor über die Grenzen des Metroplex‘ hinausgekommen, noch hatte sie jemals in einem Hovercopter gesessen.
Vincent betätigte unbeholfen die ungewohnten Kontrollen, die das Gefährt vom Dach der Villa hoben und zu einer Seite des Gebäudes schweben ließen. Ihm gefiel es sehr, Julias gespannte Aufmerksamkeit zu beobachten, während sie ihre Finger an dem gewölbten Fensterschutzglas spreizte und mit großen Augen von oben auf die schachbrettartig angeordneten Gebäude des Metroplex‘ unter ihnen spähte.
Der Copter schwebte nordwärts, und die Grenzen des Metroplex‘ verwandelten sich in bewaldete Hügel und in von Touristen belagerte Dörfer. Die alte Straße unter ihnen wand sich in unbestimmten Kurven an der Seite einer Klippe entlang, hinter der sich der Ozean auftat. An den Felsen brachen sich mehrere Wellen, deren Schaumkronen wie weiße Tupfer in einem riesigen Becken wirkten.
Vincent fühlte sich geradezu mutig, als er den Hovercopter hinter der Klippe nach unten rasen ließ, um knapp über der Oberfläche des aufgepeitschten Wassers an der Küste entlangzufliegen. Die Gischt flog hoch und trübte die Sicht durch die Frontscheibe. Julia klatschte in die Hände und lachte – recht nervös, wie es schien.
Weit vor ihnen, teilweise umgeben von kleinen Nebelfeldern, die durch die aufkommende Hitze des anbrechenden Tages aufwallten, konnte Vincent den Leuchtturm auf der kleinen Landzunge erkennen, die aus Drakes Bay herausragte. Unter dem Gefährt grollte der Ozean, und die steile Klippe neben ihnen wich einer weiten Strandfläche neben einer schwarzen, durchlöcherten Fläche aus Gezeitentümpeln. Vincent flog weiter, machte dann eine Kehrtwende; unter dem klaren Wasser direkt vor dem Strand ging es nach unten und fiel schräg zur Tiefe hin ab.
Der Hovercopter sank auf den Sand, schleuderte Kiesel und Schutt in jede Richtung. Bei allem, was er sehen konnte, waren sie beide vom Landweg abgeschnitten und befanden sich in einem Gebiet, das nur über den Luftweg zu erreichen war.
Julia hechtete aus dem Gefährt und lief fröhlich auf die Wellen zu. Sie trat ihre Schuhe weg, achtete nicht auf die Steine am Strand und sprang bis zu den Knien ins Wasser. Vincent lachte über ihren erschrockenen Gesichtsausdruck. »Es ist kalt! Es ist arschkalt!«
»Natürlich ist es das. Es ist der Ozean.«
Sie sprang heraus und versuchte, die Wassertropfen von ihren Waden zu wischen. »Aber man könnte meinen, dass der Ozean warm ist.«
»Nicht auf Point Reyes.« Er ging zu dem Hovercopter zurück und öffnete das Ladungsabteil. »Komm her. Lass uns picknicken.«
Vincent hatte ein Mittagessen für sie beide organisiert, das er sogar in einem frisch gekauften Picknick-Weidenkorb mitgebracht hatte, damit es ein bisschen mehr wie ein echtes Picknick wirkte. Er reichte Julia den Korb, nahm selbst die Decke aus dem unteren Fach und breitete sie auf dem Sand aus.
Während sie aßen, atmete Julia tief ein, sah sich um, starrte auf die großen Strandgräser und die steilen, weit über ihre Köpfe emporragenden Klippen. Möwen flogen durch die Luft.
Nach dem Mittagessen gingen sie zusammen den Strand auf und ab und forschten. Julia faszinierten die Gezeitentümpel. Sie hockte sich auf den Felsen und untersuchte die einsamen Pfützen, stieß mit ihren Fingern gegen die kleinen Seeanemonen, tippte Schnecken an und ließ daumengroße Einsiedlerkrebse über ihre Handfläche kriechen.
»Ich hab ein paar Muscheln für dich gesammelt«, sagte Vincent. Sie nahm sie ehrfürchtig entgegen und steckte sie in eine Tasche ihrer Bluse.
Als sie zum Copter zurückgekehrt waren, holte Vincent irgendwelches Equipment heraus und begann, ein dreibeiniges Stativ aufzustellen.
»Was machst du da?«, fragte sie.
»Ich will diesen Moment festhalten. Damit ich mich an jedes wunderbare Detail dieses Tages erinnern kann.« Er schritt eine Entfernung ab und stellte den Beamsplitter auf ein zweites Stativ, kehrte dann zurück, um den Laser der Holokamera auf den Splitter einzustellen. Zufrieden stellte er diesen Splitter auf seinen automatischen Langsamscan ein, der den langen Strand und den Ozean ablichtete, so dass er auch auf ihre Fußabdrücke im Sand schwenken würde. Später sollte Vincent die Kamera zusammenpacken und den Datenträger an sich nehmen. Bereits in diesem Moment hatte er beabsichtigt, das entstandene Hologramm wie ein großartiges Gemälde auf die Wand des Studierzimmers zu werfen.
»Ich bin sehr glücklich, Julia. Hast du das gewusst?«, sagte Vincent mit einem fremden Klang des Erstaunens in seiner Stimme.
Sie lächelte und warf ihr langes, blondes Haar hinter ihre Schultern. »Ja. Das hab ich bemerkt.«
Dann liebten sie sich auf der Decke, auf dem weichen, nachgebenden Sand. Die Möwen flogen über ihnen und kreischten in rechtschaffener Empörung über ihre Schamlosigkeit. Die Wellen donnerten mit ihrer sinnlichen Macht, ein Flüstern, ein rauschender Klang, der alles so perfekte machte.
Und alles war perfekt. Sie bemerkten noch nicht einmal ihre stechenden Sonnenbrände, bis es Abend geworden war.
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Wenn er danach gefragt hätte, wäre Julia wahrscheinlich bei ihm eingezogen, aber sie hatte darauf bestanden, dass er öffentlich die Neo-Satanisten denunzieren und ihre Heuchelei darstellen sollte.
In kurzer Zeit hatte Julia seinem Leben eine neue Bedeutung gegeben. Sie zeigte ihm eine Welt, die nicht ausschließlich dunkel, gleichgültig und egozentrisch sein musste. Sie gab ihm Zärtlichkeit, sie machte ihn wieder formbar, sie glättete die scharfen Kanten seiner Persönlichkeit.
Beim darauffolgenden Hohen Sabbat wies Vincent allen Neo-Satanisten an, zu erscheinen, und er gestand alles. »Das alles« – er zeigte die Gruft, die Roben, die Reliquien, die Symbole – »ist der größte Streich der Geschichte. Alles von diesem Neo-Satanismus ist ein nachgemachter Glaube, alles ist inszeniert. Wir haben es in einer Nacht ausgeheckt, weil uns langweilig war. Wir haben alle Schriften gebrainstormt. Wir haben die Rituale choreographisch eingeübt. Wir haben die Symbole graphisch designt.«
Er zerschlug die Schaukästen, die die Reliquien enthielten. »Der Hufabdruck auf dem Linoleum – hat eigentlich irgendjemand bemerkt, dass es da eine drei Jahrhunderte große Lücke gibt zwischen der Zeit, in der Faustus lebte, und der, als das Linoleum erfunden wurde? Und das hier, die schwarze Klaue des Satans … Plastik. Einfaches, altes Plastik.« Er zog die Robe des Hohepriesters aus und warf sie mit Verachtung auf den Fußboden.
»Geht nach Hause. Verbringt eure Zeit mit etwas Lohnendem. Versucht die Welt zu verbessern, oder verbessert euch. Wir haben euch nur ein bisschen aufgezogen.« Er drehte sich um und ging zum Ausgangsbereich. »Ich bin enttäuscht, wie leicht ihr darauf hereingefallen seid.«
Vincent verließ die Opferkammer, verschwand in den düsteren und versteckten Katakomben, die zu einer Großraumtransport-Station führen würden, wo er einen Skipper darum bitten wollte, ihn vor Anbruch der Ausgangssperre zurück zur Villa zu bringen. Er hatte kein Interesse daran, irgendetwas von dem Tumult mitzuerleben, den er ausgelöst hatte …
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Wie ein schwingendes Pendel, das man einmal in Bewegung setzt, wandte sich Vincent nun gegen die Neo-Satanisten und wurde ihr größter Verfechter. In einer Pressemitteilung hatte Julia preisgegeben, Vincent hätte die dunkelsten Geheimnisse des Kultes preisgegeben und klage sie daher der Heuchelei an. Obwohl er sonst zurückgezogen lebte, erschien Vincent Van Ryman bei mehreren Pressekonferenzen und wurde auf vielen Nachrichtenkanälen in den Onlinedatenbanken zitiert.
Er schickte die Kopie einer Pressemitteilung zu Nathans mit der Anmerkung: »Es tut mir leid, Francois. Aber wir haben das einfach zu lange so durchgezogen.«
Vincent hatte den anderen Mann, seit er Julia begegnet war, nicht mehr gesprochen, und er wollte, dass sich Nathans erst mal beruhigte, ehe er sich wieder mit ihm in Verbindung setzte. Da Vincent viel von seiner Zeit Julia opferte, hatte er generell weniger Zeit für irgendetwas anderes.
Schwitzend und unsicher balancierte Vincent schließlich an der Dachrinne seines Hauses entlang und nahm einen Gargoyle nach dem nächsten vom Dachgiebel herunter; Julia stand unter ihm auf dem Boden, neben dem spitzen Zaun aus geschmiedetem Eisen und versuchte offenbar vorbereitet zu sein, um ihn gegebenenfalls aufzufangen, sofern er abrutschen würde. Später rannte sie mit einem Pinsel und Reinigungsutensilien um die Villa herum, da sie damit alle Drudenfüße vom Villa beseitigen wollte.
Als die Dämmerung hereinbrach und sich auf eine völlig anders aussehende Van-Ryman-Villa ergoss, saßen sie in der Sauna neben dem Schlafzimmer des Masters und tranken Eistee. Ein ganzer Krug davon stand auf einer Holzdiele, und Wasser perlte wegen der dampfenden Hitze an seinen Seiten herunter.
»Ich glaube, dass ich einen, vielleicht auch zwei Diener kaufen werde«, schlug Vincent vor. »Auf diese Weise können wir mehr Zeit miteinander verbringen.«
Sie schloss ihre Augen und nickte ihm erschöpft zu. »Mmmm.« Sie ließ die kalte und nasse Oberfläche von dem Glas mit dem Eistee an ihrem Kinn und ihrem Kiefer entlanggleiten und genoss das kühlende Gefühl. Julia sah vollkommen zufrieden aus.
Und er fühlte sich ebenfalls zufrieden. Erst hatte er Angst gehabt, dass der Kampf gegen die Neo-Satanisten eine viel größere Herausforderung mit noch größeren Nachwirkungen für ihn bedeuten würde. Aber es war tatsächlich ganz einfach gewesen. Und es war endlich vorüber.