Kapitel 29
Die
Türen der Simulationskammer schlossen sich, und Jones drehten sich
um, wobei er auf die glatten, farblosen Wände starrte. Nachdem der
Projektor angelaufen war, konnte er sich vorstellen, dass ihn die
Realität umgab. Jones schüttelte und lockerte sich. Er fühlte seine
Muskeln, spürte, wie sich die Sehnen spannten und er darauf
wartete, springen zu können. Wenn er so darüber nachdachte, dann
war die Gardisten-Ausbildung äußerst anregend. Er wusste bereits,
dass die Qualen, die ihm bevorstanden, ein Dutzend Mal stärker
werden würden, als die während seiner Ausbildung zum
Soldaten.
Er ließ seine behandschuhten Finger über seine blaue Rüstung – fest und neu – gleiten, mit einem zur Hälfte roten Armreif, der seinen untersten Rang in der Elite-Garde kennzeichnete. Die Rüstung war poliert worden, schimmerte dunkel und unauffällig, so dass er in der Nacht unsichtbar blieb und am Tag beeindruckend wirken konnte. Bedrohlich anmutende Spitzen standen von den Schulterteilen der Rüstung ab, und die in den Helm integrierten Geräte ließen ihn fremd, furchterregend und mächtig erscheinen.
Wie er es immer tat, akzeptierte Jones seine Situation, seinen Rang, aber in der Elite-Garde wollte er sich dazu zwingen, etwas mehr Optimismus anzubringen. Fitzgerald Helms wäre stolz auf ihn gewesen, so stolz, dass er dazu nichts hätte sagen müssen – Helms und Jones hatten ein so harmonisches Verhältnis gehabt, dass sie auf all das hätten verzichten können. Die zwei jungen Freunde hatten einst mit einer irgendwie abergläubischen Ehrfurcht auf die Soldaten geblickt, und die Selbstsicherheit der Elite-Gardisten hätte sie wie Götter marschieren lassen.
Er fühlte sich nicht übermäßig traurig, sein altes Leben zurücklassen zu müssen. Nathans hatte sich darum gekümmert, dass Jones‘ Besitz fortgeschmuggelt und ihm zurückgegeben wurde. Und Jones nutzt die Gelegenheit, sich einen frischen Beginn, einen neuen Anfang mit dem ganzen Prestige der Gilde, einbläuen zu lassen. Es schien die beste aller Entscheidungen zu sein.
Nathans hatte ihm alles erklärt. »Erzähl mir, Jones, hast ihr jemals einen alten Soldaten gesehen? Denk darüber nach – an irgendjemanden, der bereits lange auf Patrouille ist, sagen wir seit fünf Jahren.«
Jones schüttelte seinen Kopf. Allein durch die Art und Weise, mit der er sich bewegte und sprach, forderte Nathans stets die völlige Aufmerksamkeit. »Das stimmt, es gibt sie nicht.« Nathans lächelte; seine Augen funkelten. »Das ist ein weiterer Teil unserer Philosophie. Du verstehst – wenn Soldaten eine zu lange Zeit überleben, alt werden und bequem in den Ruhestand treten – was würde dann die Öffentlichkeit denken? Sie würden denken: Soldaten haben einen sicheren, geschützten Arbeitsplatz. Tss, tss.
Nein, nachdem du ein paar Jahre lang Soldat gewesen bist, suchen wir einen Weg, dich zu versetzen. Einige Soldaten sterben natürlich tatsächlich. Die nicht ganz so Fähigen gehen in die Verwaltung. Aber die anderen – die talentierten, deren tiefenpsychologischen Profile zeigen, dass sie wirklich vertrauensselig sind – dann werden sie für die Elite-Garde vorgeschlagen. Du bist einer dieser wenigen besonderen Soldaten, Jones.«
Besonders. Jones spürte ein seltsames Empfinden, Selbstvertrauen, ein Gefühl, von Bedeutung zu sein – er war niemals zuvor auf diese Weise behandelt worden. Nathans hatte offenbar eine besondere Vorliebe für ihn, beobachtete einige Stufen seiner Ausbildung und chattete sogar mit ihm – auf eine freundliche Weise.
Er hörte ein Klicken, als die nicht sichtbaren Projektoren hinter den Wandbildschirmen mit ihrer Simulation begannen. In einem Kontrollraum beobachtete jemand, wie er sich vorbereitete, wie gut er auf die gestellte Situation reagierte. Er musste seinen bisherigen Score schlagen. Jones atmete tief ein, schob all seine angehäuften Gedanken beiseite und konzentrierte sich nur auf die Simulation. Alles andere war unwichtig, oder?
Die holographischen Bilder sprangen ihm von allen Seiten in dem Simulationsraum entgegen. Die stets gleichen, gewölbten Wände verwandelten sich in eine gewöhnliche Straßenszene mit allen Details, suggerierten Jones, er würde wieder draußen stehen und das Gebiet um die Resurrection Inc. abmarschieren. Oben an der Decke glühte eine grüne Null auf einer Anzeigetafel. Aber es würde nicht lange bei einer Null bleiben – darauf musste er also achten, alles klar.
Jones versteifte sich, machte sich bereit, seine Waffen zu ziehen – alle deaktiviert, denn es war nur eine Übung –, aber er zwang sich wieder zur Ruhe. Zu viel Spannung würde seine Zielgenauigkeit reduzieren und somit würde der Score geringer ausfallen. Er schaute sich die gestellte Szenerie an, versuchte das Ziel zu identifizieren, die Stelle, an der der Ärger ausbrechen würde. Dies war immer der schwierigste Teil der Herausforderung.
Zwei Kinder lachten und riefen, liefen ihm aus heiterem Himmel hinterher. Jones sprang und hätte beinahe auf sie gefeuert, fing sich dann, als sie in der Menge verschwanden. Der Schweiß brach ihm auf der Stirn aus. Fehlalarm. Wenn er wirklich auf Patrouille gewesen wäre, hätte er dann die zwei Blagen einfach umgelegt? Was noch schlimmer war: Hatten die Beobachter seine Reaktion bemerkt?
An der Decke sank die leuchtende Zahl um zehn Punkte, und diese Tatsache missfiel ihm mehr als der Umstand, dass er die Kinder hätte abschlachten können. Wäre Nathans von ihm enttäuscht? Er wollte den Mann nicht im Stich lassen.
Nathans hatte Jones dafür eingeteilt, das erste Ermittler-Team für die »Nicht betreten«-Rasenflächen zu leiten. Der Mann ordnete an, dass er die Dienste eines Online-Datenbankspezialisten in Anspruch nehmen konnte oder, wenn eine verfügbar sein sollte, sogar von einer der kostbaren Schnittstellen der Gilde. Mit seinem eigenen Onlinezugang wurde er plötzlich von Stufe Vier auf Stufe Sieben hochgesetzt und Jones konnte mehr Detail in den Datenbanken durchsuchen, die ihm zuvor verwehrt gewesen waren, nur hatte er mit dem Internet einfach zu wenig Erfahrung. Daher war es für ihn eine Herausforderung, seinen Wert als Elite-Gardist zu beweisen. Er suchte nach einer rationalen Erklärung für die Existenz der Desintegrator-Flächen, und Nathans wollte herausfinden, was seinem flüchtigen Diener Danal passiert war.
Jones verfluchte sich dafür, sich besonders in diesem Moment von solchen Gedanken ablenken zu lassen. Eine Unruhe ging durch die holographische Darstellung der Menschenmenge, aber obwohl er sich nach links und rechts drehte, konnte Jones die Quelle nicht identifizieren. Dann sah er in einiger Entfernung einen Diener laufen. Menschen in der Menge drehten sich, konzentrierten sich auf den Diener und zeigten auf ihn, ließen ihn nicht durch.
Jones erstarrte, fragte sich, ob dies ein sich wiederholender Albtraum sein konnte. Nathans hatte wahrscheinlich absichtlich diese Simulation gewählt. Nein, Jones würde den Mann nicht im Stich lassen.
Entschlossen zog Jones seine Waffen, ein Elektroschock-Gewehr in einer Hand und eine Schnellfeuerpistole in der anderen. Er wusste, das Elektroschock-Gewehr würde nicht gut funktionieren, wenn der Diener näher käme, aber Jones hoffte darauf, ihn vorher abzufertigen.
Er hob die Projektilwaffe hoch, zielte damit auf das laufende, graugekleidete Ziel. Der Diener sah zu ihm, gaffte ihn an – und Jones feuerte, ohne zu zögern. Je weniger er zögerte, umso größer würde seine Punktzahl ausfallen. Während er den Trigger zog, sah er die holographischen Bilder von Palmen, deren Blätter wie zerfetzte Besen im Wind flattern. Der Computer würde Faktoren wie simulierten Wind und eine Verzerrung der Wände mit berechnen.
Das Geschoss verfehlte sein Ziel und schlug in einen Fußgänger ein, der gerade dabei war, den Diener zu packen. Jones hörte, wie sich der Score veränderte, und er hob die Waffe erneut, um wieder zu feuern, ehe er aufblickte.
Zu seiner Überraschung war der Score um zwanzig Punkte nach oben geklettert, und das, nachdem er versehentlich den Fußgänger niedergestreckt hatte. Er schoss erneut, diesmal traf er den Diener an der Schulter. Der Diener schwankte, war verletzt und hatte Probleme damit, sich zu orientieren. Jones gab ein anderes Projektil frei und begann, seine Füße zu bewegen, als würde er dem Diener entgegenlaufen.
Der Computer wechselte automatisch die illusorische Perspektive. Das Opfer fiel auf den Gehsteig, während sich die anderen Passanten davorzwängten.
Ein zweiter Diener erschien, rannte von der Gegenseite des Simulators. Viele aus der Menge drehten sich plötzlich um, aber beinahe die Hälfte von ihnen versammelte sich als Gruppe um Jones und wirkte verärgert wegen des niedergestreckten Fußgängers.
Jones drehte sein Elektroschock-Gewehr dem herankommenden Mob entgegen und mähte jeden nieder, der seinem Schuss auf den zweiten Diener im Weg stand. Wieder wuchs sein Score an. Mit einem sicheren Schuss feuerte er noch einmal mehr, lähmte dabei den Arm des aufsässigen Dieners. Der weibliche Diener ließ das metallische Equipment, das er trug, fallen und begann, verzweifelt davonzulaufen.
Ein dritter Schuss, doch diesmal schleuderte es den Diener nach vorne, der sich immer noch zu bewegen versuchte, aber durch die gelähmte Hüfte nicht vorwärtskam. Jones schickte drei explodierende Geschosse hinter ihm her.
Sein Score war weiter nach oben geklettert. Er hatte seinen bisherigen Rekord geschlagen! Der Computer verharrte bei den Bildern der toten, unschuldigen Fußgänger, die ihm im Weg gestanden hatten. Unschuldig? Jones erlebte noch einmal die Bilder seines eigenen Albtraums der herumtastenden, kratzenden, zerreißenden Hände des Mobs, der ihn zu vernichten versuchte, während Danal in einiger Entfernung verschwand. Unschuldige? Jeder dieser Fußgänger konnte mörderisch werden, ein Anstifter des Mobs.
Jones zog das Elektroschock-Gewehr im Halbkreis um sich herum, schoss die sich nähernde Mengen zurück, bis die Ladung der Waffe zu stottern begann und ihn zum Aufhören zwang. Die übrigen Fußgänger hielten inne, der Mob wirkte überrascht durch seine Demonstration der Kraft.
Jones atmete einen langen und schweren Seufzer aus und begutachtete die Passanten, fragte sich, ob die Simulation vorüber war. Die Zeit musste bald um sein. Aber dann bemerkte er sechs weitere Diener, die aus Gassen und Eingängen geschlendert waren; sie hielten inne und sahen ihn gedankenverloren an.
Versuchsweise hob Jones seine Taschenbazooka und erschoss einen von ihnen. Sie waren immerhin in einer Simulation. Ein Punkteanstieg erschien auf der Anzeige. Vor Erstaunen feuerte Jones wieder. Zwei weitere Diener fielen, zerbrachen regelrecht auf dem Asphalt in große Stücke ihres zerrissenen Fleisches, die von klarem, synthetischen Blut trieften. Wieder bekam Jones einen ansehnlichen Bonus von Punkten.
War es das, was er tun sollte? Bildete Nathans ihn dazu aus, auf Diener zu feuern? Jones senkte die Waffe, widerstand dem offensichtlichen Trick. Was machte das für einen Sinn? Welchem Zweck diente es?
Er schaute sich die gefallenen Diener an. Zwei weitere waren dazugekommen, nahmen ihren Platz ein, und die anderen drei Diener begannen, fortzuschlurfen, um ihre Jobs zu erledigen. Wollte Nathans, dass er all diese Diener erschoss? Jones‘ Score blickte, als bettelte er ihn an, weitere Punkte hinzuzufügen.
Eigentlich waren die Diener der Kern allen Übels bei Jones‘ Problemen gewesen. Je mehr er diese Möglichkeit in Betracht zog, desto mehr dachte er daran, dass das Erschießen doch gerechtfertigt war.
Jones hätte fast sein Leben in den Straßenunruhen verloren, nachdem der aufsässige Diener Danal geflohen war und Jones deswegen schon offiziell für tot erklärt worden war (wodurch er allerdings auch befördert worden war, so dass es eigentlich nicht zählte). Danal. Ein Diener.
Und Julia? Er hatte gehofft, mit ihr glücklicher zu sein, als er sie gekauft hatte, aber sie war seiner Güte, seiner Liebe, seiner Hingabe mit totaler und vollständiger Apathie begegnet … ohne einen Funken Menschlichkeit. Klar, Julia war ein Diener gewesen, aber mit der Fürsorge, die er ihr gegeben hatte, hätte sie doch etwas zeigen können? Hatte Danal nicht diesen wilden Blick in seinen Augen gehabt? Warum hatte Julia ihn nicht gehabt? Warum konnte sie seine Aufmerksamkeit nicht erwidern? Julia. Ein Diener.
Und während der Tage, in denen er nach Anbruch der Ausgangssperre Patrouille gelaufen war: Was war mit dem anderen Diener gewesen, dem weiblichen, der das Equipment gestohlen und zu fliehen versucht hatte? Wegen ihr durfte Jones den ruhigen Nachtdienst nicht mehr durchführen und war versetzt worden.
Diener.
Und der Hass und die Unruhen der Arbeitslosen, die wegen der Diener ihre Arbeit nicht mehr verrichten konnten – waren sie nicht der Grund dafür gewesen, dass sein Freund, Fitzgerald Helms, tot war?
Die Wunde saß tief. Diener.
Er rächte sich, hob wieder seine Taschenbazooka und feuerte auf die holographische Menge mit der neugeborenen Genauigkeit des Zornes und einer irren Rache. Alle fünf übrigen Diener fielen in schneller Folge. Bebend knallte Jones die leere Waffe in sein Holster, als die Zeit ablief.
Die Szene an den Wänden fror ein, aber er sah weiterhin die Bilder der zerstreut liegenden Dienerleiber. Er entspannte sich. Er bezweifelte, dass er diesen Spielstand jemals schlagen würde. Ein blinkendes Licht erschien vor seinen Augen.
Game over