Kapitel 16



Danal lief aus einem Instinkt heraus weiter. Die Hovercars der Soldaten flogen über ihn hinweg, verschwanden hinter der Gebäudelandschaft, in der Nähe der Resurrection Inc. Wenn er sich konzentrierte, konnte Danal immer noch den Klang der verärgerten Meute aus den Hintergrundgeräuschen der Stadt heraushören.

Danal fragte sich, wann die Soldaten ihr Special-Tracking-Team rausschicken würden, um ihn aufzuspüren. Oder würden sie sich einfach nur ärgern? Würden sie annehmen, dass er tot war? Hatten sie überhaupt bemerkt, dass Danal die Ursache für den Tumult gewesen war?

Der Diener stolperte in eine Wohnsiedlung aus hohen Gebäuden voller Eigentumswohnungen. Die Straßen – allesamt mit Straßennamen von längst ausgestorbenen Wildblüten versehen – schlängelten sich hindurch, in einem bewussten Versuch, die Illusion von einer geometrisch angeordneten Stadt zu zerstören.

Danal wünschte sich, durch die Gebäude gucken zu können, die geschwungenen Wege in gerader Linie entlangsehen zu können. Julia war irgendwo dort. Er hatte sie gesehen – als Diener, so wie er einer war. Aber war das Julia gewesen? Oder war die echte Julia fort und hatte sie nur ihren wandelnden Körper zurückgelassen? Er konnte sich daran erinnern, wann er sie zuletzt gesehen hatte – die echte Julia. Seine Erinnerungen waren zurückgekehrt, er musste nur danach suchen. Sofern er bereit dazu war, den Schmerz zu ertragen …

Sie hatte ihm gegenübergesessen in dem Speisesaal der Van-Ryman-Villa, hatte beide Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt. Sie hatten gelacht. Es hatte als Diskussion begonnen, aber bald schon war das Gespräch zu einfacheren Themen übergegangen.

Sie redeten und tranken billigen Rosé Champagner – Julia mochte billigen Rosé Champagner. Ihre beiden neuen Diener, ein Mann und eine Frau, warteten aufmerksam vor der Tür des Speisesaals. Danal – der echte Vincent Van Ryman – hatte die Diener gekauft, um so mehr Zeit mit Julia verbringen zu können, zumal er ja bereits all seine Aktivitäten bei den Neo-Satanisten aufgegeben hatte. Danal/Van Ryman hatte kaum bemerkt, dass die Augen der Diener viel zu aufmerksam waren, dass sie zu sehr dachten.

Julia kicherte, aber dann hörte sie abrupt auf zu lachen. Van Ryman blickte auf und bemerkte, wie unscharf der Raum geworden war. Auch stellte er fest, dass der Champagner den schrecklichen Nachgeschmack einer Chemikalie aufwies. Die Welt verblasste, und um ihn herum wurde es schwarz …

Er war in der künstlich feuchten, steinernen Sabbat-Kammer erwacht, die sich unter der Villa befand. Er stand gefesselt an der Wand – das alles sollte gothicmäßig und melodramatisch wirken. Francois Nathans war dort, aber Julia nicht.

»Julia? Was ist mit Julia passiert?«

Ein ironisch böses Lächeln legte sich in Nathans Gesicht. »Oh, wie edel von dir, Vincent, zuerst an die arme Lady zu denken. Doch sie ist bereits tot – liegt auf der Straße und ist aus dem Netz gelöscht worden. Du dagegen bist ein PR-Gag. Unser erster Verräter des Glaubens. Ich hätte von keiner besser vereinigenden Kraft träumen können, selbst wenn ich es versucht hätte. Wir werden einen besonderen Sabbat zu deinen Ehren veranstalten, Vincent, und niemand wird einen Unterschied bemerken … weil du nicht mehr du bist.« Nathans lachte. »Oh ja! Wir werden das hier richtig ausschlachten.«

Vincent Van Ryman zog an seinen Ketten, fühlte die Kälte und versuchte sein Gesicht zu berühren …

Danal schlug die Tür seiner schreienden Erinnerungen zu, verschloss sie. Für später. Bis es für ihn sicher war.

Der Diener fand wieder zu sich und lief weiter durch die gewundenen Straßen, in denen die Hochhäuser mit den Eigentumswohnungen einander gegenüberstanden. Er blickte auf die verwitterten Zäune der glücklichen Bewohner in der ersten Etage, die ihre eigenen Minigärten leicht eingezäunt hatten, so dass sie nebeneinander wie Bienenwaben aussahen. Die Bewohner der oberen Etagen mussten dort oben einfach mit ihren kleinen Terrassen zufrieden sein, wenn sie auf den Boden herabsahen.

Sie waren zwar nicht zu sehen, aber Danal hörte durch ein geöffnetes Terrassenfenster die Rufe von zwei Männern und einer Frau, die über etwas in einer Sprache redeten, die er nicht verstehen konnte. Auf einer anderen Terrasse, lag ein älteres Ehepaar auf beschmutzten Liegen, bewegungslos nebeneinander ausgestreckt.

Danal fühlte sich erschöpft. Die Welt um ihn herum pulsierte. Zu viel geschah auf einmal. Sein Kopf brummte, da er von den vielen Ereignissen der Realität geradezu erschlagen wurde, die ihn in einer so kurzen Zeit von einem normalen, gehorsamen Diener in einen Abtrünnigen gemacht hatten.

Er lehnte sich gegen einen Zaun, suchte Schutz neben einem großen Müllbehälter, der hinter zwei Wohngebäudetürmen stand. Einfach einen Moment ausruhen …

Danal nahm einen tiefen Atemzug und ließ die Albträume an sich heran. Zuerst hatte er Angst, aber er öffnete diese Tür schnell und ließ sie sofort wieder ins Schloss fallen, erlaubte nur einem einzigen Gedanken – dem letzten Gedanken – herauszukommen.

»Rah-Hyuun!«

»Rah-Hyuun!«

Der Ritualgesang erfüllte die Luft wie das Dröhnen einer Lokomotive, verstärkt durch die Menge an Lautsprechern in der Gruftdecke.

Vincent Van Ryman fühlte sich wie benommen, und er stolperte. Im Inneren seines Kopfes fühlte es sich wie Watte an und sein Sichtfeld hatte sich auf die Breite eines Bleistifts reduziert. Um ihn herum waren Roben – weiße, rote, schwarze – die für die einzelnen Ränge der Messdiener, Aufseher der Messdiener und Hexenmeister standen, mit den jeweils verschiedenen Erkennungszeichen, um die Untergruppierungen von Autorität und Befehlsgewalt innerhalb der Neo-Satanisten-Gruppe anzuzeigen.

Die Gruft wurde von Kerzen und roten Stroboskoplichtern beleuchtet, die eine hypnotische Atmosphäre für das Ritual schufen, seinerseits durch geruchlose, halluzinogene Drogen verstärkt, die durch die Luft wehten.

Danal/Van Ryman wusste, dass man ihn verdammt hatte, dass er geopfert werden würde. Er war zwar nicht gefesselt oder wurde auch nicht festgehalten, aber er hatte keine Kontrolle mehr über Arme und Beine. Es kostete ihn all seine Konzentration, stehen zu bleiben oder vorwärts zu stolpern, wenn ihn jemand dazu anwies.

Nathans war nicht dort; Nathans nahm nie an irgendwelchen Ritualen teil. Seine Hände blieben sauber. Er hielt sich außerhalb der Sichtweite. Aber als Vincent Van Ryman – der ehemalige Hohepriester der Neo-Satanisten – sich gegen ihn wandte, hatte Francois Nathans an unsichtbaren Schnüren gezogen, Räder in Bewegung gesetzt, sich als furchtbarer Feind erwiesen.

Das Ritual ging weiter, aber Vincents Gehirn hatte den Gang rausgenommen und schleppte sich nur noch in einem sehr reduzierten Tempo dahin. Er hatte den sakralen Gesang tausendmal zuvor dirigiert, aber er konnte sich in diesem Moment an kein einziges Wort erinnern, das zum Hohen Sabbat gehörte. Außer dass er wusste: Es starb jemand zum Höhepunkt des Hohen Sabbats.

Und während er sich daran erinnerte, fühlte er, wie Hände die taube Haut seiner Arme umschlossen und ihn sanft aber direkt mit sich schleppten. Männer in roten Roben führten ihn zum aus Beton gegossenen Steinaltar, in den verschiedene Zeichen und Symbole eingeritzt worden waren. In einer Ecke seines Geistes erinnerte er sich daran, viele dieser Symbole selbst entworfen zu haben.

Van Ryman konnte keinen Widerstand leisten. Er hob langsam seine Arme, um sich zu wehren, aber schon fühlte er ein Stechen in seinem Hals. Einer der Hexenmeister, die ihn zum Altar führten, nahm seine Hände weg. Als er das silberne Glitzern einer Nadel sah, die in Curare eingetaucht worden war, wusste Vincent, dass es nicht lange dauern würde; die letzten Zuckungen seiner Muskeln lösten sich schließlich.

Er lehnte sich zurück, war kaum in der Lage, die raue Oberfläche des Altars auf seinem nackten Rücken zu fühlen. Er starrte an die Decke – ursprünglich das Ende eines tiefen U-Bahn-Tunnels, der mit Papiermache-Stalaktiten dekoriert worden war.

»Rah-Hyuun!«

»Rah-Hyuun!«

Ein Schwindelanfall übermannte ihn, als das Singen seinen Höhepunkt erreichte. Er konnte sich nicht bewegen, geschweige denn seinen Kopf herumdrehen. Es bedeutete höchste Anstrengung, einfach mit den Augen zu blinzeln.

Dann hörte das Singen abrupt auf. Der auf Band aufgenommene Chor erstarb, und die anwesenden Neo-Satanisten stoppten ihren Gesang nur einen Moment später. Die beschwichtigende Stille hämmerte auf ihn ein.

In seinem Sichtfeld erkannte er wie in einem sich selbst bewegenden Spiegel sein eigenes Gesicht, sein gestohlenes Gesicht, mit einem fanatischen, selbstsicheren, triumphierenden Ausdruck. Der echte Van Ryman konnte eine feine Linie mit kaum sichtbaren roten Nadelstichen am Kiefer des Betrügers erkennen. Dann bemerkte er den Widerschein von orangefarbenem Kerzenlicht der von einem breiten, mit Runen gekennzeichneten Opferdolch zurückschien – das Arthame.

Der Betrüger sprach die letzten Worte, den Segen des Hohen Sabbats, während er das Arthame nach unten stieß. »Asche zu Asche, Blut zu Blut; fahr zur Hölle für unser aller Gut!«

Van Ryman konnte nicht blinzeln; die Curare verhinderte sogar, dass er zucken konnte. Dunkelheit und Schmerz explodierten in seiner Brust, als die Klinge hineinfuhr.

Jetzt kehrte Danal aus seinen Erinnerungen zurück, keuchte, saugte die kalte Luft in seine Lungen wie ein lebendig Begrabener, der sich zur Oberfläche zurückgewühlt hatte. Diener schwitzten nicht – ihre Körpertemperatur war stark reguliert und machte daher Transpiration unnötig – aber er fühlte sich von emotionalen Nachwirkungen wie durchgespült.

Die Erinnerungen an den Hohen Sabbat brannten ihm an der Rückseite seiner Augen, doch der Schmerz nahm ab, wurde erträglicher. Die geistigen Schmerzen verblassten jedoch nicht, aber er lernte nach und nach, sie zu ertragen und mit seiner eigenen Vergangenheit klarzukommen. Er ging in die Mitte der geschwungenen Straße, ließ die Ketten seiner Vergangenheit hinter sich. Danal musste pragmatisch an die Situation herangehen.

Was sollte er jetzt tun?

Er konnte nicht mehr zurück. Er konnte auch niemanden um Hilfe bitten. Da war nur noch dieser Betrüger, der in Danals eigenem Haus wohnte und so tat, als wäre er Vincent Van Ryman. Doch da konnte er nicht hin. Der Doppelgänger hatte offensichtlich all das geplant, hatte den Diener durch ein sorgfältig geplantes Drehbuch geführt, und Danal hatte sich unabsichtlich wie eine programmierte Maschine verhalten.

Jetzt war Francois Nathans tot, getötet durch die Hände des Dieners. Etwas von dem geschlussfolgerten Schrecken verblasste, als sich Danal daran erinnerte, was Nathans ihm zu Lebzeiten angetan hatte. Aber Nathans war niemals dumm gewesen. Das Töten war zu vorsichtig inszeniert worden – geradezu so, als ob Nathans geplant hatte, Danals mörderische Wut heraufzubeschwören. Vielleicht hatte er sich zu sterben gewünscht … oder er hatte etwas anderes vor. Hatte er versucht, sich selbst umzubringen? Aber doch nicht Nathans. Gab es dort noch etwas anderes, etwas, das Danal noch nicht sehen konnte, sogar jetzt nicht, auch nicht mit wiederhergestellten Erinnerungen?

Der Diener bemerkte schließlich den Schmerz in seiner Schulter. Er drehte seinen Kopf und sah auf die gerissenen Fasern seines Overalls, wo Fleischfetzen aus der Wunde und wo Überreste an seiner Schulter herabhingen, da dort das Projektil eingeschlagen war. Klares, dickflüssiges SynBlut sickerte aus der Wunde.

Arzt. Medizinische Behandlung. Er musste repariert werden. Diener konnten sich nur schwer von alleine heilen. Das synthetische Blut enthielt Mikrothrombozyten, die sich auflösen konnten, um an der Haut zu gerinnen und damit kleine Lecke zu versiegeln, so wie auch einige Frostschutzmittellösungen mechanische Lecke verschlossen. Aber die Wunddichtungsfunktion im SynBlut war wenig effektiv, reichte zumeist nur für kleine Verletzungen. Wenn ein Diener zu stark beschädigt war, konnte der Eigentümer lediglich einen neuen kaufen.

Das langsame Heilen konnte für Danal zur größten Gefahr werden, konnte ihn ausbluten lassend, noch bevor er die Chance gehabt hätte, die Wunde zu schließen. Doch sogar in diesem Fall würde das SynHerz pflichtbewusst weiterschlagen, und der Mikroprozessor würde fortfahren, sein Gehirn zu steuern, wohingegen der blutleere Körper langsam ausbrannte.

Danal durchsuchte seine Erinnerungen, griff auf die ganz allgemeinen Informationen zu, die im Mikroprozessor gelagert waren, bis er die eingepflanzte Karte vom Metroplex fand. In seinem Kopf lokalisierte Danal das medizinische Zentrum, das am nächsten lag.

Der rote Fleck von Nathans‘ Blut prangte wie ein Werbebanner auf seinem Overall. Danal musste das Blut und seine Verletzung erklären. Er war sich noch nicht einmal sicher, ob ihn das Zentrum überhaupt behandeln würde. Er machte sich auf, stapfte die Straße hinunter, verlangsamte das Schlagen seines SynHerzes, um die Blutung zu reduzieren. Er würde sich später um die Erklärungen kümmern.