Kapitel 17



Zu der Zeit, als Danal im medizinischen Zentrum ankam, hatte seine Laune bereits wieder mittelmäßig starke Züge einer schwindelerregenden Euphorie erreicht. Er fühlte sich leicht wie Luft, leicht und blutleer. Die Welt um ihn bewegte sich langsam.

Die transplastischen Türen öffneten sich vor ihm, glitten gerade und geräuschlos über ihre Neochromschienen. Er schleppte sich hinein, dann verschwamm sein Sichtfeld. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, wie Löcher im Universum, die sich mal einschalteten und die bisweilen zu existieren aufhörten.

Mehrere Diener arbeiteten hinter der langen Theke des Schalters, tippten Information ein, trugen Kisten hin und her und packten Papiere und Versorgungsmaterial aus. Andere Patienten saßen in einem abgetrennten Wartebereich, der von hellen Plastikpflanzen umgebenen war, obwohl der Empfangsbereich selbst relativ leer erschien. Die Todesfälle aus dem Straßenkampf hatten offenbar noch keine Auswirkungen auf die medizinischen Zentren in der Nähe der Resurrection Inc. gehabt.

Danal schlurfte zum Schalter, versuchte zu sprechen, aber sein Hals war dafür zu trocken. Ein weiblicher Diener stand mit dem Rücken zu ihm, achtete aber nicht darauf, dass dort jemand stand. Eine der Neonlampen über ihm flackerte krampfhaft, als ob sie darum kämpfte, noch ein paar weitere Photonen auszuwerfen, bis sie von den Reparaturratten ersetzt werden würde.

Eine übergewichtige Krankenschwester (Techniker) kam aus einem anderen Korridor, um nach dem verwundeten Diener zu sehen. Ihr Haar war schwarz gefärbt und wirkte wie Plastik; ihr Gesicht wurde von so viel Schminke verdeckt, dass Danal bezweifelte, auch nur einen Quadratzentimeter ihrer echten Haut sehen zu können. Und ihre Hände steckten in dünnen Chirurgenhandschuhen.

Die Krankenschwester (Techniker) schaute mit einem verblüfften, erstaunten Gesichtsausdruck auf ihn. Getrocknetes Blut von Francois Nathans auf Danals Overall und das eigene farblose SynBlut des Dieners verdunkelten den Stoff auf seiner Brust und um die ausgefranste Wunde. Sie sprach mit einer dünnen Stimme, die er bei ihrem matronenhaften Körper nicht erwartet hätte. »Was willst du hier, Diener? Hat es einen Unfall gegeben?«

Danal benutzte den letzten Rest seiner geistigen Kraft, um auf seine Umgebung zu achten. Er machte ein unschuldiges Gesicht und antwortete ihr mit ruhiger Stimme: »Es wurde mir befohlen, hier herzukommen, um geheilt zu werden.«

Da sie offenbar noch nicht überzeugt war, stand die Krankenschwester (Techniker) einfach nur da. Dann ging sie zu ihrer gewohnten Routine über und trat hinter den Tresen zurück, um ein Online-Terminal zu benutzen. Nachdem sie ein paar Abbruchtasten bedient hatte, rief sie einen Eingabeschirm auf und besah sich Danal geradezu professionell.

»Okay, wie bist du verletzt worden?«

Danal antwortete automatisch mit einer zuvor selbst programmierten Antwort, die er in den vorderen Sektionen seines Gehirns gespeichert hatte. »Straßenunruhen. Eine Kugel hat mich zufällig getroffen. Der Soldat befahl mir, hierherzukommen.« Seine Diener-Programmierung rebellierte, versuchte die Lüge zu bestreiten und die reine Wahrheit wiederzugeben, aber Danal gelang es, dieses zweite Ich zu kontrollieren.

»Wie heißt deine ID? Wer ist dein Master?«, fragte sie mit einer flachen, routinierten Stimme.

Danal wich zurück und wollte sein vorübergehendes Zögern mit einem Seufzer des Schmerzes zu überdecken. Vincent Van Ryman war nicht sein Master. Vincent Van Ryman war noch nicht mal echt – nicht mehr. Ein Betrüger verfügte jetzt über diesen Namen und dessen körperliche Erscheinung, aber der wirkliche Van Ryman war tot, lebte lediglich wieder als Simulakrum aus verschleiertem Fleisch und reanimierten Erinnerungen. Danal konnte ihr seine ID nicht nennen. Das wäre wie ein Leuchtfeuer gewesen, für jeden, der ihn suchte, ein Signal für die Soldaten und die Schutzengel, um ihn zu lokalisieren und um ihn ein für alle Mal zu erledigen.

Aber die schwindlige Schwärze schwamm vor seinen Augen, als bestünde sie aus Haiflossen, die durch das Wasser seines Bewusstseins schnitten. Sein SynHerz gab nach, würde ausbrennen, sobald die Blutgefäße trocken liefen. Danal würde sich nicht um die Zukunft kümmern können, wenn er die Gegenwart nicht überlebte.

»Vincent Van Ryman. Mein Master ist Vincent Van Ryman«, sagte er schwach. Er begann ein paar Ziffern seiner ID zu nennen, bis die Krankenschwester (Techniker) die alle Information hatte. Danals Gelenke gerieten völlig durcheinander. Aus irgendeinem Grund wackelten seine Knie und er sank gegen den Tresen. Er wurde seltsam an den Moment seiner Wiedergeburt erinnert, als er aus dem Tank aufgetaucht und erwacht war, unfähig, seine eigenen Reflexe zu kontrollieren, tropfend, und Rodney Quick hatte vor ihm gestanden und sich über ihn lustig gemacht.

Aber Rodney Quick ist tot. Ich habe ihn getötet.

Ein Unfall.

Danal kam teilweise wieder zu sich, als die Krankenschwester (Techniker) nach einem menschlichen Krankenpfleger brüllte. Er fühlte den unsanften Griff eines Mannes an seiner Taille und an seinem unbeschädigten Arm. Die Worte, die sie miteinander wechselten, klangen nur dumpf an seinen Ohren, aber er konnte sie vage verstehen.

»Hilf mir dabei, ihn in einen der Desinfektionsräume zu bekommen. Geh danach in die Verbandskammer und hol mir ein paar Extraflaschen von dem SynBlut.« Krankenschwester (Techniker)

»Kann er nicht zu einem Reparaturzentrum – oder so – gehen? Ich dachte, wir reparieren hier keine Diener.« Pfleger

»Dann hältst du das also für eine gute Vorgehensweise.« Krankenschwester (Techniker) mit Sarkasmus in der Stimme

Aber, als Danal versuchte, seine Beine zu bewegen, versuchte, dabei zu helfen, sein eigenes Gewicht zu tragen, griff die Dunkelheit nach ihm, um ihn zu verschlingen. Er taumelte, und verlor die Kontrolle über die Tür seiner Erinnerungen.

Ungezügelt überschwemmten ihn alle toten Erinnerungen, während er schutzlos in die Ohnmacht rutschte …

-

»Ich möchte eine Religion gründen. Da gibt es immer Geld«, hatte Francois Nathans gesagt.

Es war nur der Anfang eines Gesprächs, ein reiner Gedankenaustausch. Aber es veränderte die Leben von Vincent Van Ryman, von seinem Vater Stromgaard Van Ryman und von Nathans selbst.

Der junge Vincent war zu dieser Zeit achtzehn Jahre alt. Er war gegangen, da es an der Tür geklingelt hatte, aber er wusste, dass es Nathans war, noch bevor er die Tür geöffnet hatte. Draußen hatten die muskulösen und stets wachsamen Diener-Leibwächter ihre strategischen Positionen um das Van-Ryman-Haus bezogen. Die Leibwächter hätten die meisten Menschen ohne weiteres wieder rausgeschmissen – bei Nathans war das anders.

Mit der wachsenden Gruppe der Arbeiteropposition, die sich gegen die Diener und Resurrection Inc. formierten, hatte es mehrere terroristische Angriffe auf die Villa selbst gegeben. Vielleicht zeigte das alleinstehende, private Gebäude zu offensichtlich, wie viel Reichtum und Erfolg Stromgaard Van Ryman damit erreicht hatte, Arbeitnehmer auf die Straße zu werfen. Nathans besaß mehrere Anwesen, keins davon besonders vornehm und alle ziemlich versteckt gehalten.

Vincents Mutter war fünf Jahre zuvor getötet worden, ermordet, während sie mit ihrem Sohn durch die Straßen gegangen war. Sie war neben ihm hingefallen, hatte noch versucht, mit dem halben Dutzend Einschusslöcher in ihrem Körper weiterzugehen. Dem dreizehn Jahre alten Jungen wurde klar, wie viel Glück er gehabt hatte, zu überleben, und sich fragte, ob er ebenso ein Ziel sein könnte. Er erlebte Zorn und Betroffenheit, aber es war schwer für ihn, tiefe Trauer zu empfinden. Seine Mutter hatte Vincent immer als Last betrachtet, so wie Stromgaard es jetzt tat.

Vincent führte Francois Nathans in den gut beleuchteten vorderen Korridor der Villa, lächelte, als ihm der große Mann auf die Schulter klopfte. »Hallo, Vincent.«

Obwohl die Dämmerung angebrochen war, hatten sie noch einige Stunden, ehe sich Nathans um die Ausgangssperre der Soldaten Sorgen machen musste. Die Silhouetten der bewegungslosen und bedrohlich wirkenden Diener-Leibwächter vor dem Haus zeichneten sich in der feuchtwarmen Stille des Sonnenuntergangs ab.

Nathans hatte sich diesmal ein silbernes Haarteil ausgesucht; der ältere Mann trug silberne Haarteile stets dann, wenn er an etwas Wichtiges dachte.

»Wo ist dein Vater?«, fragte Nathans ihn, als ob er es nicht selbst wüsste.

»Im Studierzimmer, irgendwelche Online-Spiele spielen.« Vincent versuchte, seinen unterschwelligen Hohn nicht ganz so durchscheinen zu lassen. Er hasste es, wenn Stromgaard seine Zeit verschwendete – und die Möglichkeiten, die das Internet bot, waren grenzenlos –, indem er ausschließlich Unterhaltungsangebote nutzte.

Vincent hatte dabei zugesehen, wie sein Vater langsam immer weiter in den Hintergrund der laufenden Geschäfte von Resurrection Inc. gerückt war. Da die Arbeit immer komplexer wurde, war ein fitter Geist viel wichtiger, als jemand, der nur Ressourcen verschieben konnte (denn Vincent glaubte, dass das alles war, was sein Vater wirklich konnte).

Nathans hatte mehr Verantwortung auf sich genommen. Während Stromgaard mit schlechter Laune darüber schimpfte, dass Nathans das an sich riss, was rechtmäßig ihm gehörte, ignorierte der älterer Van Ryman seinen Sohn.

Vincent hatte sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt und sich dabei trainiert, die Bedeutung von Unterhaltungsmedien für sich zu entdecken. Er war sehr erfolgreich im Durchsuchen und Programmieren von Datenbanken geworden. Er wurde immer vertrauter mit dem Netz selbst, fand wenig, das er nicht vollbringen konnte, sofern er sich darauf konzentrierte. Er erschuf mehrere falsche Identitäten im Netz – keine schwierige Aufgabe, da Mitglieder von irgendwelchen Interessengruppen oft unter Pseudonymen auftraten, um für das Privatleben anonym zu bleiben. Vincent hatte fünf unterschiedliche fiktive Leben entworfen, die ihm die Möglichkeit gaben, die Gesellschaft aus diesen unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten.

Nathans schüttelte seine Jacke aus und warf sie über den Arm, während er durch die Halle zu Stromgaards Studierzimmer hinunterschritt. Im Hintergrund konnte Vincent einige der elektronischen Soundeffekte hören, die zu Stromgaards idiotischen Spielen gehörten. Er hörte eine rasche Folge von Pieptönen, dann ein Zischen, und dann ein leises Fluchen seines Vaters.

Nathans wartete vor der Tür des Studierzimmers und lächelte schief. Er zeigte Vincent eine verschwörerische Grimasse, ehe er in den Raum eintrat.

Stromgaard war es keineswegs recht, dass dieser andere Mann zugegen war. Der ältere Van Ryman schien stets nach einer Möglichkeit zu suchen, wie er Nathans verärgern konnte, aber Nathans ignorierte jeden seiner Versuche, was Stromgaard sogar mehr beunruhigte. Manchmal beschämte die kindische Haltung seines Vaters Vincent sogar.

Vincent machte sich auf den Weg nach oben, wo er die meiste Zeit verbrachte. Er nahm niemals an ihren Diskussionen teil, aber diesmal hielt er inne und trat näher an das Studierzimmer heran, wo er Nathans‘ Eröffnungsworte hörte.

»Ich möchte eine Religion gründen. Da gibt es immer Geld.«

Stromgaard antwortete auf den Vorschlag mit Schweigen, aber Vincent konnte spüren, dass Nathans die Aufmerksamkeit seines Vaters gewonnen hatte. Der ältere Van Ryman wartete darauf, dass er fortfuhr.

»Das Sprichwort sagt: Religion begann, als der erste Betrüger dem ersten Narren begegnete. Wir könnten davon profitieren.«

»Warum?«, fragte Stromgaard. »Hast du nicht genug Geld? Hast du nicht genug Geld, um die ganze Resurrection Inc. allein am Laufen zu halten?«

Nathans lächelte, wich aber der angedeuteten Anschuldigung aus. »Es ist eigentlich nicht das Geld, Stromgaard. Ich dachte mehr daran, dass du etwas tun kannst. Du gibst … deine Verantwortung für das Unternehmen ja nach und nach auf. Offensichtlich brauchst du etwas anderes, das dir die Zeit vertreibt.« Er zeigte auf den Online-Bildschirm, auf dem noch Stromgaards Spielstand blinkte. »Aliens abballern? Du kannst doch mehr als das.«

»Ich bin nicht an Religion interessiert«, sagte der ältere Van Ryman. »Und ich fühle mich im Augenblick nicht gerade wie ein Messias.«

»Nein«, bestätigte Nathans, ging im Zimmer herum und dachte laut nach. »Messiasse sind … langweilig. Von denen sind auch schon so viele erledigt wurden, wie du weißt. Ich hatte etwas Größeres im Sinn … etwas völlig Neues.«

Stromgaard würgte ein ungläubiges Lachen hervor. »Etwas Neues? In einer Religion? Dann viel Spaß dabei, die Idee unters Volk zu bringen.«

Nathans setzte sich auf den gepolsterten Stuhl und goss sich ein Glas des Glenlivet ein, den Stromgaard stets trank. Vincent schlürfte selbst ab und zu ein kleines Gläschen des Scotchs, hauptsächlich wenn er versuchte, am Gespräch der anderen teilzunehmen, aber er selbst mochte das scharfe Aroma und den Abgang, der über Stunden in seinem Rachen verweilte, nicht besonders.

»Gut«, fuhr Nathans fort, »das ist es, was ich heute Abend mit dir besprechen wollte. Ein bisschen Brainstorming, so wie wir es früher hatten, als du nicht so traurig herumgesessen hast.«

»Ich habe im Augenblick keine Ideen. Komm einfach in ein paar Tagen wieder.« Stromgaard drückte ein paar Tasten auf seiner Online-Tastatur, um ein neues Spiel zu starten.

Vincent kam in das Studierzimmer, und begann zu sprechen, bevor ihn die beiden älteren Männer wahrgenommen hatten. »Ihr könntet online eine System-Analyse laufen lassen. Ihr nehmt den Systemaufbau der aktuell angesagtesten Religion, analysiert die derzeitige Entwicklung in Bezug auf fortlaufende Ereignisse und gesellschaftliche Trends.«

Sein Vater wandte sich vom Bildschirm ab und warf ihm einen bösen Blick zu. »Vincent, geh auf dein Zimmer.«

»Nein«, ging Nathans dazwischen. »Ich habe gerade Lust auf neue Ideen.«

Ohne nachzudenken, machte Vincent weiter. »Ich hab zufällig mitgehört. Verzeihung. Aber das Internet könnte die Religionen der ganzen Welt analysieren. Und wenn man die wichtigsten Punkte miteinander in Wechselbeziehungen setzt, sollte es ein Leichtes sein, neue Anhänger zu gewinnen. Und wenn wir es dann noch mit der heutigen Gesellschaft in Verbindung bringen – schaffen wir damit etwas Neues, aber mit all diesen guten Dingen, die es früher gab.«

Nathans grinste ihn mit glänzenden Augen an. Vincent fühlte, wie ihm warm wurde und wie er errötete, aber behielt für sich, dass er etwas stolz auf sich war. Stromgaard wandte sich vom Online-Bildschirm ab und ließ die Video-Raumschiffe einen Moment alleine spielen, bevor sie alle einander vernichteten.

»Das könnt ihr so nicht machen«, sagte sein Vater. »Das ist viel zu kompliziert. Wir würden eine Armee von Superhackern und Programmierern brauchen.«

»Gib mir zehn Minuten«, sagte Vincent und setzte sich an die Tastatur. Er beendete das Spiel und klickte sich durch das Menü. Er hielt noch einmal inne und konnte nicht widerstehen, seinem Vater zu sagen: »Mit dem Internet kann man mehr Dinge tun, als nur zu spielen. Du würdest das verstehen, wenn du mehr Zeit damit verbrächtest, es zu erkunden.«

Er setzte einige Befehle in Gang und begann, eine große, gebündelte Datei zu erstellen. »Ich werde viele Basisfragen einem Wahrscheinlichkeitstest unterziehen, und alles was keinen Sinn macht, fliegt sowieso raus.«

»Ah, nein, Vincent, du schießt über das Ziel hinaus«, sagte Nathans. »Ich will doch gar nicht, dass es glaubhaft ist – nicht im Geringsten. Es soll einem größeren Zweck dienlich sein. Ich will unsere Religion lächerlich machen, weil ich keine intelligenten Menschen in die Irre führen will, noch nicht einmal die mit einem Quäntchen Hirn. Ich will eine selektierende Falle auslegen, etwas, auf das nur die wirklich Dummen hereinfallen werden. Intelligenz ist alles, was wir bekommen haben, um uns von anderen Tieren abzugrenzen – das wisst ihr.«

Vincent blinzelte und nickte, aber Nathans schien sich gerade warmzureden. »Die bekannten Religionen befinden sich an der Wurzel des Problems. Sie erzählen den Menschen, nicht an sich selbst zu denken, denn sonst würden sie ihr Ewiges Seelenheil verlieren. In dieser Welt gibt es nur zwei Sorten Menschen – intelligente Menschen ohne Religion und religiöse Menschen ohne Intelligenz. Ein arabischer Dichter aus dem zehnten Jahrhundert hat das geschrieben.«

»Niemand wird dir glauben«, sagte Stromgaard mit einer selbstsicheren Stimme.

»Die Aufzeichnungen seit Anbeginn der Menschheit sagen etwas anderes. Denk nur mal an all die Menschen, die trotz sichtbarer Gegenbeweise mit magischen Äpfeln und einer sprechenden Schlange die Erschaffung der Welt erklären wollen.«

»Ach, hör doch auf damit, Francois«, seufzte Stromgaard. »Du bereitest mir noch Kopfschmerz. Wir sind daran einfach nicht interessiert.«

»Lass mich meine Sachen machen! Ich habe meine Hausarbeiten gemacht, weil ich beabsichtige, etwas daraus entstehen zu lassen. Wenn ihr mir helfen wollt, dann müsst ihr versuchen, meine Erklärungen zu verstehen.«

»Wer sagt, dass wir dir helfen wollen?«

»Machst du dir keine Gedanken darüber, dass nur weil die Bibel das sagt, die Sonne würde sich um die Erde drehen, die religiösen Fanatiker herumgerannt sind, um Astronomen zu verbrennen, die das Gegenteil beweisen wollten? Doch so ist es passiert. Würdest du an eine Erzählung glauben, in der ein Mann von einem Fisch verschluckt wird, der ihn drei Tage später aber wohlbehalten an Land ausspuckt, obwohl du genau weißt, dass sich die Salzsäure im Magensaft in ein paar Sekunden durch die Tischplatte fressen würde?«

Vincent hielt für einen Moment an der Tastatur inne, um zuzuhören, aber er machte dann eifrig mit seiner Arbeit weiter, zumindest, um mit seinen Online-Fähigkeiten angeben zu können.

»Es geht immer so weiter, aber lass uns gar nicht über die Juden-Christen reden«, führte Nathans weiter aus. »Was ist mit dem Islam? Ein Gott, allwissend und allgegenwärtig, soll dennoch ein Problem mit der Feinabstimmung seiner Ohren haben? Er kann deine Gebete nicht hören, außer dein Kopf ist auf ein besonderes Breiten- und Längenmaß ausgerichtet? Wie sollte irgendjemand so etwas glauben können?«

»So wie man nicht glaubt, dass ein Mensch von den Toten auferstehen kann?«, erwiderte Stromgaard dem Vorsitzenden der Resurrection Inc. mit einem Glitzern des Triumphs in seinem Auge.

»Nicht ohne einen notwendigen Prozess! Außerdem dauert es bei uns ein bisschen länger als drei Tage. Religion ist der Spielverderber des denkenden Menschen. Im Siebzehnten Jahrhundert, als die orthodoxe Kirche in Russland gegen sich selbst in den Krieg zog, sollten die wirklich Gläubigen das Kreuzzeichen machen: entweder mit zwei Fingern als Symbol für Gott und Mensch oder mit drei Fingern für die Heilige Dreifaltigkeit. Tausende und Abertausende von Menschen starben im Kampf, unabhängig vom Kreuzzeichen! Es ist geradezu traurig komisch.«

Stromgaard seufzte. »Das war vor Jahrhunderten, Francois. Das spielt jetzt keine Rolle mehr.«

»Aber es hat sich nichts geändert! Der Vatikan gab einmal bekannt, dass die Menschen nicht mehr an der Christmesse des Papstes teilnehmen müssen, um seinen Segen zu bekommen, weil ihnen die Verbesserungen der Technologie jetzt erlauben, Gottes Barmherzigkeit auch elektronisch zu übertragen. Und die Moslems sind alle ganz aufgeregt, weil sie einen neuen selektierenden Verbrenner für Allah entwickelt haben, der die Finger und Hände von Dieben gemäß islamischem Gesetz beseitigen lässt – den Schmerz gibt es immer noch, aber die Sauerei bleibt ihnen erspart.«

Nathans schüttelte vor Überdruss und Verzweiflung seinen Kopf. »Der Fortschritt erleuchtet die Menschen nicht – er macht sie nur auf eine neue Art dumm.«

Stromgaard schnaubte, verengte seine Augen. »Du beginnst damit einen neuen Kreuzzug, Francois. Vor vielen Jahren hast du versucht, das Kriminalitätsproblem zu lösen. Ist daraus eigentlich was geworden? Jetzt ist es Religion. Als Nächstes wirst du am Hunger in der Welt arbeiten. Du stürmst vor und redest viel und lässt eine große Staubwolke zurück, in der wir dann baden. Warum machst du nicht mal Pause?«

Nathans schaute ihn mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck an. »Du hast ein Problem mit grandiosen Ideen, Stromgaard. Ich gebe dir etwas, um darüber nachzudenken. Denk darüber nach. Erweitere deinen Geist. Es sieht so aus, als wärst du aus der Übung.« Er sah sich im Studierzimmer um. »Hast du noch irgendetwas zu essen?«

»Nein«, antwortete Stromgaard rundweg.

Vincent drehte sich um, während das Online-Terminal weiterarbeitete. »Aber wenn du willst, dass die Menschen ihren Geist erweitern, Francois, was sollte dann an dem Praktizieren von metaphysischen Dingen – wie Religion – falsch sein?«

»Ah, Vincent, über solche Fragen nachzudenken, ist gut und richtig, aber wenn Philosophie zur Religion wird, dann hören die Menschen auf, den Ideen zu folgen und konzentrieren sich nur noch auf die Rituale. Sobald jemand akzeptiert hat, dass er Das Wort Gottes verinnerlicht hat, hört er auf, sich über die Details Gedanken zu machen. Wie könnte denn seine Allmacht fehlerhaft sein? Und dann, dann beginnt sein Gehirn zu schrumpfen.«

Nathans ließ eine Fingerspitze über seine Lippe gleiten, dachte nach. »Vielleicht ist das bei den östlichen Religionen … sie sind nicht wirklich mit ihrer eigenen Bedeutung vertraut. Hmmmm. Nein, nehmen wir zum Beispiel den Taoismus – dort huldigen sie den Göttern des Raubes und der Trunkenheit, und suchen sich das Beste aus einundachtzig unterschiedlichen Himmeln heraus, während die Buddhisten, viel konservativer sind und sich nur auf einunddreißig Himmel beschränken. Kein Wunder, dass sie an eine Reinkarnation glauben – ein schwacher Geist wird sich kaum ausmalen können, wo er als Nächstes hingehen soll!

Bei den orthodoxen Juden ist das ganz anders, denn die sind mit ihren Ritualen und Symbolen hängengeblieben. Die könnten auch ihre Gottesdienste mit der Kamera aufnehmen und sie Jahr für Jahr wieder abspielen, und das Generation für Generation. Da hat sich nichts geändert. Es sind die immer gleichen, mechanischen Gesten, die gleichen, auswendiggelernten Phrasen. Nichts davon hat sich an unsere moderne Welt angepasst. Denken die, dass wir alle noch Schafhirten im Mittleren Osten sind? Müssen wir immer noch die alten Gesetze befolgen, um den Problemen von heute zu entgehen?« Nathans setzte sich hin und war völlig aufgebracht. »Religion ist mit einer Kindheitsneurose vergleichbar, hat Sigmund Freud gesagt. Und er hatte recht.«

»Verstanden!«, unterbrach ihn Vincent, der sich von dem Online-Terminal abwandte. Nathans blickte zu ihm auf, und Stromgaard beobachtete seinen Sohn skeptisch. Vincent führte weiter aus: »Es ist doch ein bisschen unerwartet, nicht wahr? Es sieht aus wie Satanismus, aber nach einem Update.«

Er wies auf den Bildschirm hin und listete die Ergebnisse der in Beziehung gebrachten Suche auf. »Du willst etwas, das die Leute aufregend finden, etwas, das ein bisschen verboten wirkt, was ich dunkel nennen würde. Es muss ein bisschen kitzeln, mit ein wenig gewagter Symbolik, einigen angedeuteten Ritualen, vielleicht sogar mit Sex während der Zeremonien. Und die Gottheit muss größer sein als das Leben, sehr mächtig, aber noch in Reichweite – kein ätherischer, alles-durchdringender Gottesgeist, der sich niemals in die Angelegenheiten der Sterblichen einmischt. Wir wollen eine alttestamentarische, diktatorische Organisation, die die Treuen belohnt, aber allerlei unangenehme Dinge mit Ungläubigen anstellt. Probier es mit einer Pop-Version von Satan – dann passt alles.«

»Satanismus …« Nathans zog seine Lippen zusammen, überlegte. »Aber in einem modernen Zusammenhang, eine Art neuer Satanismus. Neo-Satanismus! Mir gefällt das Wort.«

Stromgaard guckte, als ob er bei der Entscheidung völlig außen vor gelassen worden war, und wollte sich gerade äußern, als er von Vincents Begeisterung gestoppt wurde. »Machen wir es!«