Kapitel 15
Das
riesige Hauptquartier der Resurrection Inc. erhob sich wie ein
Grabstein vor Danal. Während er weiterhin seine Identität als
Diener mit dem beigefarbenen Trenchcoat zu verbergen versuchte,
blickte er grübelnd und voller Ehrfurcht auf das
Gebäude.
Fußgänger liefen an ihm vorbei; die meisten eilten den naheliegenden Plätzen entgegen, da auf einmal ein früher Frühlingsregen einsetzte. Der Diener nahm es kaum wahr, aber dennoch war er sich jedes Tröpfchens bewusst, der auf seine Haut fiel.
»… zur Resurrection Inc. zurückkehrst … persönliche Verabredung mit Francois Nathans …«
Danal ging auf die nächste der transplastischen Drehtüren zu, die als Eingang für Arbeiter und Besucher zur Verfügung standen.
»Er erwartet dich bereits.«
Danal drückte die Drehtür, griff dabei an die lange Messingstange, als ob er ein Sargträger wäre. Er war schon einmal hier gewesen. Dieser Ort hatte ihm ein zweites Leben gegeben, aber an mehr konnte er sich nicht erinnern. Er war eines Nachts mit einer Lieferung von weiteren Leichen hereingebracht worden, durch eine andere Tür, hinter der er bearbeitet und zu dem gemacht worden war, was er nun sein durfte. Aber die Techniker hatten offensichtlich nicht gründlich genug gearbeitet. Es waren viel zu viele Erinnerungen an sein vergangenes Leben übriggeblieben, die in unregelmäßigen Abständen Bilder in seinem Kopf aufflackern ließen, die wie schmerzbringende Messer hineinfuhren.
Danal fragte sich, ob die Techniker sein Gehirn würden wiederherstellen können, es neu starten, es reinigen und säubern könnten. Aber aus irgendeinem Grund fand er, dass ein Erinnern an alte Erfahrungen viel eher furchterregend erschien, als sich nur damit auseinanderzusetzen, mit der eigenen Vergangenheit zu leben, mit jenem Schatten der Person, die er einmal gewesen war.
Als er in das mit Teppich ausgelegte Foyer trat, sah Danal die Dame am Hauptempfangstresen hinter dem länglichen, glänzend schwarzen Akrylglasmonitor sitzen, die mit ihren unglaublich langen Fingernägeln auf ein Tastenfeld hämmerte. Sie trug Kontaktlinsen, die in diesem Moment ein blasses Violett widerspiegelten und je nach Laune ihrer Trägerin die Farbe wechselten.
Er zog seinen Trenchcoat aus und stand somit ungeschützt in seiner grauen Uniform als Diener vor ihr. Die Empfangsdame blickte auf, war ein wenig über die Dreistigkeit verwundert, bis sie merkte, dass kein Diener so etwas hätte selbstständig machen können.
Danals Stimme klang trocken und leblos in seinen eigenen Ohren. »Mein Master Van Ryman hat mich angewiesen, hier herzukommen. Ich soll Mr. Francois Nathans treffen.«
»Das ist der entscheidende Moment, auf den wir alle gewartet haben.«
Die Empfangsdame wandte sich ab, ließ ihn stehen, während sie in das Interkom sprach. »Er ist hier, Mr. Nathans.«
Danal konnte die Antwort von Nathans nicht verstehen, aber die Empfangsdame bestätigte es ohnehin. Sie schaute ihn wieder kalt an, diesmal waren ihre Augen jedoch braun. »Nehmen Sie den vierten Aufzug auf der rechten Seite. Auf diesem Weg gelangen Sie direkt zu Mr. Nathans Hauptbüro. Befehl: Gehen.«
Bevor Danal irgendetwas sagen konnte, übernahm sein Diener-Programm die Kontrolle und bewegte seine Füße auf den genannten Aufzug zu. Irgendwie nahm er ihr die Verwendung eines Befehls übel, die ihn von jeglicher Einflussnahme trennte. Er hatte ja ganz offensichtlich gezeigt, unabhängig zu sein, denn er war allein zu ihr gekommen; der Befehl degradierte ihn in den Status einer Marionette, und den hätte sie wirklich nicht benutzen müssen.
Als sich Danal umdrehte, um zu gehen, reichte die Empfangsdame mit ihrem Arm über die Theke, um ihm den tropfenden Polymer-Trenchcoat abzunehmen. Er hatte keine Wahl, also tat er es. Er wusste nicht, ob sie ihn behalten wollte oder ihn einfach nur verwahrte, damit das Regenwasser daran nicht Nathans‘ Büro volltropfte … oder sie wollte ihm vielleicht die Möglichkeit nehmen, seine Identität als Diener geheim halten zu können.
Die Feuchtigkeit auf Danals blasser Kopfhaut und seinem Gesicht trocknete schnell, und auch auf seinem grauen Overall hatte sich bereits die meiste Feuchtigkeit im Stoff verflüchtigt. Danal hoffte, dass sein Master Van Ryman nicht bemerken würde, dass er die schwarze Strumpfmütze verloren hatte. Er wollte nicht erklären müssen, was er getan hatte.
Die Aufzugtüren öffneten sich automatisch für ihn, als er sich näherte. Es fühlte sich für ihn an, als ob dieser spezielle Aufzug wie ein monsterartiges Maul mit versteckten Fängen auf ihn gewartet hätte.
Die Türen schlossen sich mit einem Zischen, und der Aufzug vollführte seinen Stimmbefehl, indem er sich plötzlich nach unten stürzte, tief unter die Erde zu den Hauptbüros von Francois Nathans. Der Aufzug unterschied nicht zwischen den Worten der Diener und denen der Menschen. Einen Moment später trat Danal nach draußen und fühlte sich ein bisschen schwindlig. Er orientierte sich aber wieder schnell.
Die Korridore wirkten düster und wurden von einer starken Klimaanlage gekühlt; die hohe Luftfeuchtigkeit und ein leichter Modergeruch machten daraus einen nasskalten Ort. Er blickte auf eine große Doppeltür, die aus Walnuss-Klonholz bestand und angelehnt war. Er ging einen Schritt vom Aufzug weg und die Türen schlossen sich hinter ihm. Er lauschte, wie die brummende Maschinerie den Aufzug zurück zum Haupteingang und damit ins Erdgeschoss brachte.
Der Diener ging auf die Tür des Büros zu, trat mit leisen Schritten über den dicken kastanienbraunen Teppich, obwohl er wusste, dass Nathans die Ankunft des Aufzugs gehört haben musste. Er legte eine Hand auf die Messingklinke der schweren Tür und zog sie weit genug auf, so dass er hindurchschlüpfen konnte. Irgendein Instinkt warnte ihn davor, zu klopfen. Er fühlte, wie sich finstere Schatten um ihn herum sammelten, eine Art bedrückende Atmosphäre, als ob er sich weit unter der Erdkruste befand.
Seine Nervenenden kribbelten wie eine Handvoll unsichtbarer Nadeln. Sein Mund fühlte sich trocken an und er schmeckte Metall. Alarmglocken schrillten in seinem Kopf, aber er nahm einen schnellen, kalten Atemzug, drückte sein Kreuz durch und straffte die Muskeln, um seiner mentalen Anspannung entgegenzuwirken.
Etwas würde geschehen.
Er fühlte sich wie ein Gummiband, das man so weit gespannt hatte, dass es fast reißen musste.
Danal trat in den Raum. »Da bin ich, Mr. Nathans.«
Mit einem Augenblinzeln erfasste er alles: die barocken Möbel, die Wandteppiche, die sanfte Beleuchtung von dicken schwarzen Kerzen auf dem Schreibtisch, die Buchregale, den Empfangstisch. Hinter dickem Panzerglas konnte er in trübes Wasser blicken; große und kleine Fische schwammen dahinter in schattenhaften Formationen bis aus dem Sichtfeld hinaus. Danal wusste nicht, wann Nathans das große Aquarium hatte installieren lassen, oder ob das Wasser direkt aus der Bucht hier hergeleitet wurde.
Sein Blick blieb an Nathans kleben, der in einer Ecke stand und sich hastig eine weiße Robe anzog. Obwohl ihm Nathans‘ Rücken zugewandt war, konnte Danal den kleinen, glatzköpfigen Mann sehen, der implantierte, dekorative Rubine in der kahlen Kopfhaut trug. Nathans drehte sich, um sein Gesicht zu zeigen, und schenkte Danal ein dünnes Lächeln, auch wenn es eher ein in-sich-hinein-lächeln zu sein schien.
»Willkommen, Opfer-Lamm«, sagte Nathans mit hämischem Unterton.
Er machte das Zeichen der Neo-Satanisten – das Zeichen des gebrochenen Kreuzes.
Eine Walze aus Erinnerungen, die unter Danals dünner Diener-Hülle begraben lagen, raste plötzlich wie ein schwarzes Monster los, jagte zum Ende der Kette … und die Kette barst. In einem Reflex des vom Mikroprozessor verstärkten Gehirns sprang Danal vor und war nicht in der Lage die Furie in ihm zu kontrollieren.
Nathans!
Satanist!
Intrigant, Mörder!
Er hasste diesen Mann, ekelte sich vor ihm mit einer Leidenschaft, die stark genug war, um über den Tod hinauszugehen. Danals Identität als Diener versuchte die Kontrolle zurückzuerlangen, aber sein altes Ich war zu stark, zu mordlüstern. Die Arme des Dieners erhoben sich wie von selbst, seine Hände starr, seine Finger, als ob sie etwas umklammern würden.
Sein wiederauferstandener Geist, der andere Danal, wollte Francois Nathans erwürgen, aber seine Hände bewegten sich derart langsam, dass sie sich durch die Haut des Halses des kahlen Mannes gruben, als ob es Käse wäre, und legten ihre Finger um die Wirbelsäule, wobei sie die ungeschützten Wirbel herausdrehten.
Er zog sich zurück, sogar noch bevor das Blut herauszuströmen begann. In dem Zeitlupentempo des Mikroprozessors gesehen, hatte das ganze Universum für einen Moment angehalten, stand auf Messers Schneide, bis es sich in eine Katastrophe verwandelte. Sofort wurde Danal klar, was er getan hatte.
Nathans schien nicht zu begreifen, dass sein Leben beendet worden war, und lächelte noch für einen Moment, ehe er verstand und sich sein Gesichtsausdruck in puren Schock verwandelte.
Danal starrte in das Grauen, und schließlich spritzte Blut auf seine Uniform. Dann taumelte der kahle Mann vorwärts, versuchte mit Danal zu ringen. Er griff nach der Schulter des Dieners, konnte sich aber nicht festhalten, und rutschte über Danals Brustkorb auf den Fußboden hinunter. Ein großer scharlachroter Fleck prangte auf dem grauen Overall.
Danals Hals war so trocken wie Papier. Er stolperte rückwärts, starrte Nathans an, während er fiel. Die Schatten hinter dem Fenster des Aquariums schienen größer zu werden, hämmernd, als wollten sie hereinkommen; dann wurde Danal klar, dass das Hämmern aus seinen Schläfen drang.
Er hatte die grundsätzlichste aller Diener-Regeln gebrochen.
In seinem Brustkorb brannte es wie Feuer, als ob ihn ein kaltes Opfermesser getroffen hätte. Er könnte die lange Narbe auf seinem Brustbein fühlen, entzündet, als wäre sie ein gefährlicher Wurm.
Nathans lag mit seinem Gesicht in einer Pfütze aus Blut, das allerdings schon im Begriff war, zu verschwinden und von den schmutz- und staubbekämpfenden Enzymen im Teppich aufgesogen wurde. Danal erkannte die Sterne, Pentagramme und astrologische Symbole, die auf die weiße Robe gestickt worden waren.
»Opfer-Lamm.«
Nur wer war hier gerade das Opfer?
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Das vorgegaukelte Gefühl, nicht beobachtet zu werden, wenn die Aufzugtüren zugehen, brachten Rodney Quick dazu, eine einfache Melodie zu pfeifen. Er blieb stehen, lächelte, grinste, bis ihm klar wurde, dass er in den vorangegangenen Tagen nahezu glücklich gewesen war. Während er sich ermahnte, seine Hoffnungen nicht zu hoch anzusetzen, erinnerte ihn ein anderer Teil daran, dass dies überhaupt die erste Hoffnung war, die er seit einer langen Zeit gehabt hatte.
Die Aufseherin hatte sich für mittlerweile drei Tage nicht blicken lassen. Sie war gegangen … einfach verschwunden.
Am Ende des zweiten Tages war Rodney schreckhaft gewesen, nervös, fürchtete sich vor Tricks oder sogar einer Falle. Aber jetzt, einige Schichten später, die er allein verbracht hatte, in Frieden, ungestört, und einfach nur seinen Job im Untergeschoss Nummer Sechs tat, begann er zu fantasieren, dass die Aufseherin vielleicht versetzt worden war.
Der Techniker fing an, sich zu erinnern, und sich unbewusst alles schönzureden, was ihm Francois Nathans gesagt hatte: die Anerkennung, das Lob für die gut gemachte Arbeit. Rodney hoffte darauf, dass vielleicht Nathans, da er sich seine Angst vor der Aufseherin eingestand, vielleicht etwas mit ihr angestellt hatte.
Im Untergeschoss Sechs schwammen die Diener-Rohlinge in ihren Tanks, der Betrieb ging weiter und Rodney machte seine Augen wieder auf. Er achtete wieder auf Details, dort, wo er zuvor nur im Dunkeln getappt war. Das Lächeln war zurückgekehrt und sogar das Pfeifen. Er fühlte Freude und Erstaunen im Umgang mit Alltagsgegenständen, die er seit Jahren kaum bemerkt hatte.
Rodney fragte sich, ob dies irgendwie eine umgedrehte Liebe war, denn er fühlte sich ja so unglaublich glücklich, da die bestimmte Person nicht anwesend war.
Jetzt hatte er beschlossen, die Einladung von Francois Nathans anzunehmen – »ich bin sicher, dass wir uns wiedersehen werden« –, um für sich selbst herauszufinden, was mit der Aufseherin passiert war, um zu erfahren, ob das Glück echt war, oder ob der Albtraum nach einer kurzen Pause wieder von vorne anfangen würde.
Als sich die Aufzugtüten geschlossen hatten, und bevor die geistlose Fahrstuhlmusik anfangen konnte, sprach Rodney in das Eingabemikrofon: »Untere administrative Hauptbüros. Zu Francois Nathans, bitte.«
Der Aufzug verlangte, dass er seine ID, seinen Namen und sein Online-Kennwort eingab. Das Terminal antwortete zwar nicht, doch setzte sich der Aufzug gehorsam in Bewegung und fuhr nach unten.
Wenn die Aufseherin tatsächlich gegangen war, wegen irgendeines Wunders, und wenn sein Leben mit dieser schwindelerregenden Leichtherzigkeit fortdauern sollte, die er gerade erlebte, würde Rodney vielleicht ernsthaft darüber nachdenken, seinen Vertrag mit dem Krematorium zu widerrufen.
Innerhalb von zwei Tagen hatten sie ihn schon einige Kabelrollen, Glühbirnen und ein Teil für einen antiken Generator, der Hydrocarbontreibstoff verbrannte, kaufen lassen. Er hatte Listen von Technosammlern durchstöbern müssen, um überhaupt jemanden zu finden, der ihm das alte Schwungrad auch noch zu einem exorbitanten Preis verkaufte.
Insgesamt hatten sich die Kosten der Gegenstände auf nicht ganz so viel belaufen, wie er erwartet hatte – nicht so viel, wie er dem Krematorium bezahlt hätte. Aber er wusste nicht, wie lange es noch andauern würde, wie oft sie noch verlangen würden, diese »kleinen« Gefallen zu erfüllen.
Die schwierigste Aufgabe bestand noch immer darin, einen Liter der lauwarmen, rötlichen, amniotischen Flüssigkeit jener veränderten Lösung hinauszuschmuggeln. In einem sorgfältig ausgespülten Softdrink-Behälter, in den er etwas von der Entwässerungslösung hineingetan und ihn dann mit einer Vakuumflasche versiegelt hatte … er war die ganze Zeit über nervös, überzeugt davon, dass ihn die Aufseherin sah und ihn im Moment des Diebstahls auffliegen lassen würde. Was, wenn die Aufseherin irgendwie mit dem Krematorium vernetzt war und daher wusste, was da gerade passierte? Woher wusste er denn, dass Rossum Capek das echte Krematorium repräsentierte?
Aber wenn er so dachte, dann gab es für ihn keine Hoffnung mehr in dieser Welt.
Rodney bekam seine elektronischen Nachrichten, die sich selbst löschten, nachdem er sie gelesen hatte. Er musste aufpassen, genau lesen und es sich einprägen, dann ansonsten konnte es sein, dass er sich nicht daran erinnern würde, was ihm aufgetragen wurde. Und sollte er Mist bauen, so wusste er nicht, wie viele Chancen ihm das Krematorium noch geben würde.
Rossum Capek hatte er nicht noch einmal gesehen, ebenso war ihm auch Monica oder einer der Stellvertreter zweimal begegnet. Seine Besorgungen lieferte er an immer anderen Orten ab, aber bisher war alles glatt gelaufen.
»Wenn ich mich mal mit euch in Verbindung setzen muss«, hatte er einmal gefragt, »wie kann ich euch dann finden?«
»Wir werden wissen, ob du uns brauchst«, hatte das Mitglied des Krematoriums geantwortet, ein Junge im Alter von zwölf Jahren mit Sommersprossengesicht. »Und wenn wir es nicht wissen, dann brauchst du uns auch nicht wirklich.«
Irgendwie wirkte das alles ein bisschen gespenstisch.
Als sich die Aufzugtüren öffneten und er dem persönlichen Büro von Francois Nathans entgegenstolperte, schluckte Rodney Quick hart, versuchte Speichel in seinem trockenen Hals zu drücken. Er dachte wieder an den Grund seines Besuchs, dass er hier war, um herauszufinden, was da gerade passierte – das eine oder das andere. Was zur Hölle glaubte die Aufseherin eigentlich, wer sie war?
Und dann blieb ihm keine Zeit mehr für andere Gedanken. Die Tür sprang auf und ein Diener rannte ihn um. Rodney sah den Blutfleck auf seinem Overall; er sah einen Körper, der in eine zerknitterte, weiße Robe – Nathans! – gehüllt war und in einer rotbraunen Pfütze auf dem Teppich lag.
In einem unendlich lange andauernden Moment sah er, wie sich die Finger des Dieners in das Holz der Tür gruben, sie eindrückten und zerquetschten, so dass das Holz splitterte. Die in grau gekleidete Person stieß die Tür auf und stürzte dem Aufzug entgegen.
Rodney stand mitten im Weg.
Ein Diener? Ein Diener!
Rodney wurde zu spät klar, dass er sich bewegen musste, dass er laufen musste. Der Diener war völlig außer Kontrolle.
Verwirrt schmiss ihn der Diener mit seiner unkontrollierten Kraft beiseite, so dass er nach hinten gegen die Aufzugwand flog. Alles passierte so unglaublich schnell – niemand konnte sich so schnell bewegen!
Rodney schlug mit der Kraft einer Dampfwalze gegen die Fahrstuhlwand. Seine Nervenenden gaben auf, ehe er die volle Wucht des Schmerzes spüren konnte, aber er hörte noch, wie mehrere seiner Knochen brachen, und das Geräusch erinnerte ihn irgendwie an Popcorn, das in einen brennenden Kamin gefallen war.
Rodney begriff, dass er in der Ecke des Aufzugs liegengeblieben war und dort wie ein nasser Lappen liegen musste. Seine Augen füllten sich anscheinend mit Blut. Eine Momentaufnahme von dem Gesicht des Dieners blieb wie eingefroren in seinem Geist zurück, der mit einem Ausdruck der totaler Verständnislosigkeit und des Erschrecktseins auf ihn herabsah, als könne er nicht begreifen, was er getan hatte.
Rodney verstand, daran gab es keinen Zweifel, dass er ein toter Mann war. Er hatte sich schon lange auf den Tod vorbereitet … doch in diesem Moment zog ihm jede Vorstellung daran den Boden unter den Füßen weg und verwandelte sich in pure Verzweiflung: Von allen Orten, musste er ausgerechnet auf der wichtigsten Verwaltungsebene von Resurrection Inc. sterben. In dem Moment, als seine letzten Nervenenden ihren Dienst versagten, formte sich sein Gesicht zu einer Fratze des Leids.
Denn es gab in diesem Universum keine Möglichkeit, dass das Krematorium jemals seinen Körper in die Finger bekommen würde. Er war verdammt – verdammt dazu, als Diener zurückzukehren.
-
Als der Techniker zu Boden fiel und mit gebrochenem Hals und Hinterkopf an der Wand herunterrutschte, versuchte Danal die wildgewordenen Pferde seines alten Ichs wieder unter Kontrolle zu bekommen und einen weiteren Wutanfall zu unterdrücken. Tränen traten ihm in die Augen, noch bevor der Techniker gänzlich zum Liegen gekommen war.
Er hatte das nicht gewollt. Es war ein Unfall! Er hatte einfach nicht mehr bremsen können. Er hatte die Kontrolle verloren – und das Böse war erwacht.
Francois Nathans lag abgeschlachtet am Boden … obwohl Nathans absichtlich etwas erweckt hatte, das in Danal geschlummert hatte; er hatte geradezu unbekümmert mit einer tödlichen Waffe herumgespielt. Aber dieser Techniker war tatsächlich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen – der unschuldige Statist, der im Weg gestanden hatte, ehe Danal seine beschleunigten Reflexen und die Walze seines Zorns in den Griff bekommen konnte. Danal hatte eigentlich nur versucht, ihn zur Seite zu schieben, wollte ihn einfach nur aus dem Weg haben.
Nur wofür waren diese Entschuldigungen jetzt gut?
Noch bevor Tränen sein Sichtfeld verschwimmen ließen, nahm Danal den gebrochenen Körper von Rodney Quick hoch und trug ihn wie eine Puppe in Nathans‘ Büro. Sanft legte er den Techniker auf das Sofa und machte seine Arme gerade. Blut sickerte aus seinem Hinterkopf auf den roten Samt der Armlehne.
Danal stellte fest, dass das der Techniker war, den er nach seinem Erwachen im Untergeschoss Sechs gesehen hatte, woraufhin er eine noch tiefere Traurigkeit fühlte. Rodney Quick.
»Es tut mir so leid, dass ich nichts für dich tun kann«, flüsterte er. »Es tut mir so leid.«
Der Diener taumelte blind zum Aufzug zurück, ohne sich noch einmal umzudrehen, und murmelte dem Aufzug den Befehl zu, ihn zum Foyer zurückzubringen. Er starrte auf seine klebrigen Hände und konnte es einfach nicht fassen. Selbst mit seinem gesteigerten Denkvermögen konnte er seine Fragen, die Widersprüche und jeglichen Verdacht nicht lösen.
Wer war er wirklich?
Der Diener in ihm kämpfte gegen sich selbst, versagte bei jedem Versuch, das alles auch nur ansatzweise zu begreifen. Die dunkle Persönlichkeit unter Danals Hülle war aus seinem Diener-Dasein herausgebrochen, hatte diesen hilflos zurückgelassen und sich über dessen Wünsche hinweggesetzt. Das Grauenvolle daran war, dass das Ausbrechen so leicht erfolgte – Danal war hilflos gewesen, konnte es einfach nur geschehen lassen.
War es das, was er hatte wissen wollen? Hatte er wissen wollen, wer Danal wirklich war? Was für eine Person konnte zu so abscheulichen, unbegründeten Aktionen fähig sein?
Als ihn der Aufzug nach oben brachte, spürte er die Narbe auf seiner Brust, die von einem Opfermesser stammte, und wieder ließ er die Flashbacks zu, die ihn an das Neo-Satanisten-Ritual erinnerten und seine Schläfen zum Pochen brachten.
Was hatte er getan, um den Tod zu verdienen, so gewaltsam und so schrecklich, dass man ihm das Herz aus dem Brustkorb geschnitten hatte?
Danal wollte nicht mehr die Ursache dieser Flashbacks ergründen. Er wollte noch einmal von vorne beginnen. Er wollte ein einfacher Diener sein, einer, der Anweisungen befolgte, ohne diese vagen Andeutungen seiner Vergangenheit. Er wollte Vergebung für seine furchtbaren Taten.
Aber er würde sie nicht bekommen – sie würden ihn auslöschen. Er würde wieder sterben.
Das Foyer tat sich vor ihm auf, als sich die Aufzugtüren teilten, doch in diesem Moment arbeitete der Mikroprozessor seines Gehirns im Schneckentempo. Die Ereignisse um ihn wirbelten wie ein Malstrom herum, in dem sich Rasierklingen gesammelt hatten. Er stieg aus dem Aufzug, hielt seine blutbedeckten Hände stumm vor sich.
Mehrere Menschen bemerkten ihn sofort. Die Empfangsdame blickte auf, erstarrte, und schrie in der gleichen Stimmlage, in der der einsetzende, heulenden Alarm losschlug.
Einer der Soldaten, die zum Eskortieren eingeteilt waren, stand gerade im Foyer und hatte offenbar angehalten, um auf der großen Metroplex-Karte an der Wand nachzusehen, suchte nach dem Standort der nächsten Lieferung. Danal nahm sofort zur Kenntnis, dass der Soldat groß und dünn war. Er trug ein schwarzes Visier, aber seine Hände und Handgelenke zeigten statt der Panzerhandschuhe dunkle Haut. Der gleiche Soldat, der ihn zum Van Ryman-Haus geleitet hatte, was schon eine Ewigkeit her zu sein schien.
Als der Alarm durch das Interkom raste, wirbelte der Soldat herum und fummelte an seiner Rüstung, versuchte, die Situation zu begreifen und die richtige Waffe für das Gefecht zu wählen.
Benommen drehte sich Danal weg und stolperte der transplastischen Drehtür entgegen. Es war zu spät. Es gab keinen Ausweg, und er hatte noch immer keine Antworten.
»Diener! Halt!«, rief der Soldat und hielt schließlich eine breitläufige Taschenbazooka aus seinem Holster in den Händen.
Danal zögerte einen Moment. Der Soldat hatte in seinem Eifer, keinen »Befehl« ausgesprochen. Danal wusste, er wäre erledigt, sobald er stehenbliebe. Er hatte Francois Nathans und Rodney Quick ermordet.
Er wollte kein zweites Mal sterben.
Danal hatte keine andere Wahl. Ohne darüber nachzudenken, stürzte er zur Tür, so schnell ihn seine übermenschlichen Beine tragen konnten. Der Soldat blinzelte erstaunt. Die Empfangsdame schrie erneut.
Der Soldat hob seine Waffe und legte ein Geschoss in den Lauf.
Danal raste durch die Drehtür, als eine Explosion die transplastische Tür zerschmetterte und das Geschoss nach draußen flog. Er schrie vor Schmerz, weil etwas durch seine Schulter fetzte, aber er schluckte seine Angst hinunter und beeilte sich, in der Masse der Fußgänger unterzutauchen.
»Terrorist!«, jammerte der Soldat. Er feuerte erneut, riss damit den Rest der Drehtür raus und stieg über die niedergewalzten Überreste.
Danal wand sich durch die glotzende Fußgängermenge, versuchte, in der Masse zu schwimmen, aber er konnte sich nicht in Anonymität hüllen. Die Menge hasste ihn, alle Diener wurden gehasst. Sie starrten ihn mit spöttischen Gesichtern an. Aber sie würden doch niemandem helfen; denn Soldaten hassten sie auch.
Der Soldat eilte zwischen den vielen Körpern hindurch und feuerte ein drittes Mal.
Eine Frau neben Danal schrie und fiel auf den Bürgersteig, während das Blut aus ihrem Hinterkopf floss. Kälte breitete sich in seinem Magen aus, als er lief. Er wartete darauf, dass ein Geschoss seinen Körper durchdringen und detonieren würde, woraufhin nichts übrigbleiben würde, das irgendjemand wiederbeleben konnte. Er verschwand, lief viel schneller als sein Verfolger, aber noch langsam genug, damit ihn eine explodierende Kugel treffen konnte, die man auf ihn feuerte.
Der Soldat blieb stehen, blickte vor Grauen oder Verwirrung auf seine Waffe; das Visier verbarg alle Ausdrücke.
Danals Brustkorb schmerzte dort, wo sein ursprüngliches Herz einmal gewesen war, aber dieses Herz war ihm durch die Hand eines Mörders genommen worden und man hatte es durch eine biomechanische Pumpe ersetzt. Danal griff an seine getroffene Schulter und sah klares SynBlut zwischen seinen Fingern hindurchtriefen.
Der Soldat bewegte sich wieder, schubste einen Mann aus dem Weg. Eine andere Person neben der gefallenen Frau schrie. Der Soldat nahm seinen Schlagstock heraus und holte nach links und rechts aus, schlug aber niemanden.
»So könnt ihr die Bürger nicht behandeln«, schrie jemand. Der Zorn der Menge begann, sich wie ein Streichholz zu entzünden.
Hinter Danal fiel ein Mann in eine alte Frau; er taumelte und wankte ihr ärgerlich entgegen. Der Soldat feuerte zwei weitere Male, diesmal in die Luft. Viele schrien in der Menge, als Danal weiterrannte. Ein Mann schlug den Soldaten von hinten, aber er gedreht sich kurz und schlug dem Typen mit voller Wucht mit dem Schlagstock ins Gesicht. Mehrere Menschen schlugen einander in einer sinnlosen Präsentation ihres Zornes.
Und Danal lief, um vor dem Gesindel zu fliehen, das seine Schlinge immer enger um den Soldaten zog. Das schwarze Monster seines eingesperrten Gedächtnisses kämpfte gegen seine Diener-Identität, und Danal kämpfte dagegen, um es freizugeben.
Er war ein Mörder. Grundlos hatte er zwei Männer abgeschlachtet. Er hatte direkte Anordnungen des Soldaten nicht beachtet und er war vor dem Gesetz geflohen.
Danal wurde von seinen eigenen Möglichkeiten überrannt, war darüber erschrocken, was in dem Mausoleum seines toten Gedächtnisses eingeschlossen war. Er wollte nicht wissen, was seine Flashbacks bedeuteten. Er wollte nur vergessen.
Er hatte einen Tunnelblick, sah nur noch den Weg mit dem geringsten Widerstand, der verworrene Weg, der ihn jedoch weg von den Menschen brachte, und zugleich verhinderte, dass der Soldat weiter auf ihn schoss, wenn er keine Passanten treffen wollte.
Danals Blick haftete an einem dünnen Mann mit silbergrauen Haaren vor ihm, der grinsend die Straße mit einem weiblichen Diener hinunterstolzierte. Details überschwemmten seinen Geist – er sah die Rangabzeichen der Gilde auf dem Kragen des Mannes; er sah indigoblaue Linien in die Falten um seine Augen tätowiert; er sah eine knorrige Hand des Gildenmannes das Gesäß des weiblichen Dieners massieren. Sie schien es überhaupt nicht zu bemerken.
Der weibliche Diener trug den üblichen grauen Overall, aber der alte Mann hatte eine lange blonde Perücke auf ihren Kopf und Blumen in ihr künstliches Haar gesetzt. Er hatte Schmuck an ihren Hals und ihre Handgelenke gelegt. Sie ging neben ihm wie ein Stück Vieh.
Der Gildenmann drehte sich, erschrak, als Danal beinah in ihn hineinlief, und starrte dann auf den großen Fleck Blut auf seinem Overall und auf die Wunde von Danals triefender Schulter mit dem SynBlut. In einem Reflex zu den Bewegungen ihres Masters drehte sich der weibliche Diener um, und wollte gleichermaßen Danal anschauen.
Ihre kristallblauen Augen waren leer. Der Auferstehungsprozess hatte die vereinzelten Sommersprossen aus ihrem Gesicht gewaschen, und irgendjemand hatte ihr künstliches Haar aufgesetzt. Das Neckische in ihrem Gesicht, die Grübchen waren wachsartig und leblos.
Aber es war noch das Gesicht vom Strand, das, das er auf dem Hologramm auf Van Rymans Kaminsims entdeckt hatte.
JULIA!
Plötzlich kehrten die Erinnerungen zurück, alle. Tausende von Gedanken kamen hungrig ans Tageslicht. Sein altes Selbst, sein wahres Selbst zeigte sich.
Und Danal wusste.
Er schrie, als die Höllenqualen überhandnahmen, ging in die Knie, versuchte auf diesem Weg vorwärtszukommen. Die Welt verschwand in der wiederauflebenden Flut von Flashbacks als sein Leben und sein gewaltsamer Tod auf dem Opferaltar aufkamen, um ihm ins Gesicht zu starren.
Van Ryman
Van Ryman!
ICH BIN VINCENT VAN RYMAN!
Er sah, dass der alte Gildenmann schon mit Julia davongelaufen war, da ihn der wildgewordene Diener erschreckt hatte. Danal beobachtete sie gequält für nur einen Moment, dann speicherte er die Szene in seinem Geist ab. Im nächsten Moment duckte er sich ohne zu gucken weg, suchte einen Ausweg und rannte, bis er weit genug vor dem Mob weggelaufen war, um relativ sicher zu sein. Aber er konnte sich nicht länger vor den zurückkehrenden Erinnerungen verstecken.
Der Mann, dem ich diente, ist ein Hochstapler,
ein Usurpator!
Er versuchte, seine Gedanken zu filtern. Und alles kehrte an den Platz zurück, fiel an den Ort, der ihm schon immer bestimmt gewesen war.