Kapitel 30



Trag das fleischfarbene Make-up großzügig auf Gesicht und Nacken auf – vergiss die Ohren nicht. Bedecke die Arme zum Ellenbogen. Eine Färbung in rot-rosa lässt die Lippen lebendig wirken. Beiß auf eine Farbstoffkugel, um das Innere des Mundes mit roter Farbe auszufüllen, dann gründlich durchspülen, damit die Zähne sauber bleiben. Augenwimpern, Augenbrauen. Etwas Rouge und dunklere Farbtöne ins Gesicht, damit es realistischer aussieht, damit es fehlerhafter aussieht. Ein Haarteil oder eine andere Kopfbedeckung.

Inkognito. Fast wie ein Lebender, Atmender – wieder.



Danal wartete auf einer Parkbank, blickte zu den großen Gebäuden um ihn herum. Die harten Metallleisten der Bank drückten sich kühl gegen seine Lederjacke und seine geflickte Hose. Er vergrub seine Hände klugerweise in den Taschen. Eine Lederkappe bedeckte seinen Kopf, und Klappen über den Ohren ließen ihn wie einen alten Flugzeugpiloten aussehen.

Danal wusste genau, wie der Kunde für das Krematorium aussehen würde; er war überzeugt davon, dass der Mann pünktlich wäre.

Der Kunde kam aus einer Nebenstraße heran, wirkte verloren und unsicher – ein Mann mittleren Alters, in einem makellosen Anzug und einer dünnen, modischen mit reflektierenden Pailletten übersäten Krawatte. Sein Haar war sauber auf die richtige Länge geschnitten; an Stelle von Kontaktlinsen trug er formschöne Brillengläser mit einem kleinen in eine Linse integrierten Chronometer. Unter seinem Arm hielt er einen großen, bunt eingepackten Kasten mit einem rosafarbenen Griff.

»Ist das für mich?« Danal stand auf und fing ihn ab.

Der Mann blieb abrupt stehen und starrte ihn an, wollte ihn einschätzen. »Nein«, murmelte er, versuchte sich offenbar an den richtigen Satz zu erinnern, »es ist für John.«

»Okay. Ich werde es seiner Frau geben«, antwortete Danal einfach.

Erleichtert reichte der Kunde den Kasten an den verkleideten Diener weiter und floh daraufhin die Straße hinunter, ohne zurückzublicken. Er versuchte in der Menge unterzutauchen, aber es waren zu wenige Menschen auf dem Gehsteig unterwegs. Danal sah ihm für einen Moment hinterher, war friedvoll amüsiert und setzte sich dann auf der Bank nach hinten.

Er musste den Kasten nicht untersuchen, um zu wissen, dass er verpackte chemische Vorräte enthielt: zwei Bücher für Gregor, analytische Werkzeuge und etwas Drahtseil ‒ alles Dinge, die die Erwachten benötigten.

Danal betrachtete den Kasten und den Kunden mit einer wertfreien Apathie.

Nachdem ihm Gregor gezeigt hatte, wie er auf seine Todeserinnerungen Zugriff nehmen konnte, hatte sich Danals Vorstellung von Realität radikal verschoben. Über die vorangegangene Woche hatte er gelernt, seine Situation mit einer leichtfertigen Passivität zu akzeptieren. Seine anderen Bedenken, sein übriggebliebener Zorn – kein Vincent Van Ryman-Zorn – über den Verrat an ihm und über den Tod von Julia erschienen jetzt weit entfernt und unbedeutend.

Tief im Dunkeln, wobei er dem geisterhaften Flüstern des Ozeans und dem Knarren des Holzes um ihn herum zuhörte, verbrachte Danal einen Großteil seiner Zeit mit Meditation. Im Schneidersitz hatte er manchmal mit Gregor, manchmal allein dagesessen, reiste tief in sein Inneres, konfrontierte sich mit der Wand, mit den Flashbacks des Himmels. Alles kam zu ihm zurück mit einem unendlichen Wunder und Ehrfurcht – der Schmerz, der Tunnel, das Glockenspiel, die Lichter, die begleitenden Geister … immer und immer wieder.

Aber er konnte die letzte Barriere noch immer nicht durchbrechen.

Das Universum hatte aufgehört, klar und verständlich für ihn zu sein, und jedes Ding beinhaltete eine eigene Facette im kosmischen Mysterium. Zugunsten der Erwachten im Allgemeinen half er bei den Aktivitäten des Krematoriums mit. Wie Laina und Gregor es beide vorausgesagt hatten, fühlte sich Danal zu den Erwachten zugehörig. Aber keiner von ihnen war ihm wirklich wichtig. Er lebte Tag für Tag, musste sich nicht beeilen, um größere Entscheidungen zu treffen.

Er verbrachte viele Stunden damit, in alten Erinnerungen zu schwelgen, als wäre er dort zu Hause – nicht krankhaft, aber mit einer Art Faszination – im Tod, den Ereignissen, die zu seinem eigenen Tod geführt hatten; wie er seinen Vater hatte sterben sehen; wie er im Reflex Nathans im Untergeschoss der Resurrection Inc. getötet hatte; wie Nathans Julia ermordet hatte – und das brachte ihn in der Folge dazu, über seinen eigenen Tod nachzudenken.

Er betrachtete sein Leben als Vincent Van Ryman mit einem immer größer werdenden Abstand, als ob das jemand anders gewesen wäre – und in der Tat, es war jemand anders gewesen, denn es ist ein Unterschied, ob man die andere Seite des Todes gesehen hat oder nicht. Vincents Probleme waren nicht länger Danals Probleme.

Der Diener nahm den in Geschenkpapier eingewickelten Kasten hoch und schlenderte ungezwungen den Fußgängerweg entlang. Er würde für ein oder zwei Stunden herumlaufen, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand folgte. Außerdem hatte er gerade Lust dazu, ein bisschen spazieren zu gehen. Er hatte sich extra viel Mühe gemacht, seine Verkleidung anzulegen, und er genoss die Freiheit, die ihm sein normales Aussehen gab. Sollte er müde werden, so würde Danal einen der Zugänge aufsuchen, die ihn nach unten führten.

Dass er damit Zeit verschwendete, machte ihm nichts aus. Er genoss jeden Moment und alles, da im Grunde alles, was existierte, von Grund auf gleich war.

Als er an einer unbesetzten, öffentlichen Online-Kabine vorbeiging, fühlte Danal plötzlich eine amüsierte Faszination für seine alte Identität als Vincent Van Ryman, eine Art Sehnsucht nach seiner Vergangenheit. Früher hatte er lange auf die Luftspiegelung der Van-Ryman-Villa gestarrt, ehe er weitergegangen war. Das Verteidigungs-System würde ihn allerdings nicht hineinlassen, auch wenn er es gewollt hätte.

Während er die leere Kabine anstarrte, wurde Danal klar, dass das Internet noch immer glaubte, Vincent Van Ryman würde leben, da sein Doppelgänger seine ganze Identität übernommen hatte. Und Danal erinnerte sich noch an sein altes Passwort.

An ihm zerrte die Neugier, und er stieg in die Kabine, lehnte den in Geschenkpapier eingewickelten Kasten an die Wand gegenüber und schloss die Kabinentür. Er gab »Vincent Van Ryman« in das Eingabefeld ein und fügte sein Passwort der Stufe Zehn hinzu. Das Internet akzeptierte die Anmeldung.

Er starrte das obere Menü an und öffnete – nach einer kurzen Pause – sein elektronisches Postfach, um zu sehen, was der Doppelgänger gerade tat. Danals halbherziges Interesse galt im ersten Moment weniger den weltlichen Geschäftsnachrichten noch denen, die die Neo-Satanisten betrafen.

Aber dann sah er eine Nachricht, die es ihm eiskalt den Rücken runterlaufen ließ. Es war passwortgeschützt, aber Danal erinnerte sich leicht an sein Posteingangspasswort. Gemäß der Statuszeile war die Nachricht nur zwei Tage zuvor von Francois Nathans verschickt worden …

Nathans drehte sich, um sein Gesicht zu zeigen, und schenkte Danal ein dünnes Lächeln. »Willkommen, Opfer-Lamm.« Er machte das Zeichen der Neo-Satanisten – das Zeichen des gebrochenen Kreuzes.

Danal gab sein Mail-Passwort ein und las die Nachricht.

Nathans lag mit seinem Gesicht in einer Pfütze aus Blut …

Francois Nathans war tot. Danal hatte ihn getötet.

Ein großer scharlachroter Fleck prangte auf dem grauen Overall.

Nur wer war hier gerade das Opfer?

Danal durchsuchte die Nachricht, während sich seine Augen weiteten. Eine der unechten Augenwimpern löste sich.

»Wir haben meinen Surrogaten verloren. Danal hat ihn sauber getötet, und wir hinterlassen kein weiteres unlösbares Problem in diesem ganzen Wust. Aber jetzt ist dieser Danal VERSCHWUNDEN. Wir sollten überlegen, ob wir eine andere Testperson suchen oder die Idee fallen lassen. Ohne Vincents eigenes ZURÜCKKOMMEN wäre die Wirkung nicht dramatisch genug.«

Danal starrte die Nachricht an und las es noch einmal. Nathans‘ Surrogat? Wen hatte Danal wirklich ermordet? Einen Surrogaten?

Indem er sich an seine alten Fähigkeiten erinnerte, überprüfte Danal schnell die Online-Zeitschriften und die Nachrichtendatenbanken für jenen Tag, als der vermeintliche Mord stattgefunden hatte. Der Tod von jemandem wie Francois Nathans wäre sicherlich in allen Nachrichten über aktuelle Ereignisse aufgetaucht.

Aber er fand von Nathans lediglich Erwähnungen in Bezug auf die Resurrection Inc., wo an dem Tag der Aufstand stattgefunden hatte. Mit wachsendem Erstaunen und voller Unglauben überprüfte Danal Nathans‘ Online-Aktivitäten, und stellte fest, dass dieser Mann seit zwei Wochen jeden Tag das System benutzt hatte.

Nathans war nicht tot.

Danal war hereingelegt worden. Ein weiteres Mal.

Als diese Erkenntnisse über ihm hereinbrachen, fiel er sogleich in seine eigene Existenz zurück. Wie Nägel, die in einen Sarg gehämmert werden: Er hatte Nathans als Bruder im Geiste vertraut, hatte großartige Ideen zur Verbesserung der Welt gehabt; Julia, die seinen Eifer, seine Besessenheit durch ihre Liebe und ihre Sichtweise gemildert hatte, das alles hatte sich wie die Falltür des Verrats unter seinen Füßen geöffnet.

Es weckte ihn wie mit einem Schlag ins Gesicht auf, und Danal presste den in Geschenkpapier eingewickelten Kasten dicht an sich, so dass das farbige Papier zerknitterte. Seine Kiefer schmerzten, vom Zusammenbeißen der Zähne. Seine Rache kehrte zu ihm zurück, aber sie traf auf seine neue Erkenntnis und das Gefühl in Bezug auf Leben und Tod. Hatte er das nicht alles hinter sich? Aber was Nathans getan hatte – die widersprüchlichen Emotionen, hatten seinem Ziel eine neue Richtung verliehen und es verändert.

Danal dachte an seine Qual, seinen Tod, sein Leben, seine Liebe … und mit einem starken Feuer der Entschlossenheit, fällte er eine unumstößliche Entscheidung.

Ja, er würde Julia wiederfinden.