Kapitel 38



Jones‘ dunkle Rüstung verschmolz mit den Schatten der nassen Straße. Sein Begleiter, ebenfalls ein Elite-Gardist, und er warteten. In einiger Entfernung konnte er leise herüberklingenden Lärm hören, da sich irgendetwas in dieser Nacht im Metroplex abspielte, aber hier im Viertel der Senioren war alles ruhig. Wie Jones es erbeten hatte, flackerten die nahegelegenen Straßenlaternen und erloschen, so dass das Gebiet in tiefste Dunkelheit getaucht wurde. Am anderen Ende von jedem Straßenzug hatten sich Soldaten in weißen Rüstungen positioniert und wiesen die vereinzelten Passanten an, diesen Bereich weiträumig zu meiden.

Da die Straßenlaternen ausgeschaltet waren, bewegte sich Jones vorwärts und bückte sich mit einem Knie auf dem Boden, in der Sorge, den »Nicht betreten«-Rasenflächen zu nahe zu kommen. Der andere Elite-Gardist blieb zurück, tat so, als wäre er unnahbar oder verärgert, verhielt sich aber zugleich auffällig angespannt.

Jones schlich weiter vorwärts. Er erwartete, das »tödliche Feld« summen zu hören, aber er bemerkte nur die gedämpfte Stille des feuchtkalten Abends. In ein paar Stunden würde die Ausgangssperre beginnen, aber es fühlte sich für ihn bereits in diesem Moment wie eine tote Nacht an.

Jones konnte deutlich die hellen grünen Grasblätter erkennen, wie sie alle vollkommen üppig und lebendig schimmerten. War das nur eine Illusion? Ein Hologramm? Alles, was er wusste, Gerücht für Gerücht, besagte, dass diese Grasflächen tödliche Desintegratoren waren, die einen Menschen blitzschnell, in unendlichem Schmerz, bis auf die Knochen abschälen würden.

Jones hatte eine entdeckt, nur eine gegenteilige Behauptung im Netz, die er daraufhin nicht hatte wiederfinden können. Nathans war sich sicher, dass jemand in dem Rechnerverbund herumpfuschte und an der wirklichen Erklärung für die Rasenflächen herummanipulierte. Aber konnte es nicht genauso wahrscheinlich sein, dass jemand – jemand, der wirklich das Netz manipulieren konnte – eine gefälschte Erklärung für Jones hinterlassen hatte, damit Jones angelockt wurde …

»Gib mir etwas, das ich werfen kann«, sagte er über seine Schulter zurück und schlug damit die Tür zu seiner Angst zu.

Der andere Elite-Gardist blickte sich um und fluchte beim Ausatmen. »Mit diesem verdammten Helm kann ich nichts sehen.« Verrückterweise zog er stattdessen seine Handschuhe aus, und Jones sah, dass auch der andere Gardist eine schwarze Hautfarbe hatte. Die Ferse des Gardisten stampfte mit einem Knirschen mehrfach auf die Straße, bis sich einer der verzierenden Pflastersteine lockerte. Er bekam ihn mit der Klinge seines Glühmessers heraus und warf den Stein Jones zu.

»Ruhe jetzt«, flüsterte Jones.

»Es ist deine Show. Kommst du dir jetzt wichtig vor, oder was?«

Jones zögerte beim Antworten – welchen Grund hatte der andere Gardist, ihn zu ärgern? – aber er beschloss, die Aussage zu ignorieren.

Der andere Gardist hatte nicht wenig beeindruckt gewirkt, als er von dem Mysterium oder von Jones‘ Begeisterung über die »Nicht betreten«-Rasenflächen gehört hatte. »Wie heißt du?«

»Das werde ich dir bestimmt nicht sagen, das ist mal sicher. Ich bin heute Abend in keiner vertrauensvollen Stimmung.«

»Ich heiße Jones«, sagte er, erstaunt und bestürzt über die Haltung des anderen Gardisten. Jones fragte nicht weiter; solange der Typ aushalf, wenn er benötigt wurde, waren die Probleme, die er mit sich rumschleppte, seine eigenen. Da er ein Elite Gardist war, konnte nicht alles ganz so schlecht für ihn laufen.

Heimlich schmiss Jones den Pflasterstein auf eine der vermeintlichen Grasflächen. Er erwartete, einen Lichtblitz zu sehen, ein bestimmtes Geräusch zu hören, aber der Stein fiel einfach durch das Gras hindurch und wurde ohne eine Spur verschlungen. Eine Sekunde später glaubte er ein schwaches Fumb! zu hören, als der Stein irgendetwas weiter unten traf.

Jones stand auf, zog sein eigenes Glühmesser und wünschte sich plötzlich, dass er etwas Längeres, einen Stock oder eine Stange, dabeigehabt hätte. Er sah sich um, aber erkannte sonst nichts. Gleichgültig lehnte er sich über den niedrigen mit Widerhaken versehenen Zaun, streckte seinen Arm aus, soweit es ging, und berührte mit der Spitze des Messers das schimmernde Gras.

Sein dunkler Helm versteckte sein unkontrolliertes Zucken. Mit seinen Fingerspitzen hielt er den Knauf fest, bereit, ihn jede Sekunde loszulassen. Die Klinge verschwand bis zum Griff im Gras. Er blickte näher und Jones konnte den Schatten davon durch das dünne Grasblatt sehen. Er zog das Messer heraus, es war vollkommen unversehrt.

Ein letzter Test. Er blickte zu dem anderen Elite-Gardisten zurück, der widerwillig einen Schritt nähergekommen war, um zuzugucken.

Jones reichte mit seiner Hand vor – mit der linken Hand, nur zur Sicherheit – und fasste das Gras an. Er fühlte sich seltsam verwirrt, da er seine Fingerspitzen verschwinden sah, aber nichts fühlte. Kein Schmerz, nicht einmal irgendeine Veränderung. Zaghaft zog er seine Hand zurück, krümmte seine Finger und stieß sie dann unbekümmert durch die Rasenfläche, bis das Handgelenk eingetaucht war.

Er stand wieder auf, hielt seine Hand wie eine Trophäe in die Luft und zeigte sie dem anderen Elite-Gardisten. »Lass uns gehen. Ich hatte recht.«

»Glückwunsch für dich.«

Sie befestigten ihre Seile oberhalb an der Straße und warfen die Enden hinunter, so dass sie im imaginären Gras verschwanden – aber inzwischen sah es nur eigenartig und keineswegs erschreckend aus. Sie zogen den mit Widerhaken versehenen Zaun heraus und warfen ihn beiseite. Jones ergriff das Seil und ließ sich rückwärts in die grüne Illusion hinunter, bis ihn die Dunkelheit vollkommen übermannte. Während er dort hing und das Seil mit den besonderen Klammern an seiner Rüstung befestigt war, blickte er hinauf und hatte den unheimlichen Eindruck, durch die Rückseite eines Spiegels zu starren.

»Mir geht es gut«, rief Jones, »aber ich kann nichts sehen.«

Er aktivierte die Sichtverstärker an seinem Visier und ließ sich weiter nach unten ab. Das Seil neben schwankte ein wenig und Jones sah, dass der andere Elite-Gardist mit seinem Abstieg begonnen hatte. Jones sah sich um und die Nachtsensoren verpassten dem Dämmerlicht einen leicht grünlichen Farbton.

Mehrere Meter unter ihnen befand sich ein gespanntes Netz, das an den weit auseinanderstehenden Pfählen befestigt worden war. Ein Netz … um jeden zu fangen, der durch die »Wartungsöffnungen«, sei es versehentlich oder absichtlich, herabgefallen sein könnte? Die Halteseile waren neu, kaum mehr als ein paar Jahre alt.

Jones kletterte den Rest des Weges an seinem Seil herab und stieg auf eine der Querstreben. Noch weiter, tief unter dem Metroplex, konnte er eine Reihe rätselhafter Lichter erkennen, aber er wollte auf den anderen Gardisten warten, ehe er mit dem Untersuchen begann.

Gemeinsam kamen sie nur schmerzlich langsam auf den schmalen Gehwegen voran; Jones hörte seinen Begleiter fluchen. Nur ab und zu fanden sie einen Steg, der breit genug war, um sich in einer vernünftigen Geschwindigkeit voranzubewegen.

»Wie laufen die auf diesen Dingern?«, meinte Jones, nachdem er beinahe die Balance verloren hatte. »Oder sind die hier vielleicht nur für die Reparaturratten?«

Der andere Elite-Gardist knurrte und machte keine weitere Bemerkung.

Als sie die Lichter erreichten, blieben sie vor Verblüffung und Erstaunen stehen. Ein ganzes Netz aus Bräunungslampen baumelte herunter und wurde von den elektrischen Hauptleitungen der Stadt darüber gespeist. Plattformen hingen überall in einer verstreuten Anordnung herunter. Kästen und Steigen waren an den darüber liegenden Trägern schwebend aufgehängt worden. Kleine Vorzüge wie Bücher, Schmuckgegenstände und wertvolle Kleinigkeiten zeigten, dass dieser Ort seit einiger Zeit bewohnt wurde.

Aber niemand war da. Um sie herum stand nur ein Wald aus Pfeilern, Querstreben, Trägern; er hörte die Geräusche von knarrenden Tauen und das Plätschern des Ozeans unter ihnen. Aber alles war vollkommen verlassen.

»Was meinst du, wie viele hier unten leben?«, flüsterte Jones.

Der Begleiter sah sich für einen Moment um, als müsse er es abschätzen. »Fünfzig. Vielleicht hundert.«

Sie suchten herum, fanden aber lediglich Spuren – keine Beweise. Jones überprüfte sein Chronometer und machte ein Zeichen, dass es an der Zeit war, zurückzukehren.

Als sie wieder auf der Straße auftauchten, drehte sich Jones um und schaute dem anderen Gardisten beim Heraufklettern durch das Hologramm zu. Jones versuchte, seinen Stolz und seine Begeisterung zu unterdrücken. Und trotzdem kroch ein wenig Aufregung in seine Stimme. »Warte, bis wir Nathans davon berichten! Er wird sich sehr für all das hier interessieren.«

Der andere Gardist brach schließlich sein Schweigen und verstärkte sich in seinem Frust. »Bilde dir nix darauf ein, dass dir Nathans zuhört, Klugscheißer. Du glaubst, dass du für die Elite-Garde ausgewählt worden bist? Wahnsinn!

Du bist nicht wegen einer besonderen Begabung hier, nicht weil du am besten bist. Du bist hier – so wie wir alle – weil wir Nathans ausgeliefert sind. Er kann alles tun, was er will. Aber ihm gefällt das Töten nicht, außer es ist wirklich notwendig – das ist sein großer Fehler. Wenn ihm jemand im Weg steht, kann er das nicht so auf sich beruhen lassen. Er findet einen neuen Weg und benutzt an seiner Stelle dich.«

Jones fühlte sich, als ob er von einer Klippe in eiskaltes Wasser fiel. Seine Zunge wurde trocken, bis zum Rachen, und er konnte nicht antworten. Nein! Was wusste der andere Gardist? Er war zu zynisch, zu pessimistisch – Nathans vertraute dem anderen Mann wahrscheinlich weitaus weniger, und er fühlte sich mit Sicherheit übergangen. So musste es sein. Der Mann wollte Jones nur auf den Boden der Tatsachen zurückholen – es war alles so unbedeutend. Aber ein anderer Teil von ihm gab zu, dass diese Information keine Überraschung war, egal wie bedeutungsvoll Jones seine Arbeit in der Elite-Garde sehen wollte.

Sein Begleiter fuhr fort: »Du bist ihm nicht wichtig. Du hast dich täuschen lassen.«

Jones stand da wie eine Statue. Er weigerte sich, das zu glauben, aber der Knoten in seinem Hals wurden größer und größer; er bewegte sich auf dünnem Eis, das unter seinen Rüstungsstiefeln allmählich zu brechen begann.

Der andere Gardist griff nach vorn, als ob er Jones‘ Schulter anfassen wollte, aber er hielt inne und ließ seine Hand zur Seite zurückfallen. »Jetzt, da ich mir das von der Seele geredet habe, lass uns gehen und unseren Bericht schreiben – wie gute kleine Soldaten.«

Träge folgte ihm Jones. Jede Form eines Selbstwertgefühls war verschwunden.