Kapitel 10
Danal ließ das Licht in dem Raum
eingeschaltet, während er auf einem schmalen Bett wach dalag,
bewegungslos, während sich seine Energiereserven allmählich
aufluden. Im Haus blieb es still. Es war lange nach Einbruch der
Dunkelheit. Aber in den vergangenen Tagen hatte er sich zunehmend
an sein neues Leben gewöhnt.
In Danals spartanisch eingerichtetem Raum gab es ein Bett, einen Plastikstuhl und ein fehl am Platz wirkendes, nichtfunktionierendes, altes Online-Terminal auf einem kleinen Tisch in der Ecke. Nun ja, Diener brauchten zum Existieren keinen Komfort.
Danal lehnte sich zurück, dachte nach und war allein in der alten Villa. Um die Nacht in Frieden zu verbringen, so stellte der Diener fest, konnte er seinen Mikroprozessor herunterregeln, wodurch die Zeit schneller vorüberzugehen schien. Aber er war nicht besorgt darum, dass sein neues Leben zu schnell vorüber wäre. Er brauchte keinen Schlaf; er war sich noch nicht einmal sicher, ob er dazu überhaupt in der Lage sein würde. Und Danal wollte ganz bestimmt nicht herausfinden, welche Träume er dabei hätte.
Aus einem Impuls heraus schaltete er das Licht aus und lag allein im Dunkeln. Um einen Sabbat der Neo-Satanisten zu besuchen, war Master Van Ryman in der Abenddämmerung fortgegangen, zu einer Zeit, in der die Menschenmassen gerade auf die Straßen quollen, ihrerseits auf dem Weg zur Nachtschicht, bevor die Kontrollgänge der Ausgangssperre durch die Soldaten begannen. Als er abreiste, hatte Van Ryman eine provokative Bemerkung gegenüber Danal fallengelassen, dass er sich frei im Haus bewegen solle und tun und lassen könne, was immer er wollte.
Das erste Mal unbeobachtet von all den äußerst wachsamen Augen, ließ Danal diese Maske, seine Diener-Fassade, einfach fallen. Es fühlte sich so unterdrückt, so unnatürlich an, mit dieser mechanischen Effizienz und passiven Selbstzufriedenheit eines Dieners zu antworten. Im Hinterkopf keimte die Frage auf, ob er sich vielleicht vollends als Dieners tarnte, ob die Flashbacks irgendwie bedeuteten, dass Danal mehr von den Toten zurückgebracht hatte, als angenommen … oder ob das bei allen Dienern so war, dass sie allesamt eine Verkleidung trugen, um die Menschen reinzulegen.
Danal stand auf und verließ den düsteren Raum. Zögernd begann er, das große Haus zu erforschen, und er versuchte, dieses Vorrecht nicht zu missbrauchen. Er spazierte durch die Räume, berührte alle Gegenstände mit ehrfürchtiger Vorsicht, starrte Flure entlang, erforschte Kleinkram, ja, ein ganzes Universum an winzigen Details.
Danal hob eine kleine Vase mit einer Porzellanrose auf. Er berührte einen ofengebrannten Aschenbecher – miserabel geformt, aber dennoch verströmte das Ding den Geruch, sehr teuer zu sein. Danal testete die aufwändigen Möbelstücke, eins nach dem anderen.
Er ging in die verschiedenen Bereiche des Hauses, bewegte sich langsam in der völligen Stille. Er war gerade aus dem Schlafzimmer des Masters gekommen und blickte auf eine Sauna mit alten von zu vielem Dampf und heißem Wasser ausgeblichenen Holzbänken. Er zögerte am Eingang, wagte sich nicht hinein. Dieser Ort würde vermutlich Danals Erinnerungen genauso aufwirbeln und aus seinem Gedächtnis schwitzen, wie der Dampf unter den Bodendielen hervorkroch, um den Besuchern die im Körper eingelagerten Giftstoffe aus dem Bindegewebe zu ziehen.
Gleich rechts von der Haustür befand sich der enge Kontrollraum für das Verteidigungs-System. Die unübersichtlichen und komplizierten Schalttafeln blinkten wie die Lichter einer Stadt. Diese bedrohlich wirkende Maschine machte ihm Angst, und Danal stand draußen, blickte nur hinein, tat aber nichts, denn ihn überkam die Sorge, dass er irgendetwas kaputtmachen oder verstellen könnte.
Im geräumigen Wohnzimmer am Ende der Haupthalle fand der Diener eine niedrige Tür, halb versteckt unter einer Treppe, die zu einem Loft und zu zwei weiteren Räumen führte. Er hatte das Gefühl, als ob ihn die Tür magisch anzog, aber als er die Klinke nach unten drückte, stellte er fest, dass sie verschlossen war. Danal zog ein wenig kräftiger, aber die Tür rührte sich nicht. Eine Gänsehaut überkam ihn, dann wandte er sich von der Tür ab und versuchte, nicht mehr daran zu denken.
Danal ging in das Studierzimmer, in jenen Raum, in dem ihn Van Ryman am Anfang befragt hatte. In den folgenden Tagen sollte er das Haus sauber machen und sich sorgfältig um die Pflanzen und Blumen im Terrarienzimmer kümmern. Er hatte bereits zu kochen versucht, hatte frische Zutaten und nicht abgepacktes Gemüse und Fleisch benutzt. Aber selbst als er Schritt für Schritt und nach Kochanweisung vorging, schien es keineswegs so, als ob er Talent dafür hätte.
Im Studierzimmer fielen ihm die Teppichläufer bei dem schwarzen Flügel auf. Um es auszuprobieren, ließ er seine Finger über das Synthesizertastenfeld gleiten, aber das Instrument war abgeschaltet worden, so dass keine Musik erklingen konnte. Er ging an den Bücherregalen entlang, las die Buchrücken der Neo-Satanisten-Texte. Behutsam öffnete er eins, dessen Aufschrift besonders unheimlich klang – das Malleus Maleficarum –, und überflog ein paar Seiten. Das alles klang wie ein Kauderwelsch aus künstlichen lateinischen Ausdrücken, die irgendwie rätselhaft und obskur wirken sollten, aber eigentlich keine Bedeutung hatten. In rotbrauner Tinte waren verschiedene Formen, Symbole und Dinge, die wie Zaubersprüche aussahen, eingezeichnet worden.
Mit wachsender Begeisterung stellte Danal das Buch zurück und ging zu dem weißleuchtenden Hologramm auf dem Kaminsims hinüber. Der Kamin mit einem grauen Kristall darin wirkte tot und kalt. Er bediente wieder die Steuerung des Hologramms, kam zu der Strandszene des Bildes auf dem Van Ryman und Julia zu sehen waren. Er starrte auf das Bild, fühlte sich gequält, ertrank für einen langen Moment in den Details. Sein Herz fühlte sich dabei schwer an, obwohl er nicht einmal wusste warum.
Danal stand bewegungslos und beunruhigt davor. Überlegte, wartete, dachte nach. Er hörte die Worte des Masters andauernd in seinem Kopf widerhallen. Um dir mein Wohlwollen zu zeigen, werde ich dich hier alles inspizieren lassen, was auch immer du siehst, wann immer du es wünschst.
Er horchte in die Stille hinein, wusste, dass Van Ryman nicht dort war, und ging zu dem antiken Online-Terminal. Er blickte auf den leeren Bildschirm, hinter dem die Worte wie geheimnisvolle Beschwörungen aus dem Netz zu kommen schienen. Er starrte es an, war geradezu hypnotisiert.
Danal griff nach vorne, berührte fast die Tastatur, zog die Hand aber wieder zurück, hielt inne, dachte für einen winzigen Moment, wie lächerlich das war, und griff wieder nach vorn. Seine Finger berührten die Eingabetafel und drückten »Return«. Echte, mechanische Tasten bewegten sich runter und hoch, als seine Finger draufdrückten und den Impuls auslösten, der den Bildschirm zum Leben erwachen ließ:
»Willkommen im Bay Area Metroplex Netzwerk.«
»Benutzername:«
Danal saß in dem Stuhl vor dem Terminal, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, und tippte ein paar Buchstaben ein. Mit den wenigen Namen in seinem beinahe leeren Gedächtnis gab der Diener »Vincent Van Ryman« ein. Als Antwort verlangte das Netz sofort nach einem Zugangscode. Danal fühlte sich für einen Augenblick etwas benommen und hämmerte ein komplexes, geradezu zufälliges Muster aus Zahlen und Buchstaben in die Tasten.
Die farbenfrohen Pixel verschwanden kurz, und Danal lenkte seine Gedanken durch den eigenen Mikroprozessor, um die Geschwindigkeit seiner Sinne, denen des Netzwerks anzupassen. In der Dauer eines gefühlten Jahres schienen zufällige Pixel auf dem Bildschirm aufzuflackern und wieder zu verlöschen, ehe von neuem eingegebene Zeichen auftauchten.
»Willkommen im Netzwerk, Vincent Van Ryman. Wie können wir Ihnen heute helfen?«
»?«
Danal wurde plötzlich klar, was er getan hatte, dass er irgendwie Van Rymans vermutlich unknackbares persönliches Online-Kennwort eingegeben hatte, einen Zugangscode der zehnten Ebene. Er starrte voller Ehrfurcht auf seine Fingerspitzen.
Danal loggte sich sofort wieder aus und ging zwei Schritte vom Terminal weg, als ob es ihn beißen, ihn angreifen oder ihn verschlingen könnte. Er drehte sich um und eilte zu seinem Zimmer zurück. Dort schaltete er alle Lichter ein und ließ sie auch eingeschaltet.