Kapitel 14
In
ihrem Quartier suchte die Vorarbeiterin den zweiten Satz der
siebten Symphonie Beethovens in der musikalischen Online-Bibliothek
heraus und setzte das Stück auf Autorepeat. Der langsame, ruhige
Anfang der Musik erklang aus einer dünnen Reihe von
Mikrolautsprechern, die in Bauchhöhe einmal um den ganzen Raum
herum angeordnet waren. Sie benutzte das Tastenfeld, das auf ihre
Handfläche tätowiert worden war, um die implantierten Lautsprecher
in ihrem Kopf zu aktivieren, wodurch ihr Geist direkt mit der
elektronischen Übertragung des symphonischen Meisterwerks verbunden
wurde.
Sie schloss ihre dicken Augenlider, ergötzte sich an den reinen digitalisierten Tönen, an der verzückten Erfahrung der wirklichen Musik in ihrem Inneren, die bisher nur wenigen Menschen zuteilgeworden ist. Sie erlaubte sich, jede Note für sich selbst zu genießen, in ihrem Innern, wo niemand sonst sie erfahren konnte. Das finstere Andantetempo versetzte sie in die richtige Laune, um mit der Suche zu beginnen.
Außerdem zog die Aufseherin ihre ärmellose violette Tunika aus und legte sie ordentlich über den Meditationsstuhl. Nackt stand sie da, öffnete ihre drei gleichlangen Zöpfe und bürstete sich das bläulich blonde Haar aus, bis in der Ansammlung der Strähnen bereits die ersten Haare durch die entstandene Reibung wie zufällig angeordnet vom Kopf abstanden. Sie hätte niemals behauptet, dass es in ihrer Wohnung zu leer, zu einsam war; denn mit dem ganzen Online-Netzwerk des Unternehmens, konnte einer Schnittstelle wie ihr einfach nicht langweilig werden.
Die Aufseherin nahm den Stab, legte eine Widerstandsleitung von der Stromplatte an der Wand über den Fußboden bis zur Mitte des Raums, wo sie sitzen würde. Sie zündete Weihrauch an, schaltete dann alle Lichter aus, blieb in der Dunkelheit mit einem schwachen roten Glühen zurück, das von den Stimmungsflecken der an die Wand gemalten Photorezeptoren zurückgeblieben war.
Im Zentrum des Rings der Widerstandsleitung setzte die Aufseherin ihren gedrungenen Körper in einen Lotussitz auf den Fußboden. Sie konnte den angenehmen Druck des gleichmäßig strukturierten Teppichs an ihrem Gesäß fühlen. Die Temperatur im Raum war optimal. Sie kontrollierte ihre Atmung, hörte für ein paar Minuten Beethoven-Musik, hielt ihre Augen beim Fortspülen aller Hemmnisse geschlossen. Dann fuhren ihre Fingerspitzen über das Tastenfeld auf ihrer Handfläche und sie loggte sich im Computer-Netzwerk ein.
Die Aufseherin hatte sich bereits eine Strategie für ihre Suche im Hinterkopf zurechtgelegt. Das Krematorium. Die Information muss irgendwo im Netz existieren. Sie beschloss, sie zu finden, sie aus ihrem Versteck zu locken. Das Problem würde ihre ganze Aufmerksamkeit erfordern, ihren ganzen Körper, und es würde sie von dieser … Trivialität wegführen. Die Aufseherin würde der Resurrection Inc. noch einmal ihren unglaublichen Wert beweisen können.
Natürlich hatte sie es sich ausgesucht, das Krematorium ausfindig zu machen, da ihr die reine Herausforderung noch wichtiger war als ihr Pflichtbewusstsein dem Unternehmen gegenüber. Im Leben alleine gab es zu wenige Herausforderungen. Daher genoss sie die prickelnde Erregung, die ihr über das Rückgrat fuhr.
Persönlich war es der Aufseherin egal, was das Krematorium tat; moralische Bedenken waren etwas für schwächere Menschen, die kein Interesse am Erkennen einer weitaus bedeutenderen Welt hatten. Resurrection Inc., mit all seiner Macht und Sichtbarkeit, hinderte jeden daran, der sich ihren Plänen und Aktionen entgegenstellte. Das Krematorium kämpfte für eine andere Art der Existenz, mit einer Philosophie, die allen Ansichten des Unternehmens entgegenstand. Und ungeachtet der objektiven Sichtweise auf ihre Beweggründe empfand die Aufseherin eine tiefe Bewunderung für das Krematorium, da die Gruppe es geschafft hatte, so lange unentdeckt zu bleiben.
Francois Nathans hatte bereits seine besten Hacker und Datenbankanalytiker darauf angesetzt – aber ganz egal wie begabt auch immer sie gewesen waren, so hatten sie stets unter ihrer Einschränkung leiden müssen, einfach nur menschlich zu sein. Einzig und allein eine lebende Schnittstelle war in der Lage dazu, eine solch tiefgreifende Suche durchzuführen.
Die Aufseherin betrachtete im Allgemeinen normale Menschen mit einer halbtoleranten Abneigung. Sie hatte verstanden, dass, obwohl sie oft bis an ihr Äußerstes gingen, sie dennoch von der Verletzbarkeit und Unberechenbarkeit eines biologischen Organismus‘ festgehalten wurden. Es war für die normalen Menschen unmöglich, über die Geschwindigkeit, die Zuverlässigkeit, das logische Verständnis oder den Erfahrungsschatz einer Schnittstelle zu verfügen. Einer Schnittstelle wie ihr.
Seit den Tagen ihrer klar strukturierten Kindheit hatte die Aufseherin alle fleischlichen Begierden hinter sich gelassen – nicht nur Sex, sondern auch unwichtige, persönliche Kontakte, den Genuss der tollen Aussicht, den man rund um den Metroplex genießen konnte, und jegliche Gaumenfreuden. Letzteres war für sie nur ein Mittel, um Energie in sich aufzunehmen, obwohl sie sich doch ab und zu erlaubte, der Kunst von einem hervorragend zubereiteten Abendessen und einem fein aufgesetzten Likör zu frönen.
Sie fand es allerdings wesentlich angenehmer, in der Online-Arbeit zu versinken, durch Alleen von Daten zu wandern und die hellen Lagerhäuser von Informationen neu zu sortieren, ohne sich alle Details merken zu müssen, da sie jederzeit wieder darauf zugreifen konnte.
Einige Menschen hatten Ahnung davon, obwohl es für sie längst zu spät war, selbst zu einer wahren Schnittstelle zu werden. Rodney Quick war zum Beispiel ein fähiger Mensch; er wusste, wie das Netz zu benutzen war. So ein schlechter Typ war er ja gar nicht – eigentlich schmeichelte er ihr ja sogar mit seiner lächerlichen Angst vor ihrer Autorität. Geradezu unbewusst hatte sie auf seine Angst reagiert, wodurch sie befehlend und einschüchternd geworden war. Es war eine neue Herausforderung für sie, als sie beschlossen hatte, alles aus ihren Kräften herauszuholen und dann das durchzuführen, was Rodney anscheinend von ihr erwartete: ihn zu zerstören, so vollständig und ganzheitlich, wie sie konnte.
Es war keine Boshaftigkeit seitens der Aufseherin, denn Bosheit war ein menschliches Ding. Aber Rodneys gelegentliches »Spannen« bei den weiblichen Dienern in seiner Spätschicht zeigte, dass er sich viel zu sehr von körperlichen Reizen beeinflussen ließ.
Die Aufseherin hatte bereits drei andere Personen vernichtet, hatte ihre Fallstricke ausgelegt und einfach straffgezogen. Es war ein kompliziertes und herausforderndes Spiel, das sie jedoch vollständig befriedigte. Normale Menschen hätten meinen können, dass dieser Zeitvertreib grausam und böswillig wäre, aber sie hatte auch verstanden, dass es für sie eine Art Befriedigung und Genugtuung darstellte, die das Resultat ihrer ungewöhnlichen Kindheit war. Für andere Menschen gab es normale, routinierte Aggressions-Ventile – andere Menschen verprügeln, irgendwas mitgehen lassen oder den Fliegen die Flügel ausreißen.
Wenn sie Rodney Quicks Tod verursachte und ihn als Diener wiederauferstehen ließ, würde sie ihn seinem Ideal gewissermaßen einen Schritt näher bringen. Aber nur, wenn der Wiederauferstehungsprozess nicht fehlerhaft verlief. Nur wenn das Einpflanzen des Mikroprozessors die Kontrolle über Rodneys Gehirn erlangen würde, um auf seine Gedanken und körperlichen Bewegungen Einfluss zu nehmen, wodurch die Person sie selbst beherrschen konnte, dann war das ein Schritt in die richtige Richtung. Nachdem allerdings so viele Diener wie Schaufensterpuppen rausgingen, so schlussfolgerte sie, dass der Prozess über das Ziel hinausgeschossen war und dass etwas entwickelt worden war, das mehr Maschine als Mensch darstellte.
Ganz im Gegensatz zu der perfekten Fusion, aus der sie selbst bestand.
Das Netzwerk akzeptierte ihre Login-Daten, und sie fühlte, wie sich ihr Bewusstsein mit dem Strom an Informationen verband. Die verschiedenen Verzeichnisse befanden sich wie Torwege vor ihr – jedem folgte ein unendlicher Korridor aus weiteren Spiegeltüren. Jedes Verzeichnis wirkte wie ein separates Museum des Wissens, mit mehr Wissensdetails, als ein einzelner Geist überhaupt begreifen konnte.
Beim Betreten des riesigen Netzwerkes ließ die Aufseherin ihren materiellen Körper zurück. Sie wusste, dass sie, sofern sie sich umdrehte und ihr digitales Ich anschauen könnte, nur ein verschwommenes Gebilde aus weißstrahlendem Licht sehen würde, das auf die verschiedenen Datenbahnen strahlen würde. Hier war sie zu Hause. Hier war Frieden.
Sie hatte bereits viele Online-Erfahrungen sammeln können und brauchte nur einen Moment, um sich wieder in ihrem neuen körperlichen Zustand zu orientieren. Mit der ganzen Energie des Internets, von der sie zehren konnte, und mit der zusätzlichen Kraft, die über die Widerstandsleitung, die von den Stromtellern an der Wand gespeist wurde, würde sie keineswegs Gefahr laufen, müde zu werden.
Sie begann mit der Suche.
Als Schnittstelle konnte die Aufseherin einen Weg wählen, der ohne jegliches Hindernis von Passworten verlief – nach oben und nach unten, hinein und hinaus –, in allen Dateiordnern herumwühlen, die ihr wichtig erschienen.
Sie startete, indem sie eine Liste von allen Diener-Rohlingen erstellte, die als vermisst galten (Waren das Erfolge des Krematoriums?), und dann in völliger Routine, sämtliche Aufzeichnungen über diese zusammensammelte. Die vorangegangenen Datenaktivitäten einer verstorbenen Person blieben nur für eine gewisse Zeit zugänglich, ehe sie gelöscht oder auf einem externen Gesamtspeicher ausgelagert wurde. Sie packte die Informationen in einen offenen Ordner und aktivierte einen weiteren routinierten Ablauf, um zwischen all den Daten nach Zusammenhängen und Parallelen zu suchen.
Die Aufseherin wandte sich anderen Wegen zu, während das Filterprogramm hinter ihr weiterarbeitete. Sie kam zu den Protokolldateien der Soldaten, die während ihrer routinierten, pflichtbewussten Patrouillengänge Leichen gefunden hatten, und verglich die Namen, um sich davon zu überzeugen, dass jeder dieser Leichname auch zur Resurrection Inc. überführt worden war; einige Namen waren natürlich von beiden Listen verschwunden, und sie parkte die wachsende Menge an Informationen in einen Ordner, den sie hinter sich herzog. Als Drittes überprüfte sie den Zentralspeicher des Netzes, in dem sich die Totenscheine befanden, sie speicherte sie und verglich die Verstorbenen mit den beiden Listen, um so weitere Namen der Verschwundenen ausfindig zu machen.
Die wachsende Anzahl an Unterordnern, zwischen denen ein unentwegter Datenstrom verlief, um generelle Abläufe zu überprüfen, stieß am Ende die tatsächlichen Anomalien aus. Die Aufseherin wurde zunehmend beunruhigter – sie bezweifelte sogar, dass sich Francois Nathans des Umfangs der Einflussnahme des Krematoriums bewusst war.
Sie kehrte zum Ausgangspunkt zurück, wo sie die Ausgabedatei empfing und noch einmal das elektronische Postarchiv nach den fehlenden Personen durchsuchte. Der Computer begann die Informationen zu lagern und zu verknüpfen und zu vergleichen, suchte nach Gemeinsamkeiten und überprüfte all die Postein- und -ausgänge.
Jeder dieser Namen durchlief das Netz, um irgendeine Verbindung mit dem Krematorium herzustellen – bei einigen mit anzunehmender Wahrscheinlichkeit, andere waren vermutlich durch einen traurigen Zufall auf die Liste gekommen. Aber bei allen tauchte der Name wieder auf. In weniger als einer Sekunde suchte die Aufseherin die versandten Nachrichten ab, jedoch mit dem frustrierenden Ergebnis, dass keine von ihnen irgendwo hinführte. Es waren alles lediglich Versuche, sich mit jemandem in Verbindung zu setzen, irgendjemandem – Suchergebnisse intensiver Datenbankrecherchen oder kurze Mails, die immer wieder an »Das Krematorium« verschickt worden waren.
Dann veränderte die Aufseherin ihre Herangehensweise, brach mit der Routine und ging erneut durch die Dateien, diesmal auf der Suche nach gewöhnlichen, erhaltenen Nachrichten. Mit dieser ausreichenden Menge, von zufällig ausgewählten Menschen, gelang es ihr, fehlgeleitete Nachrichten und Massenwerbemails zu entfernen.
Nach einigen Wiederholungen verstand sie das Prinzip: Jeder hatte eine Nachricht erhalten, die alle von derselben E-Mail-Adresse verschickt und gelöscht worden waren. Sie ging wie ein Grabschänder vor, um die ursprüngliche Nachricht auszugraben, aber sie konnte nur ausgewählte Stücke vom Text sammeln. Es klang harmlos genug wie eine einfache Geschäftsanzeige über spezielle Landschaftskarten und demographische Studien. Sie wanderte einen anderen Datenkorridor entlang, suchte den Namen des Absenders, und stellte fest, dass er nicht existierte.
O. Immerkraut.
Krematorium.
Sie kletterte den Weg zurück, über den Weg der gelöschten Nachrichten, begeistert von der Herausforderung, der Möglichkeit auf Erfolg. Am Wegrand sah sie mehrere Sackgassen, falsche Vernetzungen und versteckte Sprengfallen, die sogar jeden Superhacker zu Fall gebracht hätten. Aber sie war eine Schnittstelle. Und sie machte sich auf den Weg zum Home-Ordner.
Und sie fand das Krematorium.
All diese Informationen waren ihr zuvor verheimlicht worden, aber nun ergründete die Aufseherin die tiefsten Geheimnisse des Krematoriums. Mit wachsendem Unbehagen fand sie Informationen, die sie zuerst überraschten und ihr dann das Gefühl gaben, ein Idiot zu sein, da sie das nicht beachtetet hatte …
Die Aufseherin wollte sich gerade im Triumph umdrehen und das Netz verlassen, da begannen sich die elektronischen Torwege und die verbundenen Datenwege vor ihr nacheinander zu schließen. Sie konnte den Einfluss einer anderen Schnittstelle fühlen, ganz anders, als sie es je gekannt hatte, als gäbe es unwirkliche Geister, die das Netz nicht verlassen hatten. Sie hatten sich im Wald der Dateien und Verzeichnisse wie auf sie wartende Raubtiere versteckt. Als sie sich vorwärts bewegten, konnte sie die elektronischen Wesenheiten sehen, formlose, verschwommene Dinge aus hellen Farben, die in einigem Abstand vor ihr herumschlichen.
Die verschlossenen Torwege umgaben sie, bewegten sich immer näher. Zusammen wären die anderen Schnittstellen wesentlich stärker, und die Aufseherin konnte nicht entkommen. Sie konnte das Wissen des Krematoriums aller um sie sehen und wurde davon gefangengenommen. Obwohl sie mit ihrem Bewusstsein gegen die Barrieren schlug, wurden sie stärker und stärker, wodurch ihre Angst und ihre Hilflosigkeit wuchsen.
Immer mehr komplexe Verriegelungen wurden um sie herum eingesetzt, während die anderen Schnittstellen die Datenbahnen neu ordneten. Für das erste Mal, seit sie sich erinnern konnte, wurde die Aufseherin im Netz gefangen und darin vollkommen auf einer Dateninsel isoliert. Ihre immaterielle Form hatte keine Stimme, mit der sie hätte um Hilfe schreien können. Und es gab keine Möglichkeit, dass sie herauskam. Jemals …
In der Wohnung der Aufseherin, endete unterdessen Beethovens Symphonie Nr. 7, kehrte zum Anfang zurück und wiederholte sich dann immer wieder und wieder.