Kapitel 36
Zia
starrte auf die Erwachten in der Unterwelt, saugte jedes Detail in
sich auf. Wegen des falschen Gesichts und der gestrafften
Augenlider konnte Danal den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht
deuten, aber er konnte Zias wachsende Ehrfurcht spüren. Sie war
still geblieben, als sie sie durch den Eingang eines
Kellergeschosses geschmuggelt hatten, wodurch ihr all der
verbitterte Spott abhandengekommen war. In dem Erstaunen darüber,
aus dem Krankenhauskomplex befreit zu sein, wurde sie zugleich von
der tatsächlichen Existenz der Erwachten und ihrer Welt
gefangengenommen, die sie unter der Stadt gebaut hatten; aber am
meisten freute sich Zia darüber, dass Francois Nathans nicht im
Geringsten an die Erwachten dachte.
Sie saß allein auf einer Hängematte, war still und träumte mit offenen Augen, während die anderen Erwachten die neue Entwicklung von Ereignissen diskutierten. Ohne Handschuhe oder Lappen zu benutzen, hatte Zia die heiße Bräunungslampe über ihrem Kopf aus der Fassung geschraubt und hielt sich von da an in den finsteren Schatten auf, auch wenn ihre Missbildung für alle Erwachten erkennbar war und sie sich nicht davor scheute, sie zu zeigen.
Danal verschränkte seine Finger hinter seinem kahlen Kopf und reckte seine Ellenbogen zurück, bis die Gelenke knarrten. Er ließ für ein Moment die Stille wirken, drehte dann seinen Blick den versammelten Erwachten zu.
Gregor hockte etwas abseits, sah Danal dabei zu, wie er sein Ding machte, rieb sich seinen großen kantigen Unterkiefer und wartete. Danal sprach vorsichtig, versuchte die Reaktionen seiner Zuhörer einzuschätzen, entschied sich aber dann, dass es Zeit war, sie für sich selbst entscheiden zu lassen. Ehe einer der Erwachten sprechen konnte, stand Gregor auf und sprach Danal an. »Lass mich für eine Minute dein Strohmann sein. Des Teufels Advokat, sofern du mir das Wortspiel verzeihst.«
Danal beobachtete ihn, versuchte, Feindseligkeit oder Groll in den Augen des Erwachten zu entdecken, aber er sah nur ein unruhiges Überlegen.
»Warum sollten wir Erwachten alles aufgeben, das wir uns erarbeitet haben? Du bittest uns, dass wir uns Nathans und den ganzen Neo-Satanisten zeigen – aber das wird uns in ihren Augen mitleidig erscheinen lassen. Deine Gründe sind für mich nicht deutlich genug. Das klingt eher wie eine persönliche Vendetta.«
Die anderen Erwachten warteten gespannt. Rikki. Laina. Rolf. Vierzig andere. Empfanden sie das als ein Kräftemessen? Julia musste irgendwo dort draußen sein, ruhig und geduldig, wahrscheinlich bewegungslos, so wie es ihr befohlen worden war. Danal wollte nicht mit Gregor anlegen, aber er durfte jetzt nicht zögern.
»Es ist mehr als das. Wenn ich es allein tue, kann ich nicht gewinnen – da bin ich mir sicher. Und ein halber Sieg bei diesem Spiel ist nichts wert. Ich brauche eure Unterstützung, von euch allen. Schaut euch Zia an und erinnert euch daran, was Nathans heute Abend beim Hohen Sabbat zu tun vorhat – du bist eine pflichtbewusste Person, Gregor. Ist es nicht das Richtige, ihn so schnell wie möglich aufzuhalten?«
»Sag du es mir, Danal – was ist denn das geringere der beiden Übel? Die Neo-Satanisten retten oder die Erwachten schützen?«
Die anderen begannen, leise zu murmeln, und Danal wusste, dass er einen anderen Weg einschlagen musste. Wasser tröpfelte weiter unter ihnen, und irgendwo in der Dunkelheit arbeitete eine Reparaturratte unter Klicken und Trippeln. Die ganze Welt der Träger und Pfähle schien lebendig zu sein und nur darauf zu warten, in Aktion treten zu können. Er brauchte eine ganze Weile, bis er sein Argument in Worte gepackt hatte, dann leuchteten seine Augen auf und er sprach.
»Gregor, wenn ich Nathans vollkommen besiegen kann und ihm seine Macht vollständig entreiße … dann wird Resurrection Inc. mir gehören. Rechtmäßig. Ich glaube, dass wir das können – zum einen wegen all der Beweise und wegen der glaubhaften Geschichte, die ich erzählen kann.« Er machte eine Pause, achtete auf die dramatische Wirkung. Es beunruhigte ihn. Die Spannung war nahezu unerträglich. So viel hing von diesem Moment ab.
»Dann können die Erwachten jede legale Forschung durchführen, die sie brauchen, mit der bestmöglichen Ausstattung, die es gibt – vielleicht findest auch du Antworten auf all deine Fragen, Gregor. Und wenn wir Erwachten Resurrection Inc. in unsere Gewalt gebracht haben, dann können wir jede Entscheidungen sofort realisieren. Sollen wir aufhören, Diener zu machen? Wir könnten das tun, wenn wir wollen. Können wir den Auferstehungsprozess beenden, damit Erwachte niemals wieder auftauchen, und die verlorenen Seelen wirklich in Frieden ruhen?« Er machte eine Pause. »Können wir andere Wege finden, um Julias Erinnerungen zurückzubringen?
Wir können jedoch nichts davon tun, wenn wir nicht gegen Nathans gewinnen. Heute Abend. Er zwingt uns zum Handeln, ich weiß. Aber wir werden das zu unserem Vorteil nutzen. Nur können wir nicht gewinnen, wenn ich nicht die Hilfe aller Erwachten bekomme.«
Danal wartete, fühlte den gleichmäßigen Taktschlag seines SynHerzes. Gregor antwortete nicht auf das, was er gesagt hatte.
»Du musst zugeben, dass das verdammt gute Argumente sind, Gregor«, meinte Laina. Viele der anderen Erwachten murmelten zustimmend.
Gregor schaute sich wieder Zias schlimme Gesichtszüge an, schwankte zwischen dem hellen und dunklen Schatten hin und her, da die Hängematte schaukelte. Danal beobachtete den Gesichtsausdruck von Gregor, und er wusste, dass der andere Erwachte einen Entschluss gefasst hatte.
-
Danal fand eine öffentliche Online-Kabine und rutschte hinein. Der Zeitmesser in seinem Kopf sagte ihm, dass kaum eine Stunde seit der Zusammenkunft der Erwachten vergangen war und die Dinge allmählich ins Rollen kamen. Er atmete tief ein, fühlte die Spannung in sich aufsteigen. Bald wäre alles vorüber. Nur wünschte er sich noch viel mehr, dass es niemals angefangen hätte.
Die Luft war feucht und kalt, graue Wolken bedeckten den Himmel. Andere Fußgänger bewegten sich schnell über die Gehsteige, mit gesenkten Köpfen, achteten auf nahezu nichts, was neben ihnen passierte. Ein Großraumtransporter fuhr vorbei, hielt an jeder Ecke, aber niemand stieg ein oder aus. Einige Arbeitslose saßen still nebeneinander auf dem Betonrand eines stillgelegten Brunnens. Die Kälte streifte ihre Wangen und färbte sie rosa.
Danal blickte zwischen den großen Gebäuden nach oben, wo die zackigen Giebel der Van-Ryman-Villa in den trostlosen Himmel übergingen. Er hatte diese spezielle Kabine aus dem bestimmten Grund ausgewählt, damit er die Villa im Auge behalten könnte. Sie würde als Zunder für seinen Zorn dienen, für seinen Entschluss.
»Nathans zerstörte mein Leben und meine Liebe«, sagte er zu Rikki, der neben ihm saß, »aber mein Doppelgänger dort drüben stahl meine Identität – mich. Das ist eine persönlichere Beleidigung, und ich werde ihn allein damit konfrontieren. Damit wird alles beginnen.«
Zia hatte ebenfalls gemeint, dass sie den falschen Van Ryman zuerst konfrontieren sollten. »Ja, Nathans ist die treibende Kraft hinter den Neo-Satanisten und all ihren Plänen. Aber der Doppelgänger ist der Hohepriester. Selbst wenn wir jetzt Nathans bekommen, wird Joey trotzdem heute Abend das Blutbad anrichten. Warum sollte man ihn also nicht zuerst ausschalten, da er den unmittelbaren Schaden verursachen würde? Außerdem wird das Nathans ins Schwitzen bringen.«
Danal und der Junge hatten sich in den Stand gezwängt, um zugleich dem kalten und feuchten Wetter zu entfliehen. Sie waren zusammen nach draußen gegangen und hatten sich als Vater und Sohn verkleidet, um mit den Vorbereitungen zu beginnen. Rikki feierte seine Rolle und hing an Danals Seite, fragte ihn andauernd und zeigte mit dem Finger in alle möglichen Richtungen. Im Lager der Erwachten arbeiteten Gregor und Laina derweil an anderen Plänen. Danal wünschte sich, dass er an beiden Orten zugleich sein könnte, aber er hatte es vorgezogen, »oben« zu sein, wo das Begegnen der Villa seinen Zorn füttern konnte.
In der Online-Kabine meldete sich Danal als Vincent Van Ryman an und sofort erschien das Hauptmenü auf dem Bildschirm. Er kratzte sich am Hinterkopf, versuchte den Knoten der Anspannung zu massieren. Dann stand er mit einer flüssigen Bewegung von vor der Tastatur auf. »Du bist dran«, sagte er und drehte das Terminal dem sommersprossigen Erwachten entgegen.
Rikki knackte demonstrativ mit seinen Knöcheln, ehe seine Finger über die Tasten flogen. Ab und zu hielt er inne und überprüfte seine Eingaben auf dem Bildschirm und fuhr am Ende weiter fort, in die Tasten zu hauen. Bei der Geschwindigkeit und Intensität seiner Anschläge verlor Danal bald den Überblick über das, was er machte.
»Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele Reparaturratten im ganzen Metroplex gibt!«, schrie Rikki, als sich die Anzeige auf dem Bildschirm darstellte. »Schau dir das an!« Danal spähte dem Jungen über die Schulter. Zahlen und Koordinaten scrollten in einem unendlichen Strom über den Bildschirm.
»Und das sind nur diejenigen in diesem Abschnitt. Sie reproduzieren sich selbst, erinnerst du dich?« Danal tippte die Bilder an. »Aber wir benötigen nur ein Paar davon ihnen.«
Rikki fand zwei Reparaturratten im Umkreis der Van-Ryman-Villa und löschte dann alle anderen aus der Anzeige.
»Ab hier übernehme ich«, sagte Danal.
Rikki schaute sich ihn ein wenig herablassend an. »Und du brauchst auch ganz bestimmt keine Hilfe mehr?«
Danal schlug dem Jungen gegen die Schulter. »Ich bin kein Vollidiot. Ich war normalerweise ziemlich gut im Netz – ich werde auch jetzt noch ein paar Handgriffe draufhaben.«
Während er sprach, synchronisierte er die Echozeichen der Reparaturratten mit der Schaltung des Verteidigungs-Systems der Van Rymans-Villa. Danal verlor sich in seinen Gedanken an die Details, Pläne und elektronischen Darstellungen. Er öffnete ein anderes Fenster auf dem Bildschirm, versuchte, mit verschiedenen Bibliotheken Verbindung aufzunehmen, aber die Details des Verteidigungs-Systems von Van Rymans waren verständlicherweise unmöglich zu bekommen. Er atmete lange aus und kehrte zu seiner Arbeit zurück, die ihn dazu zwang, sich auf seine Erinnerungen zu verlassen. Er hatte die Systeme entworfen – seine Intuition würde ihm helfen.
Rikki beobachtete ihn fasziniert, rückte näher, aber Danal schenkte ihm keine Beachtung. Draußen presste ein älterer Mann für einen Moment sein Gesicht gegen die Online-Kabine, starrte hinein und ging wieder. Rikki schaltete die Bildschirme in einen Privatmodus.
»Willst du das Verteidigungs-System abschalten?«, fragte Rikki. »Damit du reinkommen kannst?«
»Nein. Ich will nichts tun, was er bemerken kann. Ich bin nicht besorgt darüber, hineinzugelangen. Ich habe mir eine Fluchtklappe eingebaut, eine Art geheime Hintertür, als ich die Systeme entwarf. Der Doppelgänger kann davon nichts wissen – das kann niemand. Meine Erinnerung daran kam erst vor ein paar Tagen zurück. Das besiegt den Doppelgänger, sobald ich hineinkomme – darum ist es ja so wichtig.«
Vor dem Kamin sitzen und mit Julia Cribbage spielen … sich in der Sauna entspannen und Eistee trinken … wie ein Idiot auf dem Dach balancieren und mit dem Brecheisen Wasserspeier abreißen … den Hovercopter fliegen, nahe dem Ozean landen und Julia vor erschrockener Freude lachen hören. Das waren seine Erinnerungen, aus seinem Leben – niemand konnte sie ihm stehlen. Er erinnerte sich an ihr Bild auf dem Hologramm über dem Kaminsims und – das andere Bild – als der Diener Julia geistlos und unbedacht behandelte. Einige Dinge sind zu heilig, um sie zu stehlen. Er freute sich darauf, den Doppelgänger damit zu konfrontieren.
»Die Reparaturratten werden ein paar Stunden brauchen, um damit fertig zu werden«, sagte er zu Rikki. »Ich muss hier bleiben und sie anleiten. Warum vergewisserst du dich nicht lieber, dass Gregor nicht heute Nacht noch seine Meinung ändert?«
»Ich will hier bleiben und helfen …«
»Du würdest mir am meisten helfen, wenn du gehst und dich darüber vergewisserst, dass Gregor seine Meinung nicht geändert hat. Außerdem benötige ich etwas Zeit allein, um … um mich zu konzentrieren, weißt du? Ich muss darauf vorbereitet sein.«
Rikki nickte. »Viel Glück dann.« Er gab Danal einen schnellen, unbeholfenen Handschlag, bevor er aus der Online-Kabine aufstand und in den Straßen verschwand. Danal lehnte sich zurück und wartete, ließ seine Gedanken immer wieder in seinem Geist kreisen, bis es Zeit war. Er überwachte die Koordinaten der Reparaturratten auf dem Bildschirm, die unterdessen ungesehen unter der Erde arbeiteten.