Kapitel 28



Danal sprang von dem dünnen Übergang hinunter, motorisch einwandfrei, und landete fast lautlos auf Gregors abgeschiedener Plattform. Unter dem hellen Licht der Bräunungslampen blickte der Anführer auf und ließ seine Finger über die Seiten seines Buches gleiten. Er ließ ein Lesezeichen aus Stoff an die entsprechende Stelle rutschen und klappte es zu.

Gregor wartete ruhig und hielt sein eckiges Kinn zwischen dem Daumen und Zeigefinger seiner Hand. Danal sprach in einem plötzlich aufkommenden Wortschwall. »Das war der letzte Tag, den ich mit deinen Erwachten verbracht habe …«

»Es sind auch deine Erwachten«, unterbrach ihn Gregor sanft.

»Mit den Erwachten.« Danal machte eine Pause, suchte nach einem taktvollen Weg, um fortzufahren. Er sah einen Stapel ordentlich gefalteter Kleidung in der Ecke, so wie eine Auswahl an Hüten, Perücken, falsches Gesichtshaar und verschiedene fleischfarbene Cremes und Pigmente. »Ich bin von der Organisation, der Bruderschaft, die du zusammengestellt hast äußerst beeindruckt. Die Erwachten scheinen eine gut zusammengewachsene Gruppe zu sein.«

»Sind sie.«

»Aber …« Er war unruhig, machte wieder eine Pause. Gregor wartete, schaukelte in seiner Hängematte vor und zurück und winkte seinem Gast, sich zu setzen. Danal ging in die Hocke. »Aber was machst du? Du bist Tag für Tag hier unten, aber du versteckst dich nur. Du hast die Kraft, selbst etwas zu unternehmen. Warum bewegst du dich nie?« Danal fokussierte das Gesicht des Anführers. »Du kommst mir wie ein Mann vor, der viel zu gewissenhaft ist, um sich auszuruhen und nichts zu tun.«

Gregor ließ einen langen Seufzer hören, während ihn Danal beobachtete. »Ich bin froh, dass du so denkst. Wir sollten mehr tun, als nur herumzusitzen und uns am Rücken kratzen. Aber wir wissen im Moment nicht genug. Ich ringe gerade mit einer Ambivalenz – das ist der Hauptgrund.«

»Ambivalenz? Wie kannst du denn ambivalent sein?«

»Denk darüber nach. Wir sind Diener, die unsere Erinnerungen wiedererlangt haben. Haben denn jetzt alle Diener das Potential, um zu erwachen, so wie wir? Oder sind sie tatsächlich einfach sinnlose Maschinen, deren abgelegten Körper sonst keine andere Verwendung finden würden, wie Resurrection Inc. uns glauben machen möchte? Sind Erwachte ein Fehler im Wiederauferstehungsprozess?«

Danal ließ sich nicht ansehen, ob er die Meinung teilte oder nicht. In einiger Entfernung sang jemand im Schatten eine feine Melodie in einer fremdländisch klingenden Sprache.

»Das ist nicht das, was ich glaube«, erklärte Gregor weiter. »Und bedenke, dass dies nur meine Intuition ist. Wir sind eine zu kleine Gruppe, um statistisch relevant zu sein. Aber ich vermute, dass alle Diener das Potential zum Wiedererwecktwerden ihrer einstigen Erinnerungen haben. Wenn sie es wollen.«

Gregor faltete seine Hände und beugte sich zu Danal vor. »Woran erinnerst du dich, wenn du an das Dazwischen denkst? Zwischen Leben und Tod und wieder Leben?«

»An nichts«, sagte Danal und fragte sich, warum Gregor das Thema gewechselt hatte. Er ging seine Erinnerungen durch, aber die Antwort blieb stets die gleiche. »Ich hab es schon Laina erzählt. Es ist nur eine Leere – wie eine glatte, undurchdringliche Barriere.«

Gregor lächelte. »Dann lass mich dir zeigen, wie du dort eindringen kannst.«

Aus einer Holzkiste unter seiner Hängematte nahm er drei Kerzen und stellte sie auf den Fußboden der Plattform. Er zündete sie an und warf das brennende Streichholz weg. Es stürzte in die Tiefe und landete im dunklen Wasser weit unter ihnen.

»Ich glaube, dass mich der Wiederauferstehungsprozess aus einer Lichtwelt herausgerissen hat, von einem großartigen Platz – ein Himmel, aus Mangel an besseren Worten.« Gregor sprach mit einer ruhigen Stimme, in einer Nuance der respektvollen Ehrfurcht. »Ich kann mich nicht an genaue Details erinnern, obwohl ab und zu kurze Flashbacks auftauchen, die jedoch geradezu unerträglich sind, weil diese Vorstellungen einer höheren Realität entsprechen und nicht gerade zu einer Vergangenheit gehören, die in die Welt passt, die ich um mich herum sehen kann.«

Gregor griff nach oben und drehte eine Bräunungslampe mit den Fingerspitzen aus. »Bitte nimm eine bequeme Haltung ein.«

Danal setzte sich hin und streckte die Füße aus. Er ignorierte die rauen Bretter an seinen Beinen.

»Es ist ein unbeschreibliches Gefühl. Sprache ist nicht in der Lage, Analogien für diese Erfahrungen zu erstellen. Es funktioniert jenseits aller Erklärungsversuche. Aber du wirst verstehen, was ich meine – du hast es bereits durchlebt und bist darin gestorben.«

Gregor führte ihn dabei, sagte ihm, wie er seinen Mikroprozessor zu beschleunigen hatte, um äußere Einflüsse auszuschließen und sich auf die schwierige Grenze zwischen seinen zwei Leben zu konzentrieren.

»Es wird einen Moment dauern, weil du dein Unterbewusstsein überzeugen musst, dass du wirklich bereit bist, dem entgegenzusehen, woran du dich erinnerst. Aber du musst an die Tür hämmern, bis sie geöffnet wird.«

Danal schloss die Augen.

Einatmen.

Ausatmen.

Der Mikroprozessor beschleunigte seine Gedanken, das Universum um ihn herum verlangsamte sich. Er stellte alles nach innen gerichtet ein, konzentrierte sich auf den Moment seines Todes. Die letzte Erinnerung. Die schützende Hülle, die ihn von allem abschirmte, das um ihn herum geschah, die seine Gedanken dazu brachte, von seiner harten Oberfläche abzurutschen.

Danal ging durch die Phasen einer erzwungenen Entspannung, einer Meditation. Sorgenfrei wurde ihm bewusst, dass er sich inzwischen über und über taub zu fühlen begann, aber er weigerte sich, seinen Willen auf die Barriere zuzusteuern, zu minimieren.

Der Tod hatte ihm etwas mehr verheimlicht, sogar viel mehr Bedeutendes, als es alle anderen Flashbacks zusammen gekonnt hätten. Er hatte bisher lediglich die Spitze des Eisbergs aufgedeckt. Er hoffte darauf, dass er mit dem Rest davon fertig würde, sofern es ihm gelang, sich bis zur Oberfläche durchzugraben.

Einatmen.

Ausatmen.

Er erlebte eine allmählich aufkommende Empfindung, eine Trennung und, äußerst langsam, eine Teilung, die zu einer anderweltlichen Umgebung führte. Es war zweifellos keinem Traum gleichzusetzen.

Und schließlich tauchte die schwarze Wand vor ihm auf, die sich aufzulösen begann.

Der Schmerz – er kam zuerst. Die Klinge des Arthame-Dolches, der durch seine Haut, durch sein Brustbein rutschte und tief in den Brustkorb eindrang; er spürte den Riss, als die Spitze den Herzbeutel durchbrach und dann tief in den Muskel des Herzens schnitt. Jeder Nerv Vincent Van Rymans wurde in heißem Öl gebadet, sendete fürchterlich detaillierte Informationen an sein unvollkommenes Hirn … aber jetzt sah er alles durch eine verdrehte Linse.

Dann war Stille, eine frische, klare Stille. Danal ließ sich das Wunder und die Ehrfurcht über die Eindrücke erfahren, war unfähig, ihnen auch nur den Hauch von Beschreibungen zu geben. Die absolute Ruhe schien brillant, sauber und scharf. Und dann schwoll langsam und kaum merklich im Hintergrund ein gedämpftes intoniertes Wechselspiel an, ein Klang wie ein musikalisches Summen, Schellen und Glockenspielen.

Kein Tastsinn, keine Wärme oder Kälte … er fing an, Bewegung zu entdecken, obwohl er nicht genau festlegen konnte, was sich bewegte – ohne Sinnesorgane wurden alle Bewegung schwindelerregend und verzerrt. Er wurde durch einen dunklen Tunnel gezogen, drehte sich aufwärts, gefangen von einer Kraft, die er in der pechschwarzen Katakombe keineswegs begreifen konnte.

Mit einem unhörbaren Knall tauchte er plötzlich außerhalb seines Körpers auf, schwamm zur Decke der Opferkammer hinauf, wurde von den Papiermache-Stalaktiten aufgehalten. Er sah auf das Blutbad hinunter, auf sich selbst, erschlagen auf dem Altar – auch wenn das Gesicht des Toten nicht seinem eigenen entsprach wegen des Oberflächen-Klonens.

Dem Gedanken auf den Fersen entlud sich ein wahres Feuerwerk an Erinnerungen an das Leben Vincent Van Rymans, alle Erinnerungen in einem Moment. Die visuellen Bilder waren lebendig und zugleich mit keiner bestimmten Reihenfolge unterlegt, aber sie alle ergaben einen Sinn.

Die Erinnerungsbilder verschwammen miteinander, verschwammen ineinander wie ein einzelnes Glühen, das heller und heller wurde. Um sich herum nahm Danal andere Geister wahr, helle farbige Lichter – seine Eskorte.

Die Erinnerungen verliefen in einem euphorischen, ungestörten Meer totaler Zufriedenheit. Geführt von den anderen Geistern, gereizt von dem winkenden Licht vor ihm, bewegte er sich vorwärts auf ein Grenzgebiet zu eine oder möglicherweise keine körperliche Substanz gehabt hatte. Danal hatte fast sein Ziel erreicht: seine Ankunft.

Doch plötzlich verfestigte sich die schwarze Barriere der verbotenen Erinnerungen wieder vor ihm. Alles hielt abrupt inne. Danal versuchte, musste durchbrechen, aber die Wand war fest, undurchdringlich geblieben, egal wie stark er dagegen hämmerte.

»Das war tiefer, als die meisten Erwachten das erste Mal zu schauen bereit sind«, sagte Gregor, nachdem Danal seine Erfahrung beschrieben hatte. Der Anführer hatte sich weder bewegt, noch schien er mit den Augen geblinzelt zu haben. »Aber sie treffen stets irgendwo auf eine Wand.«

Danal legte beide Hände flach auf die Plattform, um sich zu beruhigen. In den letzten Sekunden war seine gesamte Vorstellung von der Realität grundlegend verzerrt worden. Auf undefinierbare Weise begann sich Danal zu fragen, ob alle anderen Sorgen weniger bedeutend waren. »Aber was befindet sich hinter dieser letzten Barriere?«

»Keiner ist bisher in der Lage gewesen, sie zu durchbrechen«, sagte Gregor gezwungenermaßen. »Und das führt mich zu meiner größten Frage – befindet sich dort überhaupt irgendetwas? Oder haben wir bereits alles gesehen, was es gibt?«

Danal runzelte die Stirn und sagte nichts. Gregor wirkte ungeduldig. »Du erkennst das Problem nicht, oder? Was waren all diese Erinnerungen? Wurden sie in meinem toten Gehirn gerade irgendwo begraben, oder wurden sie zurückgetragen mit meiner … Seele, wenn du es so nennen willst? Gibt es denn wirklich einen Unterschied zwischen dem Körper und der Seele? Wir werden die Antwort auf die Frage finden müssen – damit sind so viele atemberaubende Faktoren verbunden!«

Verworrener als jemals zuvor schüttelte Danal den Kopf. »Was meinst du?«

»Schau, wenn es sich um alte Erinnerungen handelt, die in meinem wiederauferstandenen Geist begraben liegen und nicht mehr, dann … wer bin ich? Bin Ich – großgeschrieben – nur ein übriggebliebener Eindruck, von diesem alten, zeitlich limitierten Hirnlappen« – er tippte sich an die Stirn – »der bei der letzten Wäsche nicht sauber geworden ist? Ist meine eigene Seele jetzt wirklich in diesem Körper oder bin ich nur eine bessere Maschine, eine, die Zugang auf ein paar alte Erinnerungen von dem echten Gregor hat, der jetzt tot und verschwunden ist? Und wie zur Hölle kann ich den Unterschied erkennen?«

Tief bestürzt beantwortete Gregor seine eigene Frage. »Natürlich gibt es einen Weg. Wenn ich mich tatsächlich an meinen Tod erinnern kann, meine Nahtod-Erfahrung, in die Welt des Lichts – wenn ich mich lückenlos an jedes Detail erinnern kann, vom Tod den ganzen Weg bis zum plötzlichen Moment der Auferstehung, dann können es doch offensichtlich keine vergrabenen Erinnerungen sein, oder? Der wirkliche Gregor hätte solche Visionen nicht in seinem toten Gehirn gelassen, weil Gregors Körper jene Dinge niemals erlebte.«

Danal runzelte die Stirn. »Aber ist nicht das – das, was ich sah – nah genug? Der Tunnel, das Licht, die Rückblenden des Lebens, die anderen Geister? Wie konnte sich all das in meinem körperlichen Gehirn befinden, wenn ich schon tot war?«

»Nein. Versetz dich in die Rolle eines reinen Skeptikers, Danal. Und ich bin im Grunde ein Skeptiker.« Gregor seufzte, als ob er das alles schon einmal erzählt hätte. »Der Tunnel, das Licht, die Nahtod-Erfahrung, die Schellen und Glockenspiele – du bist gestorben. Dein Gehirn gab wörtlich den Geist auf. Wer weiß, welche falschen Vorstellungen du hättest erleben können? Deine Nerven geben schubweise Impulse ab, zufallsmäßig feuernd, könnten dich glauben lassen, dass du Lichter gesehen, Klänge gehört und Präsenzen gespürt hast. Und die Flashbacks deines Lebens – könnte das nicht der ungeheure Gedächtnismüll deines Gehirns in der letzten Sekunde gewesen sein? Das Verstreuen von allen geistigen Eingängen, die dein Geist ordentlich organisiert hatte?«

Gregor schütterte seinen Kopf, weiterhin tief in Gedanken versunken. »Oh, sicher, es scheint weit hergeholt zu sein, aber es ist eine möglicherweise rationale Erklärung. Ich muss mich auf das Wesentliche beschränken – ich muss vollkommen sicher sein. Ich muss kontinuierlich Erinnerungen haben.«

Der Anführer schloss seine Augen. »Ich verbringe Stunden und Stunden allein, meditiere, versuche, das Zentrum meiner Erfahrung zu erreichen. Wir Erwachten wissen wirklich nicht, was wir tun sollten. Welche Seite sollten wir unterstützen? Sollten wir Resurrection Inc. stoppen? Oder sollten wir ihnen dabei helfen, sicherzustellen, dass der Wiederauferstehungsprozess niemals einen anderen Erwachten hervorbringt?

Sollten wir uns selbst töten, um uns selbst zurückzubringen – wie Shannah – sofern diese Himmels-Flashbacks wirklich echt sind? Oder sollten wir stattdessen versuchen, alle anderen Diener zu erwecken?

Nein, nach meiner eigenen geistigen Qual – und die anderen Erwachten scheinen der gleichen Meinung zu sein – entschuldige ich mich, dass ich versuchte, absichtlich andere Diener zu erwecken. Sie ruhen jetzt in Frieden, und ihre Seelen sind … sind, wo sie sein sollten, wo auch immer das ist.«

Danal ängstigten auf einmal seine Todesvisionen, gefangen in der neuen Perspektive. »Dann würden die Erwachten vielleicht in diesem Augenblick nichts tun können.«

»Aber wir haben! Vergiss nicht, Danal, wir sind das Krematorium. Es ist das Mindeste, das wir tun können, die gewissenhafteste Alternative, die weiterhin einen Unterschied machen würde. Ich stellte mir das Krematorium vor, um die Möglichkeit zu beseitigen, dass alle Diener gegen ihren Wunsch zurückkehren. Wenn wir nach dem Tod woanders hingehen, mit etwas anderem weitermachen, glaubst du nicht, dass es ein schreckliches Verbrechen ist, es jemandem vorzuenthalten? Als Krematorium geben wir ihnen die Möglichkeit ihres eigenen Willens.«

Danal runzelte die Stirn und war verblüfft. »Wenn du denkst, dass jede andere Welt ein besserer, hellerer Ort ist, oder wenn du glaubst, dass wir eine Art Schicksal dort haben werden, warum erzählst du den Erwachten nicht, dass sie sich selbst abschalten können? Wie Shannah? Ich hatte nicht das Gefühl, dass du versucht hättest, sie aufzuhalten.«

Vor Unbehagen antwortete Gregor für einen langen Augenblick nicht. »Ich werde niemanden darum bitten, zum Tod zurückzukehren, nicht, bis ich vom Ergebnis überzeugt bin. Gerade vor einer Minute räumte ich ein, dass ich nicht der wirkliche Gregor sein könnte. Wenn ich mich jetzt selbst umbringe, was würde mit mir passieren?« Er tippte sich vehement gegen die Brust. »Was ist mit dieser einmaligen Person, was ist mit dem Erwachten-der-darüber-nachdenkt-er-wäre-Gregor? Ich will nicht meine individuelle Identität zerstören, selbst wenn es nur ein wiedergekehrtes Leben ist.«

Eine der Kerzen wurde von einem zufälligen Luftzug erwischt und erlosch.

Gregor stand auf und streckte sich. Danal fühlte seine Füße verkrampfen und löste seine überschlagenen Beine, um auf den Dielenbrettern Platz zu finden.

»Es ist Nahrung für die Gedanken. Aber erinnere dich, Danal, ich führe diese Personen nicht. Sie ersuchen mich im Allgemeinen um Rat, und sie hören im Allgemeinen, was ich sage, aber ich bin nicht ihr Anführer. Das will ich nicht sein. Wir Erwachten sind seit vier Jahren hier unter, und ich vermute, dass wir über kurz oder lang entdeckt werden, egal wie sorgfältig wir sind. Ich kann nur darauf hoffen, dass ich bis dahin mein moralisches Dilemma löse. Ansonsten werde ich nicht in der Lage sein, den anderen zu sagen, was sie zu tun haben.«

Er öffnete seine Hände, wirkte hilflos. »Für den Moment ist das Einzige, was wir tun können … nur überleben.«