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Eine Polizistin fragte: »Fahren Sie mit dem Krankenwagen mit?« Sie schien zu glauben, dass er ein Freund des verletzten Mannes war, und da der verletzte Mann im Augenblick ohne Freunde war, stieg Martin pflichtbewusst in den Krankenwagen. Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Erst als sie vor dem neuen Royal Infirmary am Rand der Stadt ankamen, fiel ihm auf, dass er seine Tasche nicht mehr hatte. Er erinnerte sich, dass sie über die nassen Pflastersteine geklappert und geschlittert war, aber er wusste nicht, was danach damit geschehen war. Das war keine Katastrophe, alles war gesichert – der kleine fliederfarbene Sony-Stick befand sich in seiner Brieftasche –, und diese Sicherungskopie war noch einmal gesichert, das Back-up lag in einer Schublade in seinem »Büro«. Er stellte sich vor, dass, wer immer den Laptop gefunden hatte, ihn einschaltete, »Eigene Dateien« öffnete, seine Arbeit las und dachte, was für ein Schrott es doch war, Freunden einige Passagen laut vortrug und sie sich alle vor Lachen bepissten – denn er stellte sich die Person, die seinen Laptop fand, als jemanden vor, der sich »vor Lachen bepisste«, statt einfach nur zu lachen. Kichern würde er jedenfalls nicht. Eine weniger bürgerliche, weniger armselige Person als Martin (Du bist wirklich ein altes Weib, hatte sein Vater bei mehr als einer Gelegenheit zu ihm gesagt), eine Person, die Martins Leben und Arbeit des Spotts für würdig befand. »Hier stimmt was nicht, Bertie«, flüsterte Nina, während sie auf Berties Schultern balancierte, um zwischen den Palmen im Wintergarten von Dunwrath Castle hindurch einen Blick auf Lord Carstairs zu werfen. Bertie war Nina Rileys siebzehnjähriger Kumpel, den sie vor einem Leben als Dieb gerettet hatte.
Unter Martins Dateien befand sich auch Korrespondenz (Vielen Dank für Ihren Brief, ich freue mich sehr, dass Ihnen die Nina-Riley-Bücher gefallen. Herzliche Grüße, Alex Blake). Vielleicht fanden die Fremden, die sich vor Lachen bepissten, seine Adresse und brachten ihm den Laptop zurück. Oder vielleicht kamen sie zu seinem Haus und stahlen alles, was er sonst noch besaß. Oder ein Auto fuhr darüber, zerquetschte das geheimnisvolle Motherboard und den Plasmabildschirm.
Der Peugeot-Fahrer war jetzt bei Bewusstsein und bei Verstand. An einer Schläfe hatte er eine grimmige Beule, als wäre ein Ei unter der Haut vergraben. »Mein guter Samariter«, sagte er zu der Sanitäterin und nickte Martin zu. »Hat mir das Leben gerettet.«
»Wirklich?« Die Sanitäterin wirkte unsicher, ob sie dieser Übertreibung Glauben schenken sollte.
Der Peugeot-Fahrer war wie ein Baby in eine große Decke aus weißer Baumwolle gewickelt. Er kämpfte einen Arm frei und streckte ihn Martin entgegen. »Paul Bradley«, sagte er, und Martin schüttelte ihm die Hand und sagte: »Martin Canning.« Er achtete darauf, die Hand des Peugeot-Fahrers nicht zu fest zu drücken, um ihm keine Schmerzen zu verursachen, sorgte sich aber sofort, dass sein Händedruck zu schlapp war. Martins Vater Harry hatte auf einem männlichen Händedruck bestanden (Du bist keine Mary-Ellen mit einem schlaffen Handgelenk – schüttle einem die Hand wie ein Mann). Er hätte sich keine Gedanken machen müssen, Paul Bradleys überraschend kleine, glatte Hand griff mit der schraubstockartigen Kraft eines Roboters zu.
Martin hatte seit Monaten kein anderes menschliches Wesen berührt außer zufällig, als er von der Kassiererin im Supermarkt Wechselgeld entgegennahm, eines Abends Richard Moat über die Toilettenschüssel hielt, während dieser die Alkoholration erbrach, die er den Abend über geschluckt hatte. Vor einer Woche hatte er einer alten Frau in den Bus geholfen und war ergriffen gewesen von der Berührung der gewichtslosen papiernen Hand.
»Sie sehen aus, als sollten Sie hier liegen, nicht ich«, sagte Paul Bradley. »Sie sind weiß wie ein Leintuch.«
»Wirklich?« Er fühlte sich ausgesprochen schwach.
»Es war ein hässlicher Zwischenfall«, sagte die Sanitäterin. »Zwischenfall«, so hatte auch eine der Polizistinnen den Gewaltausbruch auf der Straße genannt. Wir müssen Ihre Aussage zu dem Zwischenfall aufnehmen, Sir. Ein nettes, neutrales Wort, fast wie »unschuldig«. Vielleicht könnte er es für das verwenden, was ihm passiert war. Oh, ja, damals, als ich in Russland war, kam es zu diesem unglücklichen Zwischenfall …
In der Notaufnahme fragte ihn eine Angestellte nach den Daten des Peugeot-Fahrers, aber Martin hatte den Namen bereits wieder vergessen. Der Peugeot-Fahrer war auf einem Rollstuhl ins Hinterland der Station gebracht worden, und die Frau warf Martin einen Lehrerinnenblick zu und sagte: »Nun, können Sie es herausfinden? Und auch die Adresse und die nächsten Angehörigen.«
Martin machte sich auf die Suche nach dem Peugeot-Fahrer und fand ihn in einer mit Vorhängen abgeteilten Kabine, wo eine Schwester gerade den Blutdruck maß. »Entschuldigung«, flüsterte Martin, »ich brauche seine Daten.« Der Peugeot-Fahrer versuchte, sich aufzusetzen, und wurde von der Schwester sanft zurückgestoßen.
»Nehmen Sie die Brieftasche aus meiner Jacke, Partner«, sagte der Peugeot-Fahrer im Liegen. Über einem Metallstuhl in der Ecke hing eine schwarze Lederjacke, und Martin griff vorsichtig in die Innentasche und holte eine Briefmappe heraus. Es war ein merkwürdig intimes Gefühl, in den Taschen von jemand anderem nach etwas zu suchen wie ein Dieb wider Willen. Die Jacke war aus teurem, buttrig weichem Leder, Lamm, vermutete Martin, und er musste den Impuls unterdrücken, hineinzuschlüpfen und sich wie eine andere Person zu fühlen. Er hielt die Brieftasche hoch, damit die Schwester sah, dass er sie an sich genommen hatte, dass er sich keiner Betrügereien schuldig machte, und sie bedachte ihn mit einem hübschen Lächeln.
»Soll ich auf Ihre Tasche aufpassen?«, fragte er den Peugeot-Fahrer. Sie hatten die Reisetasche im Krankenwagen mitgenommen, und der Peugeot-Fahrer sagte »Danke«, was Martin als Zustimmung auffasste. Die Tasche sah aus, als wäre sie fast leer, aber sie war erstaunlich schwer.
Die Frau an der Aufnahme kramte effizient in der Brieftasche des Peugeot-Fahrers. Paul Bradley war siebenunddreißig Jahre alt und wohnte im Norden Londons, er hatte einen Führerschein, ein Bündel Zwanzig-Pfund-Scheine und einen Mietvertrag von Avis für den Peugeot. Sonst nichts, keine Kreditkarten, keine Fotos, keine Zettel mit aufgekritzelten Telefonnummern, keine Quittungen oder Abrisse von Eintrittskarten. Keine Hinweise auf einen nächsten Angehörigen. Martin bot sich an, und die Frau sagte: »Sie wussten nicht einmal seinen Namen«, schrieb aber trotzdem »Martin Canning« in das Formular.
»Kirche von Schottland?«, fragte sie, und Martin sagte: »Er ist Engländer, schreiben Sie Kirche von England.« Er fragte sich, ob es eine Kirche von Wales gab. Er hatte nie von einer solchen gehört.
Das Krankenhaus wirkte wie ein Bahnhof oder ein Flughafen, nicht wie ein Krankenhaus, die Leute schienen sich auf der Durchreise zu befinden und nicht aus irgendeinem zwingenden Grund hier zu sein. Es gab ein Café und einen Laden, gut sortiert wie ein kleiner Supermarkt. Doch es fanden sich keinerlei Anzeichen dafür, dass sich irgendwo Kranke aufhielten.
Er setzte sich ins Wartezimmer. Er nahm an, dass er die Sache jetzt bis zum Ende durchstehen musste. Erst las er eine Ausgabe von Historische Häuser, dann eine drei Jahre alte Ausgabe von Hello!. Er erinnerte sich daran, irgendwo gelesen zu haben, dass Hepatitis-C-Erreger lange Zeit außerhalb des Körpers überlebten. Man konnte sie sich zuziehen, indem man irgendetwas berührte – einen Türgriff, eine Tasse, eine Zeitschrift. Die Zeitschriften waren älter als das Krankenhaus. Jemand musste sie in Schachteln verpackt und aus dem alten Royal am Lauriston Place hierhergeschafft haben. Martin war einmal dort in der Notaufnahme gewesen, als sich seine Mutter während einer ihrer seltenen Besuche bei ihm die Hand verbrüht hatte. Das war das Einzige, woran sie sich später erinnerte, nicht an die Fahrt zum Hopetoun House, wo sie einen schönen Spaziergang gemacht hatten, gefolgt von Nachmittagstee im Pompadour im Caledonian Hotel, nicht an den Besuch von Holyrood Palace, sondern nur, wie sie es geschafft hatte, sich Wasser aus dem Kessel über die Hand zu gießen. Dein Kessel, sagte sie, als wäre Martin höchstpersönlich für den Siedepunkt des Wassers verantwortlich.
Im Wartezimmer war es gewesen wie in der Dritten Welt, schmutzig, mit alten Stühlen, die nach Urin rochen. Seine Mutter war hinter blassgrünen Vorhängen verschwunden, die mit getrockneten Blutflecken übersät waren. Jetzt wurde das alte Krankenhaus in Wohnungen umgewandelt, unter anderem. Martin fand es seltsam, dass Menschen leben wollten, wo andere gestorben waren und unter Schmerzen gelitten oder sich einfach zu Tränen gelangweilt hatten, während sie auf ambulante Behandlung warteten. Martin wohnte in einem viktorianischen Haus in Merchiston, wo früher vermutlich eine Wiese gewesen war. Er zog es vor, irgendwo zu leben, wo früher eine Wiese gewesen war, als in einem ehemaligen Operationssaal oder Leichenschauhaus. Aber das war den Leuten gleichgültig, in Edinburgh herrschte eine Gier nach Wohnraum, die nahezu barbarisch war. Erst in der vergangenen Woche hatte er in der Zeitung gelesen, dass eine Garage für hunderttausend Pfund verkauft worden war. Martin fragte sich, ob die Leute dort einziehen wollten.
Er hatte sein Haus vor drei Jahren gekauft. Nachdem er seinen ersten Vertrag unterschrieben hatte und nach Edinburgh gezogen war, wohnte er zuerst in einer kleinen Wohnung nahe der Ferry Road und sparte für etwas Besseres. Er war ebenso obsessiv und verrückt gewesen wie alle anderen Wohnungssuchenden in der Stadt, hatte die Anzeigen studiert und am Donnerstagabend und Sonntagnachmittag in den Startblöcken gestanden für die Besichtigungen.
In das Haus in Merchiston verliebte er sich, kaum dass er an einem nebligen Oktobertag durch die Tür getreten war, um es sich anzusehen. Die Räume schienen voller Geheimnisse und Schatten, und das schwindende Nachmittagslicht fiel matt durch die Fenster aus buntem Glas. Opulent, hatte er gedacht. Er sah vor sich, wie es einst gewesen sein musste, er hörte das Echo des Gelächters altmodischer Kinder, die Jungen trugen gestreifte Schulmützen, die Mädchen Kittelkleider und weiße Söckchen. Die Kinder waren Verschwörer, dachten sich vor dem Feuer im Spielzimmer lustige Streiche aus. Überall im Haus herrschte geschäftiges Treiben – ein Dienstmädchen wusch und schrubbte willig (ohne jeden Klassenhass) und half bisweilen mit den Kindern und bremste ihren Elan. Es gab einen Gärtner und eine Köchin, die altmodische Gerichte zubereitete (Räucherheringe, Maispudding mit Milch, Auflauf aus Hackfleisch und Kartoffelbrei). Und das alles unter den Augen liebevoller Eltern, elegant und gutmütig, außer wenn die Streiche außer Kontrolle gerieten, dann wurden sie zu strengen und ernsten Richtern. Vater pendelte jeden Tag und arbeitete etwas Geheimnisvolles »im Büro«, während Mutter Bridgepartys gab und Briefe schrieb. In dunkleren Tagen wurde der Vater für einen Verbrecher oder Spion gehalten und die Familie kurzzeitig in Not und Armut gestürzt (Mutter schaukelte es großartig), bevor alles aufgeklärt und wiedergutgemacht wurde.
»Ich will es«, sagte er zu der Frau von der Maklerfirma, die ihn durch das Haus führte.
»Sie und zehn andere Personen, die schriftlich ihr Interesse bekundet haben«, antwortete sie.
Sie verstand nicht, dass sein »Ich will es« keine einfache Feststellung seiner Kaufabsicht, keine Einschätzung, kein Gebot oder die Bezahlung war, sondern ein Schrei seines Herzens nach einem Heim. Nach einer Kindheit in wechselnden Militärkasernen, einer Jugend im Internat und in einem Lehrerhäuschen auf dem Anwesen der Schule im Lake District sehnte er sich nach einem eigenen Heim. An der Universität hatte er einmal für das Psychologiemodul eines Kommilitonen einen Wortassoziationstest gemacht, und als ihm das Wort »Heim« vorgelegt wurde, hatte Martin eine Niete gezogen – wo Emotionen hätten sein sollen, herrschte bei ihm eine verbale Leerstelle.
Als Harry, sein Vater, in den Ruhestand trat, versuchte seine Mutter, ihn zu überreden, in ihre Heimatstadt Edinburgh zurückzukehren. Sie versagte kläglich, und sie ließen sich stattdessen in Eastbourne nieder. Wie sich herausstellte (und das war wirklich keine Überraschung), war er von seinem Temperament her weder geeignet für den Ruhestand noch für ein sesshaftes Leben in einem soliden Reihenhaus mit drei Schlafzimmern und hübschen Zierleisten aus weißem Holz in einer stillen Straße keine fünf Minuten vom Kanal. Das Meer hatte keinerlei Anziehungskraft für ihn, jeden Morgen machte er zwar einen forschen Spaziergang am Strand, allerdings nur zur Körperertüchtigung, nicht zum Vergnügen. Alle, besonders seine Frau, waren erleichtert, als er drei Jahre später einen Herzinfarkt erlitt und tot umfiel während eines Streits mit einem Nachbarn, der seinen Wagen vor ihrem Haus abgestellt hatte. »Er hat nie akzeptiert, dass es eine öffentliche Straße war«, erklärte die Mutter Martin und seinem Bruder Christopher bei der Beerdigung, als wäre das irgendwie die Ursache seines Todes.
Ihrer Mutter fehlte der Wille, Eastbourne zu verlassen – sie war noch nie sehr unternehmungslustig gewesen –, doch sowohl Martin als auch Christopher zog es nach Schottland zurück (wie Aale oder Lachse), und sie wohnten beide so weit wie möglich von ihr entfernt.
Christopher war Bausachverständiger in Borders, lebte über seine Verhältnisse mit seiner neurotischen, ständig nörgelnden Frau Sheena und den beiden überraschend netten Kindern im Teenageralter. Die geografische Distanz zwischen Martin und seinem Bruder war klein, aber sie sahen sich selten. Christopher war unangenehme Gesellschaft für ihn, es war etwas Gestelztes und Gekünsteltes daran, wie er sich durch die Welt manövrierte, als würde er andere Leute beobachten und glauben, er wirke sympathischer, authentischer, wenn er sie nachahmte. Martin hatte vor langer Zeit die Hoffnung aufgegeben, zu sein wie die anderen.
Weder für Martin noch für Christopher war das Haus in Eastbourne ein Zuhause, ihre Mutter hatte zu wenig Persönlichkeit, um dem Haus etwas Anheimelndes einzuflößen. Sie sagten immer, Wann fährst du mal wieder zum Haus?, als hätte das Haus mehr Charakter als ihre Mutter, und doch hatte es kaum etwas Unverwechselbares; alle paar Jahre wurde es in dem gleichen dezenten Biskuitton gestrichen, und danach dauerte es nicht lange, bis die Wände wieder das gewohnte Nikotingelb angenommen hatten. Seine Mutter war eine starke Raucherin, es war vielleicht ihre auffälligste Eigenschaft. Martin glaubte, dass die Hölle darin bestünde, für alle Ewigkeit einen verregneten Sonntagnachmittag im Haus seiner Mutter verbringen zu müssen – immer vier Uhr nachmittags im Januar, in der nicht gelüfteten Küche der Geruch von Beinscheibeneintopf. Rauchwolken, schwacher Tee, die zahnfleischzersetzende Süße eines Zuckerkuchens. Ständige Wiederholungen von Inspektor Barnaby auf Video.
Ihre Mutter war jetzt zittrig alt, machte jedoch keine Anstalten zu sterben. Christopher, der mit seinem Gehalt nicht auskam, jammerte oft, dass sie ihn überleben und er nie die Hälfte des Hauses in Eastbourne erben würde, die sein Konto so dringend brauchte.
Martin hatte seine Mutter besucht, kurz nachdem er es zum ersten Mal in die Bestsellerlisten geschafft hatte. Er zeigte ihr die Liste der fünfzig bestverkauften Bücher im Bookseller und erklärte: »Alex Blake – das bin ich, mein Pseudonym.« Er lachte, und sie seufzte, »Oh, Martin«, als hätte er sich etwas besonders Ärgerliches zuschulden kommen lassen. Als er das Haus in Merchiston kaufte, wusste er vielleicht nicht, was aus einem Haus ein Zuhause machte, aber er wusste, was es verhinderte.
Christopher war nur einmal in Martins Haus gewesen, kurz nachdem er es gekauft hatte – ein schwieriger Besuch, der noch schwieriger wurde dank Sheena, einer Frau wie eine Hyäne.
»Wozu brauchst du eigentlich ein so großes Haus, Martin?«, fragte Christopher. »Du bist doch allein.«
»Vielleicht heirate ich und kriege Kinder«, sagte Martin kleinlaut, und Sheena kreischte: »Du?«
Oben im Haus, mit Blick auf den Garten, befand sich ein kleines Zimmer, das Martin zu seinem Arbeitszimmer auserkor. Er hatte das Gefühl, in diesem Raum etwas Starkes und Gehaltvolles schreiben zu können, nicht die abgedroschene und formelhafte Nina Riley, sondern einen Text, in dem jede Seite von der kreativen Dialektik von Leidenschaft und Vernunft zeugte, etwas von lebensverändernder Kunstfertigkeit. Enttäuschenderweise passierte nicht nur das nicht, sondern das ganze Leben, das er in dem Haus gespürt hatte, bevor er es kaufte, verschwand spurlos. Wenn Martin jetzt durch die Haustür trat, hatte er oft das Gefühl, als hätte hier noch nie jemand gelebt, nicht einmal er selbst. Nirgends fanden sich Anzeichen für lustige Streiche. »Lustig« war ein Wort, das Martin besonders mochte. Er hatte immer gedacht, dass er, sollte er einmal Kinder haben, ihnen heitere Namen wie Sonny und Merry geben würde. Namen machen Leute. Auch religiös motivierte Namen hatten etwas für sich – Patience, Grace, Chastity, Faith. Besser nach einer Tugend benannt zu sein, als nichtssagend Martin zu heißen. Jackson Brodie, das war ein guter Name. Der Mann war von den Ereignissen nicht erschüttert worden (Ich war früher bei der Polizei), während Martin vor Aufregung schlecht geworden war. Nicht die angenehme Art Aufregung, nicht die Lustige-Streiche-Art, sondern die Art eines Zwischenfalls.
Während des Studiums war er kurzzeitig mit einem Mädchen namens Storm zusammen gewesen (denn er hatte wirklich Freundinnen gehabt, auch wenn es die meisten nicht glaubten). Es war eine Erfahrung gewesen – mehr eine Erfahrung als eine Beziehung –, die ihn davon überzeugt hatte, dass die Menschen ihren Namen alle Ehre machten. Martin war als Name ziemlich langweilig, aber »Alex Blake« hatte etwas Forsches. Seine Verleger fanden Martins richtigen Namen nicht »flott« genug. Für das Pseudonym »Alex Blake« entschied man sich nach reiflicher Überlegung, an der Martin überwiegend nicht beteiligt war. »Ein starker, geradliniger Name«, sagte seine Lektorin. »Zum Ausgleich.« Wofür, sagte sie nicht.
Aus Versehen stieß er mit dem Fuß gegen Paul Bradleys Reisetasche und spürte etwas Hartes, Unnachgiebiges, wo er mit weicher Kleidung gerechnet hatte. Er fragte sich, was ein Mann wie er – der sogar verletzt bewundernswert kompetent war – mit sich trug. Woher kam er? Wohin wollte er? Paul Bradley wirkte nicht wie jemand, der wegen des Festivals gekommen war, er wirkte wie jemand, der zielbewusster war.
Martin blickte auf seinen Arm und erinnerte sich, dass er seine Uhr am Morgen nicht gefunden hatte. Er vermutete, dass Richard Moat sie sich »geliehen« hatte. Er lieh sich die ganze Zeit Dinge, als hätte er ein Anrecht auf Martins gesamte Besitztümer, nur weil er in seinem Haus wohnte. Martins Bücher, Hemden, iPod (Du hörst ziemliche Scheiße, Martin), alles hatte sich sein Hausgast zu irgendeinem Zeitpunkt bereits angeeignet. Er hatte sogar den Ersatzschlüssel von Martins Wagen gefunden und schien zu glauben, dass er damit fahren konnte, wann immer er wollte.
Die Uhr war eine Rolex Yacht-Master, die Martin sich geleistet hatte, um den Verkauf seines ersten Buches an einen Verlag zu feiern, eine Extravaganz, deretwegen er sich schuldig gefühlt hatte, und um sein Gewissen zu beruhigen, spendete er den gleichen Betrag einer wohltätigen Einrichtung, Prothesen Weltweit, die Opfer von Landminen mit künstlichen Gliedmaßen ausstattete. Seine Rolex entsprach ungefähr hundert Armen und Beinen in den unvorstellbaren Niederungen der sogenannten Zivilisation. Natürlich hätte er zweihundert Arme und Beine kaufen können, wenn er die Rolex nicht gekauft hätte, insofern wurden seine Schuldgefühle nicht beschwichtigt, sondern verdoppelt. Der Preis seiner Uhr war nichts im Vergleich zum Preis seines Hauses in Merchiston. Von diesem Geld hätte er wahrscheinlich alle Amputierten der Welt mit künstlichen Gliedmaßen versorgen können. Er trug die Uhr noch immer, obwohl sie ihn jeden Tag an den Zwischenfall in Russland erinnerte. Das war seine Strafe: nie zu vergessen.
Richard Moats Show wäre jetzt wahrscheinlich zu Ende. Danach, so vermutete Martin, würde Richard in einer Bar etwas trinken, Kontakte knüpfen – netzwerken. Es war eine einmalige Sache, dass die BBC diesen Auftritt mehrerer Kabarettisten aufzeichnete. Normalerweise trat Richard um zehn Uhr abends auf. »Kabarett findet am Abend statt«, erklärte er Martin, eine Behauptung, die Martin amüsierte, was er Richard auch sagte. »Jaa«, sagte Richard nur auf seine merkwürdige, lakonische Londoner Art. Er war ein Gag-Mann, nicht eine von Natur aus komische Person, und in den zwei Wochen, die sie sich kannten, hatte er Martin kein einziges Mal zum Lachen gebracht, zumindest nicht vorsätzlich. Vielleicht hob er sich alles für die Zehn-Uhr-Vorstellung auf. Seine größten Erfolge hatte er in den achtziger Jahren gefeiert, als es einfach war, so zu tun, als sei man politisch. Nach Thatchers Abgang begann Richards Stern zu sinken, aber er war nie tief genug gesunken, um wieder aufzusteigen, Richard hatte sich im Gespräch gehalten mit Auftritten in »alternativen« Quizshows, als zuverlässiger Ersatzmann in Talkshows und mit ein bisschen (schlechter) Schauspielerei.
Alles in allem war es Martin lieber, in einem Krankenhaus alte bakterienverseuchte Zeitschriften zu lesen und auf Nachrichten von einem Fremden zu warten, als irgendwo in einer Festivalbar mit Richard Moat Kontakte zu knüpfen.
Richard war der Freund eines Freundes eines Bekannten. Er hatte vor ein paar Monaten aus heiterem Himmel angerufen, gesagt, dass er »einen Auftritt beim Fringe« habe und könne er eventuell bei Martin ein Zimmer mieten? Martin verfluchte den Bekannten lautlos, weil er seine Telefonnummer weitergegeben hatte. Es war ihm immer schon schwergefallen, Nein zu sagen. Vor ein paar Jahren, als er verzweifelt versuchte, ein Buch zu Ende zu bringen, war er ständig von Leuten unterbrochen worden, die vor seiner Tür standen, eine endlose Reihe Tagesausflügler aus Porlock (so nannte er sie insgeheim), und er war dazu übergegangen, im Flur eine Jacke und eine leere Aktentasche bereitzulegen, so dass er die Jacke anziehen und die Tasche in die Hand nehmen und sagen konnte: »Oh, tut mir leid, ich wollte gerade gehen«, wann immer es klingelte.
Das war, kurz nachdem er vom Lake District nach Edinburgh gezogen war und versuchte, Leute kennenzulernen, neu anzufangen und ein aktives Sozialleben zu führen, nicht länger »Mr. Canning«, der alte Trottel, zu sein, sondern Martin Canning, guten Tag. Ich? Oh, ich bin Schriftsteller. Krimis. Man nennt es Highland Fling. Bin in den Bestsellerlisten. Woher ich meine Ideen nehme? Oh, ich weiß nicht, ich hatte schon immer eine lebhafte Phantasie, das Bedürfnis, kreativ zu sein. Sie wissen ja, wie es ist. Aber anstatt eines aktiven Soziallebens drängten sich ihm alle möglichen unerwünschten Leute auf, und er verbrachte Monate (in manchen Fällen Jahre) damit, sie wieder loszuwerden. Nahezu alle diese unerwünschten Personen schienen nichts Besseres zu tun zu haben, als zu jeder Tages- und Nachtzeit bei Martin vorbeizuschauen. Einer – ein Mann namens Bryan Legat – verfolgte ihn über Jahre.
Bryan war ein Verlierertyp in den Vierzigern mit einem nicht publizierten Manuskript und einem bitteren Groll auf alle Literaturagenten Großbritanniens, die sämtlich nicht in der Lage waren, Bryans Genie zu erkennen. Martin hatte ein paar der Briefe gelesen, die Bryan als Antwort auf die erhaltenen Absagen geschrieben hatte. Briefe von der Sorte Sie blöde, dumme, dämliche, arrogante Schlampe und Ich weiß, wo Sie wohnen, Sie ignoranter Idiot, deren Wahnsinn Martin Angst einjagte. Bryan hatte ihm sein Manuskript gezeigt, »das magnum opus« mit dem Titel »Der letzte Busfahrer«. »Nun ja«, hatte Martin höflich gemurmelt, als er es Bryan zurückgab, »es ist auf jeden Fall anders. Und Sie können schreiben, daran besteht kein Zweifel.« Und er log nicht, Bryan konnte wirklich schreiben, er konnte einen Füller mit türkiser Tinte in die Hand nehmen und lange, verschlungene, ineinander übergehende Wörter schreiben, Verben willkürlich in Sätze einstreuen, die mit jedem Komma, jedem Ausrufezeichen verrückt schrien. Aber Bryan wusste, wo Martin wohnte, und deswegen wollte er ihn sich nicht zum Feind machen.
Als es an jenem besonderen Tag läutete, schlüpfte Martin in seinen Mantel, nahm die Aktentasche und riss die Tür auf, vor der ein hoffnungsvoller Bryan stand. »Bryan!«, grüßte Martin mit einer Munterkeit, die er nicht empfand. »Was für eine Überraschung. Tut mir leid, aber ich wollte gerade gehen.«
»Wohin denn?«
»Ich muss einen Zug erwischen.«
»Ich begleite Sie zum Bahnhof«, sagte Bryan fröhlich.
»Das ist nicht nötig.«
»Kein Problem, Martin.«
Schließlich waren sie zusammen mit dem Zug um halb zwölf nach Newcastle gefahren. In Newcastle hatte Martin sich willkürlich für ein Bürogebäude im Stadtzentrum entschieden, gesagt, »Hier muss ich hin«, und war in einen Aufzug gestiegen. Im achten Stock landete er in einem Timesharing-Büro, wo er erleichtert den Kauf eines Luxusanwesens in Florida erwog, »direkt neben einem Golfplatz und einem Freizeitpark«. Er nahm die nicht unterschriebenen Unterlagen mit, um »sie zu studieren«, und warf sie auf dem Weg hinaus in den nächsten Abfalleimer. Unnötig zu erwähnen, dass Bryan in der Eingangshalle auf ihn wartete. »Alles gut gelaufen?«, erkundigte er sich freundlich. Mit dem Zug um halb fünf kehrten sie gemeinsam nach Edinburgh zurück, und irgendwie saß Bryan neben ihm im Taxi. Martin fiel nichts ein, was er zu ihm hätte sagen können außer Verdammte Scheiße, verschwinde für immer aus meinem Leben, du verrückter Irrer, aber als er das Taxi bezahlt hatte, stand Bryan schon vor seiner Tür und sagte: »Soll ich Wasser aufsetzen? Ich wollte mit Ihnen über meinen Roman reden. Ich habe überlegt, ob ich ihn ins Präsens setzen soll.«
Im nächsten Jahr stürzte Bryan Legat vom Salisbury Crags zu Tode. Es war nicht klar, ob er gesprungen oder gefallen (oder gestoßen worden) war. Martin hatte gleichermaßen Erleichterung und Schuld empfunden, als er von Bryans Abgang erfuhr. Irgendetwas hätte unternommen werden müssen, um einer so deutlich irregeleiteten Person zu helfen, doch Martin hatte nichts weiter zu ihm gesagt als: »Wie Sie die Umgangssprache einsetzen, ist wirklich verblüffend.«
Und vor die Wahl gestellt, war Martin nicht in der Lage, Richard Moat abzuweisen. Als Richard fragte: »Und wie viel sagen wir?«, erwiderte Martin: »Ach, nein – seien Sie nicht albern, ich kann Ihnen kein Geld abnehmen.«
Als Geschenk brachte ihm Richard eine DVD seiner letzten Tour mit, seitdem hatte er eine Flasche Wein gekauft, die er nahezu allein getrunken hatte, und als Beitrag zur Hausarbeit hatte er einmal die Geschirrspülmaschine eingeräumt und dabei versucht, eine komische Vorstellung aus dieser alltäglichen Verrichtung zu machen. Martin musste das gesamte Geschirr in der Maschine umräumen, nachdem Richard die Küche verlassen hatte. Einmal hatte er Richard ein teures Steak gekauft, das er sich briet, wobei er den gesamten Herd mit Fett vollspritzte, sonst schien er auswärts zu essen.
Vor zwei Tagen, nach der Premiere (der Martin sich entziehen konnte), hatte Richard Martin zu »einem Curry« mit »ein paar Leuten« aus London eingeladen, die gekommen waren, um seine Show zu sehen. Martin hatte das Kalpna am St. Patrick Square vorgeschlagen, weil er Vegetarier war (nichts mit einem Gesicht), aber irgendwie waren sie in einem tollwütig karnivoren Restaurant gelandet, das andere »Leute in London« Richard empfohlen hatten. Als es ans Zahlen ging, stellte Martin fest, dass er darauf bestand, die Rechnung zu begleichen. »Danke, Martin, vielen Dank«, sagte einer aus London, »ich hätte es als Spesen absetzen können.«
»Wie steht es mit Rauchen im Haus?«, hatte Richard kaum zehn Minuten nach seiner Ankunft gefragt, und Martin war hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, ein herzlicher, großzügiger Gastgeber zu sein, und dem Wunsch zu erklären, dass er alles hasste, was mit Zigaretten zu tun hatte. »Also …«, setzte er an, und Richard sagte: »Nur in meinem Zimmer natürlich. Ich möchte nicht, dass Sie meinen schmutzigen karzinogenen Rauch einatmen.« Aber jeden Morgen, wenn Martin herunterkam, fand er im Wohnzimmer ein kleines Häufchen Kippen auf einer Untertasse oder einem Teller (einmal in einer Terrine) des Wedgwood-Service, das Martin bei seinem Einzug gekauft hatte.
Richard kam spät nach Hause und tauchte erst gegen Mittag aus seinem Zimmer auf, wofür man dankbar sein musste. Wenn er auf war, telefonierte er. Er hatte ein neues Videotelefon, das Martin höflich bewunderte (»Ja, das ist ein sexy Teil, nicht wahr?«, sagte Richard), obwohl er es blöd und unelegant fand und es ihn an den Raumschiff-Enterprise-Kommunikator erinnerte.
Richard hatte die Erkennungsmelodie von Robin Hood, der alten Fernsehserie aus den fünfziger Jahren, als Klingelton heruntergeladen, und das blöde, blecherne Geräusch trieb Martin langsam in den Wahnsinn. Als Gegenmaßnahme hatte sich Martin vor kurzem für »Vogelgezwitscher« entschieden und war angenehm überrascht, wie echt die Vögel klangen.
Er schaute sich im Wartezimmer um, entdeckte an der Wand eine Uhr, die halb zwei anzeigte. Es fühlte sich wesentlich später an, der Tag hatte seine Fasson verloren, war unter dem Gewicht der unerwarteten Realität aus den Fugen geraten.
Martin hatte eine gehässige Kritik von Richard Moats Show im Scotsman gelesen. Unter anderem stand da: »Richard Moats Humor knarzt heutzutage vor Banalität. Er wärmt das gleiche alte abgenutzte Material auf, das er schon vor zehn Jahren verwendet hat. Die Welt hat sich weiterbewegt, Richard Moat nicht.« Allein die Lektüre war Martin peinlich. Richard gegenüber wagte er nicht zu erwähnen, dass er den Verriss gelesen hatte, denn dann hätten sie sich beide diesem Schrecken stellen müssen, und Martin selbst war oft genug schlecht besprochen worden, um die abgründigen Gefühle zu kennen, die es hervorrief.
»Ich lese nie Kritiken«, sagte Richard von sich aus verdrossen nach dem Premierenabend. Martin glaubte ihm nicht. Alle lasen ihre Kritiken. Es war schon ein paar Jahre her, dass Richard zuletzt »das Festival gemacht« hatte, und welche Gefühle auch immer er für Edinburgh empfunden haben mochte (zu Beginn seiner Karriere war er hier höchst erfolgreich gewesen), jetzt empfand er überwiegend Ablehnung für die Stadt. »Weißt du, es ist eine großartige Stadt«, sagte er zu einem von den »Leuten aus London« während ihrer fleischfressenden Raserei in dem beängstigend vollen indischen Restaurant, »phantastisch zum Anschauen und so, aber keine Libido. Und daran ist natürlich Knox schuld.« Martin ertrug nicht, mit welch lässiger Vertrautheit Richard »Knox« sagte. Am liebsten hätte er eingeworfen, John Knox mag ein sturer, verklemmter, puritanischer Idiot gewesen sein, aber er war unser sturer, verklemmter, puritanischer Idiot, nicht eurer.
»Genau!«, rief einer von ihnen. Er hatte eine Brille mit schmalen Gläsern in einer breiten schwarzen Fassung auf der Nase und rauchte noch mehr als Richard. Martin, seit dem achten Lebensjahr Brillenträger, trug eine randlose, federleichte Brille in dem Versuch, seine Fehlsichtigkeit zu kaschieren, statt einen Charakterzug daraus zu machen. »Keine Libido – sehr gut, Richard.« Der Mann mit der schwarzen Brille stieß die Zigarette in die Luft, um seine Zustimmung zu betonen. »Das trifft Edinburgh genau.« Martin wollte seine Heimatstadt verteidigen, aber er wusste nicht so recht, wie. Es stimmte, Edinburgh mangelte es an Libido, aber warum sollte man in einer Stadt mit Libido leben wollen?
»Barcelona!«, rief ein anderer von Richards Freunden über den Tisch (sie waren laut und ziemlich betrunken), und der Mann mit der altmodischen, aber trendigen Brille bellte: »Rio de Janeiro!« Es wurden mehr Städtenamen geschrien (»Marseille!«, »New York!«), bis sie zu »Amsterdam!« kamen und ein Streit ausbrach, ob Amsterdam über Libido verfügte oder »nur der Ort für die ausbeuterischen, kommerziellen Transaktionen der Libido anderer Leute« war.
»Sex und Kapitalismus«, mischte sich Richard gelangweilt ein, »wo ist der Unterschied?«
Martin wartete auf die Pointe, aber vergeblich. Persönlich glaubte er, dass es einen großen Unterschied gab, aber dann fiel ihm ein, wie er sich vor Irina in diesem schrecklichen Hotelzimmer mit Blick auf die Newa und den Kakerlaken auf den Fußleisten ausgezogen hatte. »Gut gepolstert. Gemacht für Behaglichkeit, nicht für Eile«, hatte er gescherzt und sich vor Verlegenheit gewunden. »Da?« Sie hatte offenbar kein Wort verstanden, aber entgegenkommend gelacht. Die Erinnerung traf ihn wie der Hieb einer unsichtbaren Faust in den Bauch, und er beugte sich vor.
»Mädchen«, sagte einer von ihnen plötzlich, »wir sollten losziehen und ein paar Mädchen auftreiben.« Die Idee wurde mit furchterregender Begeisterung aufgenommen.
»Tabledancing!« Richard kicherte wie ein Teenager.
»Oh, entschuldigen Sie, Martin«, sagte ein anderer, »tut mir leid, dass wir so hemmungslos hetero sind.«
»Glauben Sie, ich bin schwul?«, fragte Martin erstaunt. Alle wandten sich ihm zu, als hätte er zum ersten Mal etwas Interessantes gesagt.
»Das ist schon in Ordnung, Martin«, sagte Richard. »Alle sind schwul.«
Martin hätte dieser lächerlichen Behauptung widersprochen, musste aber feststellen, dass er gerade ein Stück Huhn aus seinem »Gemüse-Biryani« kaute. So diskret wie möglich entfernte er es aus dem Mund und legte es auf den Tellerrand. Das letzte knorpelige Überbleibsel eines armen, misshandelten Vogels, der in einem fremden Land mit Hormonen, Antibiotika und Wasser vollgepumpt worden war. Er hätte weinen mögen.
»Ist schon okay, Martin«, sagte Richard Moat und schlug ihm auf den Rücken, »Sie sind unter Freunden.«
Ohne ihn zu fragen, ob er überhaupt hingehen wollte, setzte Richard ihn davon in Kenntnis, dass er ihm an der Kasse eine Karte für die Radioaufzeichnung hatte zurücklegen lassen. Aber als Martin dort nachfragte, sagte ein gleichgültiges Mädchen hinter dem Schalter zu einem anderen gleichgültigen Mädchen: »Haben wir Freikarten auf Richard Moats Namen?« Das andere Mädchen zog ein Gesicht und schaute sich um, während das erste wieder auf ihren grellen Bildschirm blickte.
Martin starrte auf ein Plakat für Richards Show, eine Nahaufnahme von Richards komisch verzogenem Gesicht. Darunter stand: »Richard Moat – Komisches Viagra für den Kopf«. Martin fand das eher abstoßend als einladend.
Als keins der beiden Mädchen ihn weiter beachtete, deutete Martin auf den schiefen hölzernen Kasten an der Rückwand. Unter jedes Fach war mit Tesafilm ein Namensschild geklebt. Das Fach »Richard Moat« enthielt einen weißen Umschlag. Das zweite gleichgültige Mädchen las den Namen auf dem Umschlag. »Martin Canning?«, sagte sie argwöhnisch und reichte ihm den Umschlag, ohne eine Bestätigung abzuwarten. Er kontrollierte die Karte und fand eine handgeschriebene Nachricht: »Ihr Wagen steht vor Macbet im Leith Walk, Gruß, R.«
»Kann ich gleich rein?«, fragte Martin, und das erste Mädchen sagte, ohne vom Bildschirm aufzublicken: »Nein, Sie müssen sich anstellen.«
»Danke«, sagte er, unsichtbar und ungehört, und reihte sich in die Schlange ein. Und dann stieg der Mann mit dem Baseballschläger aus dem Honda.