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Richard Moat erwachte nicht. Er lag seelenruhig in Martin Cannings Wohnzimmer in Merchiston. Es war ein großes viktorianisches Landhaus im neogotischen Stil und hatte etwas von einem Pfarrhaus. Der Rasen davor wurde beherrscht von einem einzelnen riesigen Affenschwanzbaum, der so alt war wie das Haus. Von der Straße wurde das Anwesen durch große alte Bäume und Büsche abgeschirmt. Die komplizierte Verästelung der Wurzeln des Affenschwanzbaums reichte jetzt weit über den Rasen hinaus, wand sich um Gas- und Abwasserrohre bis auf die Straße und schob sich lautlos in anderer Leute Gärten.
Die zerschlagene Rolex an Richard Moats Handgelenk tat kund, dass er um zehn vor fünf gestorben war (auch sie tickte angemessenerweise nicht mehr), bewacht nur von dem kleinen, roten dämonischen Auge des Fernsehers – der »phantastische«, den für sein Leben einzutauschen Richard einen Augenblick lang gehofft hatte –, mit nichts zur Gesellschaft als den leisen Geräuschen der Vorortwelt, die lauter wurden, als der Morgen voranschritt. Das Milchauto war durch die Straße gerattert. Es war ein wohlhabender Vorort, in dem Milchautos die Glasflaschen noch bis zur Haustür brachten. Die Post war nahezu lautlos durch den Briefschlitz gefallen. In London begann der Tag für Richard Moat erst, wenn die Post eintraf. Ein Tag ohne Post (obwohl immer Post kam) begann gar nicht erst. Heute kam Post, nahezu ausschließlich für ihn, weitergeleitet an »c/o Martin Canning« – ein Scheck seines Agenten, die Postkarte eines Freundes aus Griechenland, zwei Fanbriefe und zwei Hassbriefe. Doch obwohl die Post eingetroffen war, sollte dieser Tag für Richard Moat nie beginnen.
Das Mädchen fand ihn. Das Mädchen war eine Tschechin aus Prag, eine Physikerin mit abgeschlossenem Studium. Sie hieß Sophia und verbrachte den Sommer damit, sich für einen Hungerlohn »den Arsch abzuarbeiten«. Sie waren keine »Mädchen«, sie waren Putzfrauen, »Mädchen« war eine dumme, altmodische Bezeichnung. Sie waren angestellt bei einer Firma namens Hilfe, und sie trafen ein, den Mopp in der Hand, in einem rosa Kombi, beaufsichtigt von einer Bandenführerin, die sich als »Haushälterin« bezeichnete – eine Frau, die von der Isle of Lewis stammte und die Mädchen schlecht behandelte. Mit den Gebühren für Agentur und versteckte Zulagen kostete Hilfe dreimal mehr als eine normale Putzfrau, die ein-, zweimal in der Woche kam. Im Allgemeinen putzten sie bei Leuten, die zu reich oder zu dumm (oder beides) waren, um an eine billigere Alternative zu denken. Sie hatten kleine rosa Visitenkarten, deren Slogan lautete: »Wir haben Ihnen Hilfe geleistet!« Sophia hatte Wörter wie »Slogan« (und das Wort »Arsch« und viele andere Dinge) von ihrem schottischen Freund gelernt, der Marketing studiert hatte. Wenn die Mädchen fertig waren, sollten sie eine kleine rosa Karte zurücklassen, auf die sie schrieben: »Ihre Mädchen waren heute Maria und Sharon.« Oder wer auch immer. Die Hälfte der Mädchen waren Ausländerinnen, die meisten aus Osteuropa. Ökonomische Einwanderung wurde es genannt, aber in Wirklichkeit war es Sklavenarbeit.
Die Haushälterin gab ihnen eine Liste mit Aufgaben mit. Die Liste war zuvor mit dem Hausbesitzer vereinbart worden und umfasste Selbstverständliches wie »Waschbecken im Bad putzen«, »Treppe saugen«, »Bettwäsche wechseln«. Nie stand darauf »Katzenkotze wegwischen«, »Versiffte Laken wechseln«, »Haare aus Abfluss entfernen«, was der Wahrheit mehr entsprochen hätte. Manche Menschen waren Schweine, sie ließen ihre schönen Häuser auf ekelhafte Weise verkommen. »Versifft« war natürlich ein Wort, das Sophia von ihrem schottischen Freund gelernt hatte. Er war eine gute Quelle für die Umgangssprache, obwohl er ziemlich oberflächlich war, und ein guter Fick (sein Ausdruck), was man ja schließlich von einem ausländischen Freund erwartete, warum sonst sollte man sich die Mühe machen?
Die Haushälterin fuhr sie gewöhnlich in dem rosa Kombi herum, setzte sie ab und tat dann weiß Gott was, wahrscheinlich nichts Anstrengendes. Sophia stellte sich vor, dass sie irgendwo in einem bequemen Sessel saß, Schokoladenkekse aß und Good Morning sah.
In Merchiston mussten sie drei Häuser putzen, alle nahe beieinander, es war also wahrscheinlich Mundpropaganda – denn was immer sie sonst taten, die Hilfe-Mädchen putzten gut. Das Haus mit dem Affenschwanzbaum (sehr schön, Sophia stellte sich vor, dort zu leben) putzten sie jede Woche. Der Besitzer war nur selten da. Wenn sie das Haus durch die Vordertür betraten, verließ er es durch die Hintertür wie eine Katze. Er war Schriftsteller, behauptete die Haushälterin, also keine Papiere, keine Manuskripte durcheinanderbringen. Es war das sauberste, ordentlichste Haus, das sie putzten, alles stand an seinem Platz, die Betten waren gemacht, die Handtücher gefaltet, die Lebensmittel im Kühlschrank alle in ordentlichen Plastikbehältern von Lakeland. Sie hätte sich in die Küche setzen, Kaffee trinken, die Zeitung lesen und wieder gehen können, ohne einen Finger zu rühren, und die Haushälterin hätte es nicht gemerkt. Aber das tat Sophia nicht. Sie war nicht faul. In diesem Haus polierte und wischte und saugte sie noch mehr, denn der Schriftsteller verdiente es, weil er selbst so ordentlich und sauber war. Und jetzt erst recht, weil der Schriftsteller einen Besucher hatte, der ein Schwein war, der rauchte und trank und seine Kleider auf dem Boden liegen ließ, und wenn er sie sah, schmutzige, anzügliche Dinge zu ihr sagte.
Er hatte einem der anderen Mädchen Geld angeboten, einer traurigen Rumänin, und sie war mit ihm nach oben gegangen (»um zu bumsen«), und dann hatte er ihr nur die Hälfte des Geldes und ein unterschriebenes Foto von sich gegeben. »Wichser«, war die einhellige Meinung der Mädchen. Sophia hatte ihnen das Wort beigebracht mit freundlicher Genehmigung ihres schottischen Freundes. Es war ein sehr nützliches Wort. Aber es war dumm von dem Mädchen gewesen, mit ihm zu gehen. Danach weinte sie tagelang, vergoss Tränen auf hübsch polierte Flächen und verbrauchte saubere Handtücher. Sie sei Jungfrau gewesen, sagte sie, aber sie habe das Geld gebraucht. Alle brauchten Geld. Viele von ihnen waren illegal im Land, manchen war der Pass weggenommen worden, andere verschwanden nach einer Weile. Sexhandel. Das würde auch mit dem rumänischen Mädchen passieren, man sah es ihren Augen an. Es gab Gerüchte über schlimme Dinge, die manchen Mädchen von Hilfe zugestoßen waren, aber es gab immer Gerüchte, und Mädchen stießen immer schlimme Dinge zu. So war das Leben.
Sophia gefiel der Gedanke, dass der Schriftsteller nicht zu reich oder zu dumm war, um eine normale Putzfrau einzustellen, sondern dass er die Unpersönlichkeit des Hilfe-Dienstes mochte. Sophia stellte sich vor, dass Schriftsteller Menschen waren, die anderen Menschen nicht zu nahe kommen wollten, damit sie sie nicht vom Schreiben abhielten.
Heute waren sie unterbesetzt, weil die Grippe grassierte, und die Haushälterin sagte: »Fang allein an«, und so klopfte Sophia an die Tür des Schriftstellers. Sie hatte einen Schlüssel, aber sie sollten trotzdem zuerst klopfen. Wieder klopfte sie laut. Der Schriftsteller hatte einen soliden Messingklopfer in Form eines Löwenkopfes, und es hatte etwas Befriedigendes, ihn zu benutzen, als wäre sie Polizistin. Als niemand öffnete, schloss sie auf, trat ein und rief »Hilfe hier«, mit einer lauten melodiösen Stimme für den Fall, dass der Schriftsteller im Bett war und mit jemandem bumste. Sehr unwahrscheinlich, im ganzen Haus des Schriftstellers fanden sich keine Anzeichen für Sex mit einer Frau oder einem Mann. Nicht einmal Pornos. Ein paar gerahmte Fotos, sie erkannte Notre Dame in Paris, holländische Häuser an einem Kanal – Touristenfotos wie Postkarten, keine Leute darauf.
Er hatte einen Satz russischer Puppen, eine Matroschka von der teuren Sorte. Die Touristenläden in Prag waren dieser Tage voll mit russischen Puppen. Die Puppen des Schriftstellers standen aufgereiht auf dem Fensterbrett, sie staubte sie jede Woche ab. Manchmal stellte sie sie ineinander, spielte mit ihnen, wie sie es als Kind mit ihrer eigenen Matroschka getan hatte. Damals hatte sie sich vorgestellt, sie würden einander auffressen. Ihre Matroschka war billig gewesen, lieblos bemalt in Primärfarben, aber die Puppen des Schriftstellers waren schön, bemalt von einem wirklichen Künstler mit Szenen aus Puschkin – so viele Künstler in Russland hatten jetzt keine Arbeit mehr, bemalten Schachteln und Puppen und Eier, alles für die Touristen. Der Satz des Schriftstellers bestand aus fünfzehn Puppen! Wie sehr er ihr als Kind gefallen hätte. Jetzt hatte sie alle Kindersachen natürlich weggeräumt. Sie fragte sich, ob der Schriftsteller schwul war. In Edinburgh gab es viele schwule Männer.
In seinem Arbeitszimmer stand ein Regalfach mit seinen Büchern, viele davon in fremden Sprachen, sogar in Tschechisch! Sie hatte darin geblättert, sie handelten von einem Mädchen namens Nina Riley, die Privatdetektivin war. Legen Sie die Waffe weg, Lord Hunterston! Ich weiß, was auf der Moorhuhnjagd passiert ist, Davys Tod war kein Unfall. Scheiße, hätte ihr schottischer Freund gesagt. Bei Hilfe nannten sie den Schriftsteller Mr. Canning, aber das war nicht der Name auf den Büchern, dort hieß er Alex Blake.
Alles hübsch wie immer. Duftende Rosen aus dem Garten in einer runden Vase auf dem Tisch in der Eingangshalle. Er legte immer zehn Pfund extra unter die Vase, ein großzügiger Mann. Musste sehr reich sein. Heute lag kein Zehn-Pfund-Schein darunter, das sah ihm gar nicht ähnlich. Das Esszimmer war unbenutzt wie immer. Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, was sie sonst nicht waren. Im Zimmer war es düster, als wäre es voller Nebel. Selbst in diesem Dämmerlicht war ihr klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Sie ging vorsichtig über den Teppich, und unter ihren Füßen knirschte Glas, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Sie zog die Vorhänge auf, und Sonnenlicht strömte herein und erhellte das Chaos – der Spiegel über dem Kamin, alle Ziergegenstände, sogar die hübschen gläsernen Schirmchen der antiken Lampe, alles zu Scherben und Splittern zerschlagen. Das Tischchen umgestürzt, eine Tischlampe auf dem Boden, der Schirm aus gelber Seide verbogen und zerbrochen. Ein Durcheinander, als wären Elefanten durch das Zimmer getrampelt. Wirklich tollpatschige Elefanten. Die Matroschka-Puppen des Schriftstellers lagen verstreut herum, kleine umgestoßene Kegel. Gedankenverloren hob sie eine auf und steckte sie in die Tasche ihrer Jacke, fühlte ihre glatte, runde, befriedigende Form.
Sophia hatte ein komisches Gefühl im Bauch, als ob gleich etwas Aufregendes passieren würde, etwas, was noch nie zuvor passiert war. Wie damals, als sie zusah, wie ein großer Wohnblock gesprengt wurde. Bumm! Und dann die große Wolke dichter grauer Staub wie bei einem Vulkanausbruch, wie die einstürzenden Türme des World Trade Center, nur dass das Haus lange vor dem World Trade Center eingestürzt war.
Dann schrie sie »O Gott, o mein Gott« in ihrer eigenen Sprache. Sie bekreuzigte sich, obwohl sie nicht gläubig war, und sagte noch einmal: »O mein Gott.« Es schienen die einzigen Worte zu sein, an die sie sich erinnern konnte. Der Anblick des Mannes auf dem Boden hatte vorübergehend den gesamten Datensatz von Sophias Wortschatz, Englisch und Tschechisch, gelöscht.
Sie war eigentlich Wissenschaftlerin, nicht Putzfrau, rief sie sich ins Gedächtnis, sie sollte leidenschaftlos, objektiv beobachten können. Sophia zwang sich, näher zu treten. Der Mann, es musste der Schriftsteller sein, lag auf dem Boden, als wäre er nach hinten umgefallen, während er auf den Knien betete. Es schien eine unbequeme Lage, aber wahrscheinlich machte es ihm nicht mehr allzu viel aus. Sein Kopf war eingeschlagen, ein Auge hing heraus. Überall klebte Hirn, das aussah wie schottischer Haferbrei. Blut. Eine Menge Blut, aufgesaugt von dem roten Teppich, deswegen hatte sie es zuvor nicht bemerkt. Blut auf den rot gestrichenen Wänden, Blut auf den roten Samtsofas. Der Raum schien auf einen Mord gewartet zu haben, er schien darauf gewartet zu haben, Blut aufzusaugen wie ein Schwamm.
Sie gewöhnte sich allmählich an den Anblick. Es fielen ihr auch wieder mehr Wörter ein – englische Wörter. Sie hätte jetzt »Hilfe!« oder »Mord!« schreien können, doch nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte, schien ihr das ein bisschen blöd, und so ging sie vorsichtig durch das Haus und aus der Tür und auf die Straße, wo die Haushälterin noch immer Plastikeimer und Mopps aus dem rosa Kombi lud, und setzte sie davon in Kenntnis, dass das Haus des Schriftstellers heute zu keinem Zeitpunkt geputzt werden konnte.