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Gloria öffnete die Haustür und stand zwei weiteren Polizistinnen gegenüber. Sie sahen den beiden von vorhin sehr ähnlich, als wären sie alle aus demselben Nest geschlüpft.

»Mrs. Hatter?«, sagte eine. Ihre Miene ließ auf schlechte Nachrichten schließen. »Mrs. Gloria Hatter?«

 

Graham war nicht, wie Gloria gedacht hatte, bei einem Krisentreffen mit seinen Buchhaltern am Charlotte Square, sondern in der Notaufnahme des neuen Royal Infirmary. Er hatte einen Herzinfarkt in einem Zimmer des Apex Hotel erlitten in Gesellschaft von jemandem, der unter dem Namen »Jojo« lief. Jojo hießen Glorias Ansicht nach nur Clowns, aber hier handelte es sich um ein Callgirl, was nur ein anderes Wort für Hure war.

»Man sollte das Kind beim Namen nennen«, sagte Gloria und seufzte.

Die Polizistinnen (»Wachtmeisterin Clare Deponio, und das ist Wachtmeisterin Gemma Nash«) sahen aus wie junge Mädchen, die sich für ein Kostümfest Polizeiuniformen ausgeliehen hatten. »Ein Telefonanruf hätte es auch getan«, sagte Gloria zu ihnen. Sie kochte Tee, und dann saßen sie auf dem mit pfirsichfarbenem Damast bezogenen Sofa in ihrem in Pfirsichtönen gehaltenen Wohnzimmer, balancierten die Tassen und Untertassen des Royal-Doulton-Services steif auf den Knien und knabberten höflich an Glorias selbst gemachtem Shortbread. Gloria war überzeugt, dass sie Besseres zu tun hatten, aber sie schienen dankbar für die Verschnaufpause. »Es ist eine Abwechslung«, sagte die eine (Clare). Sie hätten viel zu tun, sagte Gemma, weil eine »Sommergrippe« die Polizisten des Bezirks Lothian und Borders umhaute »wie Kegel«.

»Sie haben ein schönes Haus«, sagte Clare anerkennend. Gloria blickte sich im pfirsichfarbenen Wohnzimmer um und versuchte, es mit den Augen einer Fremden zu sehen. Was würde sie vermissen, wenn ihr alles weggenommen würde? Die Moorcroft-Vase? Die chinesischen Teppiche? Die Staffordshire-Figuren? Sie mochte ihre Staffordshire-Sammlung. Das Bild über dem Kamin, ein Gemälde aus dem neunzehnten Jahrhundert, auf dem ein Hirsch von einer Meute wütender Hunde in die Enge getrieben wird – ein Geschenk von Murdo Miller zu Grahams sechzigstem Geburtstag –, würde sie allerdings nicht vermissen. Und die hässliche Auszeichnung zum schottischen Geschäftsmann des Jahres, die auf dem Ehrenplatz auf dem Kaminsims stand, erst recht nicht. Die Figur stand neben dem Hochzeitsfoto von Gloria und Graham, dem einzigen Foto, das sie von diesem Tag hatten.

Sollte ein Feuer ausbrechen und Graham müsste zwischen dem Foto und der Auszeichnung zum schottischen Geschäftsmann des Jahres wählen, zweifelte Gloria nicht daran, dass er die hässliche Skulptur aus Kunstharz retten würde. Ja, sie war sich ziemlich sicher, dass er, müsste er wählen zwischen dem Preis und Gloria, den Preis ihr vorziehen würde.

Die Polizistin namens Clare nahm das Hochzeitsfoto in die Hand und sagte mit schräg gelegtem Kopf, mitfühlend, als wäre Graham bereits abgeschrieben: »Ist das Ihr Mann?« Gloria fragte sich, ob es seltsam war, dass sie Tee aus einer zerbrechlichen Doulton-Tasse trank, statt theatralisch in die Notaufnahme zu rasen und ihre eheliche Pflicht zu erfüllen. Die unanfechtbare Tatsache namens Jojo schien diesen Imperativ durchkreuzt zu haben. Ein Schmutzfleck auf der triumphalen Möglichkeit von Grahams Ableben.

Gloria nahm Clare das Foto aus der Hand und betrachtete es. »Das ist neununddreißig Jahre her.«

Gemma meinte: »Sie sollten einen Orden für langjährige Verdienste bekommen«, und Clare sagte: »O Gott, das ist ja eine Ewigkeit her, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Was passiert ist«, fügte sie hinzu, »ist eine Schande, so wie er gefunden wurde. Nicht angenehm für Sie.«

»Sie sind alle Wichser«, murmelte Gemma, die kein Blatt vor den Mund nahm.

Der schwere Silberrahmen konnte die Tatsache nicht verbergen, dass das Hochzeitsfoto nicht von einem professionellen Fotografen aufgenommen worden war. Es war vergilbt und sah aus wie ein Schnappschuss, den ein unfähiger Verwandter gemacht hatte (was es auch war). Gloria wunderte sich über die Nachlässigkeit der beiden Elternpaare, die verschuldet hatten, dass es kein würdigeres Zeugnis von diesem Tag gab.

Gloria bedauerte, dass es keine weiße Hochzeit mit allem Drum und Dran gewesen war, denn dann besäße sie jetzt ein großes, weißes ledergebundenes Album mit Fotos, die sie sich anschauen könnte, Fotos, die bewiesen, dass sie einst eine Familie hatte, die sie mehr liebte, als ihr damals klar gewesen war, und in dem Album sähen alle für immer gut aus. Und Gloria stünde im Mittelpunkt, strahlend und schlank, nicht ahnend, dass ihr das Leben bereits durch die Finger zu gleiten begann. Gloria war überrascht, dass Graham in einem Apex Hotel gewesen war, das war überhaupt nicht sein Stil.

Es war eine eher braune Hochzeit gewesen. Graham hatte einen supermodernen Anzug an in der Farbe, die in Glorias Kindheit alle vergnügt »negerbraun« genannt hatten. Gloria trug einen Pelzmantel, den sie in einem Secondhand-Laden am Grassmarket gekauft hatte. Der Mantel im Stil der vierziger Jahre war aus kanadischem Biber, gefertigt zu einer Zeit, als noch keiner darüber nachdachte, ob es falsch war, Pelz zu tragen. Heutzutage hätte Gloria nicht mehr die Haut eines anderen Tieres über ihre eigene gezogen, aber so, wie sie es jetzt sah, waren die Tiere damals bereits lange tot gewesen und hatten das glückliche, unkomplizierte Leben kanadischer Vorkriegsbiber gelebt.

Wenn Gloria das weiße ledergebundene Album hätte, wäre darin das Andenken an ihre Mutter, ihren Vater und ihre ältere Schwester bewahrt. Und natürlich an Jill, »die Erste, die von uns gegangen ist«, die mit einer Schar Schulfreundinnen gekommen war und bis tief in die Nacht getrunken hatte, lange nachdem alle anderen schon zu Bett gegangen waren. Glorias Bruder Jonathan wäre nicht auf den Fotos, er war bereits mit achtzehn gestorben. Gloria war erst vierzehn, als Jonathan starb, und das Kind in ihr hatte angenommen, dass er irgendwann zurückkommen würde. Jetzt, da sie älter war und wusste, dass er nicht mehr zurückkehren würde, vermisste sie ihn noch mehr als damals.

Während sie zusah, wie die jungen Polizistinnen in ihren Streifenwagen stiegen, dachte Gloria an Graham, wie er auf einem Doppelbett lag, das furnierte Kopfende hinter sich, und durch die Fernsehkanäle zappte, während er ein Steak mit Pommes frites und einer erbärmlichen kleinen Salatgarnitur aß, eine halbe Flasche Rotwein trank und auf die Frau wartete, die professionellen Sex mit ihm haben sollte. Wie oft hatte er sie schon auf diese schäbige Weise betrogen, während sie zu Hause saß, allein vor dem Bang & Olufsen BeoVision Avant? Hatte sie es nicht tief in ihrem Innern gewusst? Unbedarftheit war keine Entschuldigung für Unwissenheit.

Beiläufig schaute Gloria an sich hinunter. Sie hatte eine unförmige kamelhaarfarbene Strickjacke aus Kaschmir von Jenners an, mit Messingknöpfen, die man nur als geschmacklos bezeichnen konnte. Und ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie die Art Kleidung trug, die ihre Mutter getragen hätte, so sie mehr Geld gehabt hätte. Das matronenhafte Kaschmir schien etwas zu bestätigen, was Gloria schon eine Weile vermutete, nämlich dass sie geradewegs von der Jugend ins Alter übergewechselt und die gute Zeit dazwischen irgendwie ausgelassen hatte.

Das war kein unbekanntes Gefühl. Gloria hatte oft den Eindruck, ihr Leben sei eine Reihe Räume, die sie erst betrat, kaum hatten alle anderen sie bereits verlassen. Bei ihrer Geburt war der Krieg ein knappes Jahr zu Ende und in ihrem Elternhaus noch omnipräsent. Ihr Vater hatte »mit Monty« gekämpft – als hätten sie Seite an Seite in der Schlacht gestanden –, während ihre Mutter sich an der Heimatfront engagierte, heroisch Gemüse anbaute und Hühner hielt.

Gloria wuchs in dem Gefühl auf, etwas Bedeutendes unwiederbringlich verpasst zu haben (was natürlich stimmte), als wäre dadurch ihr Leben geschmälert. Ebenso erging es ihr mit den sechziger Jahren. Letztlich hatte sie ihre prägenden Jahre in dem Niemandsland zwischen zwei revolutionären Epochen verbracht. Als die Sechziger in vollem Gange waren, war Gloria bereits verheiratet und schrieb Einkaufslisten auf abwaschbare »Memotafeln«.

Hätte Gloria noch einmal von vorn anfangen können, sie wäre im Pub auf der George IV Bridge nicht vom Barhocker gerutscht und mit Graham gegangen. Sie hätte zu Ende studiert, wäre nach London gezogen, hätte hohe Absätze und schlichte Businesskostüme getragen (und ihre Figur behalten), an Wochenenden getrunken und mit so vielen verschiedenen Männern geschlafen, dass sie sich nicht mehr an ihre Namen, geschweige denn an ihre Gesichter erinnern könnte. Sie blickte auf die Uhr und stellte fest, dass die Auktion bei eBay zu Ende war. Ob jemand sie bei den Staffordshire-Windhunden überboten hatte? Noch auf der Schwelle zum Tod war auf Graham Verlass, wenn es darum ging, ihr den Spaß zu verderben.

 

Auf der Fahrt zu dem neuen Krankenhaus in Little France übte Gloria die Art Gespräch, die sie mit Graham führen wollte. Obwohl ihr Gemma und Clare erklärt hatten, dass er bewusstlos war, hatte sich Gloria nicht vorgestellt, dass er deswegen nicht reden konnte. Graham redete, das machte ihn zu Graham, und als sie in der Notaufnahme eintraf, wo er an ein Sortiment blinkender und piepender Monitore angeschlossen war, erwartete sie, dass er den Mund aufmachte und etwas typisch Graham’sches sagte (»Du hast dir verdammt viel Zeit gelassen, Gloria«). Seine absolute Passivität verwirrte sie.

Der Arzt in der Notaufnahme erklärte, dass Grahams Herz »überlastet« gewesen und stehen geblieben sei. Sein »System« sei lange Zeit »unten« gewesen, was den derzeitigen komatösen Zustand zur Folge hatte, von dem er sich eventuell wieder erholen würde oder auch nicht. »Wir schätzen«, sagte der Arzt zu Gloria, »dass ungefähr einer von hundert Männern während des Geschlechtsaktes stirbt. Der Puls eines Mannes, der mit seiner Frau schläft, beträgt neunzig Schläge pro Minute, mit einer Geliebten steigt er auf einhundertsechzig.«

»Und mit einem Callgirl?«, fragte Gloria.

»Schießt er vermutlich noch höher«, sagte der Arzt gut gelaunt. »Er hätte natürlich schneller reanimiert werden können, wenn er nicht gefesselt gewesen wäre.«

»Gefesselt?«

»Das Mädchen, das bei ihm war, hat versucht, ihn wiederzuleben, sie scheint recht einfallsreich zu sein.«

»Gefesselt?«

 

Gloria fand das fragliche einfallsreiche Callgirl mit dem Clownsnamen Jojo im Wartezimmer der Notaufnahme. Ihr richtiger Name war offenbar Tatiana.

»Ich bin Gloria«, sagte Gloria.

»Hallo, Gloria«, sagte Tatiana. Ihre satten L ließen die Begrüßung etwas düster klingen, als wäre sie eine Schurkin aus einem James-Bond-Film.

»Seine Frau«, stellte Gloria klar.

»Ich weiß. Graham spricht von Ihnen.«

Gloria fragte sich, zu welchem Zeitpunkt einer Transaktion zwischen Graham und einem Callgirl ihr Name fallen könnte. Vorher, nachher – während?

»Nicht während«, sagte Tatiana. »Er kann nicht sprechen während.« Auf Glorias unausgesprochene Frage hin zog sie die ausdrucksstarken Augenbrauen in die Höhe. »Knebel«, ergänzte sie.

 

»Knebel?«, murmelte Gloria über einer Tasse Kaffee und einem Blätterteiggebäck im Café des Krankenhauses. Es war das erste Mal, dass sie im neuen Royal war, und sie war leicht desorientiert aufgrund der Tatsache, dass es einem Einkaufszentrum glich.

»Damit er nicht schreit«, sagte Tatiana sachlich und entrollte den Wirbel einer Rosinenschnecke, bevor sie ihn anmutig auf eine Weise kaute, die Gloria an die Eichhörnchen in ihrem Garten erinnerte.

Gloria runzelte die Stirn und versuchte sich vorzustellen, wie man in einem Apex Hotel ans Bett gefesselt werden konnte (keine Bettpfosten). »Was sagt er?«, fragte sie. »Wenn er reden kann.«

Tatiana zuckte die Achseln. »Dies und das.«

Gloria fragte: »Woher kommen Sie?«, und Tatiana sagte: »Tollcross«, und Gloria sagte: »Nein, ich meine ursprünglich«, und das Mädchen blickte sie aus seinen grünen Katzenaugen an und sagte: »Aus Russland, ich bin Russin«, und einen Augenblick lang sah Gloria endlose Wälder schlanker Birken und das Innere verrauchter fremdländischer Kaffeehäuser vor sich, obwohl das Mädchen wahrscheinlich in einem Betonhochhaus in einem entsetzlich trostlosen Vorort gelebt hatte.

Sie trug Jeans und ein ärmelloses Top. War das ihre Arbeitskleidung?

»Nein«, sagte sie, »hier ist Kostüm«, und deutete auf den Inhalt einer großen Tasche, die sie dabeihatte.

Gloria warf einen Blick auf Gürtelschnallen und Leder und eine Art Korsett, das Gloria einen surrealen Augenblick lang an das fleischfarbene medizinische Korsett ihrer Mutter erinnerte.

»Er ist gern unterwürfig.« Tatiana gähnte. »Mächtige Männer, sie sind alle gleich. Graham und seine Freunde. Idjoten.«

Seine Freunde? »Oh, Gott.« Gloria dachte an Pams Mann Murdo. Sie dachte an Pam, wie sie in ihrem brandneuen Audi 8 herumgondelte, in den Bridge-Club fuhr, ins Fitness-Center, ins Plaisir du Chocolat zum Nachmittagstee. Während Murdo – was tat? Gloria schauderte.

Sie seufzte. War es das, was Graham wirklich wollte, nicht legere Kleidung von Windsmoor and Country Casuals, keine geschmacklosen Messingknöpfe, sondern eine Frau, die jung genug war, um seine Tochter zu sein, und die ihn verschnürte wie einen Truthahn? Es war seltsam, wie etwas, womit man überhaupt nicht gerechnet hatte, trotzdem keine Überraschung war.

Gloria bemerkte die winzigen goldenen Kruzifixe in Tatianas Ohren. War sie gläubig? Waren Russen jetzt, da sie keine Kommunisten mehr waren, religiös? Sie konnte nicht fragen, das tat man nicht. Nicht in Großbritannien. Im Urlaub auf Mauritius hatte der Taxifahrer, der sie vom Flughafen ins Hotel fuhr, Gloria gefragt: »Beten Sie?«, einfach so, fünf Minuten nachdem er sie aufgepickt und ihr Gepäck im Kofferraum verstaut hatte. »Manchmal«, sagte sie, was nicht stimmte, aber sie spürte, dass er enttäuscht wäre, wenn er erführe, dass sie gottlos war.

Gloria hatte noch nie verstanden, warum man ein Instrument der Folter und des Tötens als Schmuckstück tragen wollte. Genauso gut könnte man eine Schlinge oder eine Guillotine tragen. Zumindest waren Tatianas Kreuze schlicht, kein sich im Tod windender Christus darauf. Stießen die Kruzifixe manchmal die Kunden ab? Juden, Muslime, Atheisten, Vampire, wie fühlten sie sich dabei?

Ihr Vater, erzählte Tatiana plötzlich, sei ein »großer Clown« gewesen. (Das erklärte vielleicht ihren Künstlernamen.) Im Westen, so sagte sie, hielten sie Clowns für »Slapsticktrottel«, aber in Russland seien sie »existenzielle Künstler«. In einem plötzlichen Anfall slawischer Melancholie ließ sie den Kopf hängen und bot Gloria einen Kaugummi an, den diese jedoch ablehnte.

»Also nicht lustig?« Gloria holte fünfhundert Pfund am Bankomaten auf dem Flur des Krankenhauses. Sie hatte während des letzten halben Jahrs jeden Tag fünfhundert Pfund an Automaten abgehoben. Sie bewahrte das Geld in einem schwarzen Plastikmüllsack in ihrem Kleiderschrank auf. Bislang waren es zweiundsiebzigtausend Pfund in Zwanzig-Pfund-Scheinen. Es nahm erstaunlich wenig Platz ein. Gloria fragte sich, wie viel Platz eine Million brauchen würde. Sie mochte Bargeld, man konnte es anfassen, es tat nicht so, als wäre es etwas anderes. Auch Graham mochte Bargeld. Graham mochte Bargeld ein bisschen zu sehr, riesige Summen davon wurden auf den Konten von Hatter-Häuser gewaschen und kamen sauber wie neue weiße Wäsche wieder heraus. Graham scheute die altmodischen Wege – Waschsalons und Sonnenstudios –, die sein Freund Murdo noch nutzte. Pam schien keine Ahnung zu haben, dass das Kaschmir von Jean Muir und Ballantyne, das ihren Körper kleidete, mit gewaschenem Geld bezahlt wurde. Unwissenheit war nicht gleich Unschuld.

Gloria teilte sich das Geld aus dem Bankomaten mit Tatiana. Sie hatten sich schließlich beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise, Grahams Geld verdient. In den siebziger Jahren waren Frauen für »bezahlte Hausarbeit« auf die Straße gegangen. Sich für Sex bezahlen zu lassen schien ihr sinnvoller. Die Hausarbeit musste erledigt werden, ob man wollte oder nicht, aber Sex war freiwillig.

»O nein, ich habe keinen Sex mit ihnen«, sagte Tatiana. Sie lachte, als wäre es das Lächerlichste, was sie je gehört hatte. »Ich bin nicht Idjot, Gloria.«

»Aber Sie verlangen Geld?«

»Klar. Ist Geschäft. Alles ist Geschäft.« Tatiana rieb auf die Art der internationalen Geldsprache Daumen und Zeigefinger aneinander.

»Also, wofür bezahlen sie … genau?«

»Ohrfeigen. Fesseln. Schlagen. Befehle erteilen, Dinge tun.«

»Was für Dinge?«

»Sie wissen schon.«

»Nein, ich kann es mir nicht einmal vorstellen.«

»Meine Stiefel lecken, auf Boden kriechen, fressen wie Hund.«

»Nichts Nützliches wie zum Beispiel staubsaugen?«

Wer weiß – hätte Gloria Graham all die Jahre versohlen und wie einen Hund fressen lassen können? Und sie wäre dafür bezahlt worden!

»In Russland ich arbeite in Bank«, sagte Tatiana düster, als wäre eine Bank der gefährlichste Arbeitsplatz der Welt. »In Russland ich bin immer hungrig.«

Gloria fiel auf, dass sie sehr bewegliche Gesichtszüge hatte, und sie fragte sich, ob es etwas mit ihrem Clownvater zu tun hatte.

Als Gegenleistung für das Bargeld zog Tatiana von irgendwo aus dem Inneren ihres BH eine kleine rosa Visitenkarte und schrieb auf die Rückseite eine Handynummer und »Nach Jojo fragen«. Sie reichte Gloria die Karte. Auf der Vorderseite stand in schwarzen Lettern »Hilfe – stets zu Ihren Diensten!«. Das Ausrufezeichen vermittelte den Eindruck, dass Hilfe Kinderpartys mit Alleinunterhaltern und Luftballons belieferte. Wieder die Clowns, dachte Gloria. Irgendwo hatte sie dieses Logo schon mal gesehen, war Hilfe nicht eine Reinigungsfirma? Gloria kannte die rosa Kombis aus ihrer Gegend, und Pam hatte Hilfe gerufen, als ihre Putzfrau letztes Jahr einen Blasenvorfall hatte. Gloria putzte selbst, sie putzte gern. Es war eine nützliche Art, die Stunden zu füllen.

»Ja, klar.« Tatiana zuckte die Achseln. »Sie putzen, wenn Sie das wollen.« Das Wort »putzen« schien in Tatianas schwermütiger Sprechweise eine ganz neue Bedeutung anzunehmen, als wäre es paradoxerweise eine schmutzige (wenn nicht gar etwas makabre) Aktivität.

Die Karte war noch warm von Tatianas Busen. Gloria fühlte sich daran erinnert, wie sie Eier unter den Hühnern hervorgeholt hatte, die ihre Mutter noch hielt, nachdem der Krieg und die Notwendigkeit längst Vergangenheit waren. Tatiana steckte das Geld in ihren BH. Auch Gloria verbarg Wertgegenstände häufig in der Panzerung ihrer Unterwäsche in dem Glauben, dass selbst der unerschrockenste Dieb die Brustwehr ihres postmenopausalen 42EE »Doreen« von Triumph nicht überwinden würde.

Sie gingen zusammen zum Eingang des Einkaufszentrums/Krankenhauses, und Gloria erwarb unterwegs einen halben Liter Milch, ein Heft mit Briefmarken und eine Zeitschrift. Es hätte sie nicht überrascht, wenn draußen irgendwo eine Autowaschanlage gewesen wäre.

Den Eingang bildete eine riesige Luftschleuse auf der Vorderseite des Gebäudes, in der Leute herumstanden, mit ihren Handys telefonierten, auf Taxis oder andere Fahrgelegenheiten warteten oder eine Pause einlegten beim Gebären oder Sterben oder Behandeltwerden. Ein paar Patienten in Morgenmänteln und Slippern starrten niedergeschlagen durch das regennasse Glas in die Welt hinaus. Von der anderen Seite der Fenster starrten die Raucher hinein, ebenso niedergeschlagen.

Nach der Treibhausatmosphäre im Krankenhaus war es draußen kalt. Tatiana zitterte, und Gloria bot dem Mädchen ihren dreiviertellangen grünen Regenmantel von Dannimac an. Gloria sah damit aus wie der Inbegriff der Frau mittleren Alters, aber an Tatiana entfaltete er einen seltsamen nicht-Dannimac’schen Schick. Sie ließ Kaugummiblasen platzen und rauchte eine Zigarette, während sie sehr schnell Russisch in ihr Handy sprach. Gloria verspürte ein wenig Bewunderung für sie. Tatiana war so viel interessanter als ihre eigene Tochter.

»Das ist Überraschung für Sie«, sagte Tatiana, nachdem sie den Anruf beendet hatte.

»Ja«, sagte Gloria, »das kann man sagen. Ich dachte immer, er würde auf dem Golfplatz umfallen. Nicht dass er schon gestorben wäre, natürlich.«

Tatiana tätschelte ihr die Schulter und sagte: »Machen Sie sich keine Sorgen, Gloria, bald ist es so weit.«

»Glauben Sie?«

Tatiana blickte in die Ferne wie eine Hellseherin und sagte: »Vertrauen Sie mir.« Dann schauderte sie noch einmal, diesmal nicht vor Kälte, und sagte: »Ich muss gehen.« Sie zog Glorias Dannimac mit einer eleganten, wenn auch theatralischen Bewegung aus, und Gloria fragte sich, ob sie eine Balletttänzerinnenausbildung hatte, aber sie schüttelte den Kopf und sagte: »Trapez.«

Das Letzte, was Gloria von Tatiana sah, war, wie sie in ein Auto mit schwarzen Scheiben stieg, das geräuschlos vorgefahren war. Einen Augenblick lang glaubte Gloria, es wäre Grahams Wagen, aber dann fiel ihr wieder ein, wo er war.