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Louise verspürte ein merkwürdiges Entsetzen, erinnerte sich vage an einen Dokumentar- oder Spielfilm – Fakt oder Fiktion, sie wusste es nicht –, ein Mann, der vollkommen benommen erwacht und feststellen muss, dass seine ganze Familie abgeschlachtet worden ist, während er schlief, der von Zimmer zu Zimmer taumelt und ihre Leichen findet.
Plötzlich erwachte sie, zu plötzlich, mit rasendem Herzen und schweißgebadet, und sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu überzeugen, dass es ein Traum gewesen war. Und dann hörte sie das Scharren. In den Wänden? Oder über ihrem Kopf? Über ihrem Kopf. Klauen oder Nägel auf Holz, Kratzen, Laufen. Es hörte auf. Fing wieder an, hörte erneut auf. Was verursachte diese Geräusche? Olympische Spiele der Nagetiere auf dem Dachboden. Vor ein paar Jahren hätte sie Jellybean hinaufgeschickt, den felinen Terminator. Er schlief auf ihrem Bett, bewegte sich neben ihrem Fuß. Sie hätte gern seine professionelle Meinung zu dem Scharren und Kratzen eingeholt, aber sie wollte ihn nicht stören. Er schlief jetzt fast die ganze Nacht und den ganzen Tag. Sie dachte immer, dass es für ihn letzte Dinge waren, sein letzter Tag, sein letztes Frühstück, sein letztes Bad, sein letzter Spaziergang im Freien. Sie kaufte ihm kein Katzenfutter mehr, sondern ging in die Lebensmittelabteilung von Marks and Spencer’s und erstand Bio-Räucherlachs, Scheiben gekochter Hühnerbrust und frische Eiercreme, von allem brachte er nicht mehr als ein paar halbherzige Bissen hinunter, vermutlich mehr ihr zuliebe als aus Hunger. Das letzte Abendmahl. Archie beschwerte sich, dass er nicht so gute Sachen bekam wie die Katze, und er hatte recht.
Sie hievte sich aus dem Bett, ging leise den Flur entlang und öffnete die Tür zu Archies Zimmer – sie musste sich vergewissern, dass der Albtraum ein Albtraum gewesen war. Beide Jungen schliefen, Archie in seinem Bett, Hamish in einem Schlafsack auf dem Boden. Das Zimmer stank nach Jungen. Louise dachte, dass ein Mädchenzimmer nach Nagellack, Buntstiften und billigen Süßigkeiten riechen würde. Archies Zimmer war erfüllt von konzentriertem Testosteron und Fußgeruch. Im Dämmerlicht erkannte sie gerade noch, dass sich Archies Brust hob und senkte. Sie machte sich nicht die Mühe, Hamish nach Lebenszeichen abzusuchen, was sie betraf, konnten Jungen wie er ruhig abgeschlachtet werden.
Sie holte ihre schwere Polizei-Maglite unter dem Kopfkissen hervor und zog die Leiter aus der Falltür im Flur. Sie stieg hinauf, öffnete vorsichtig die Luke und stellte sich vor, dass ihr etwas auf den Kopf springen, sich in ihrem Haar verfangen, an ihren Ohren und Lippen knabbern würde.
Das winzige Fenster ließ mehr Morgenlicht ein, als sie gedacht hatte, und zusätzlich fiel Licht durch die Lücken zwischen den Dachschindeln. Louise war ziemlich sicher, dass zwischen den Schindeln keine Lücken sein sollten. Es war kein richtiges Dachgeschoss, nur ein Speicherraum mit einem Boden aus rohen Brettern und ohne Strom, in dem sich der Wassertank befand. Ein Elektrokabel schlängelte sich über den Boden, statt unsichtbar unter Putz verlegt zu sein, die Ummantelung aus Plastik war teilweise abgenagt, und Drähte lagen bloß. Die Dachsparren und -balken waren roh und splittrig, und nirgendwo war etwas isoliert. Louise fragte sich, ob es den Vorschriften entsprach, neue Häuser ohne Isolierung zu bauen. Der Speicher schien den Eindruck des dauerhaft Unfertigen zu verstärken, den das Haus machte.
In einer Ecke bewegte sich etwas, klein und flink, ein graues Büschel Schweif, und dann war es verschwunden durch das winzige Loch, wo das Regenfallrohr auf den Überhang über dem Wohnzimmer stieß. Ein Eichhörnchen.
Louise suchte mit der Taschenlampe die Wände ab. Sie fand das Fluchtloch des Eichhörnchens – eine Spalte, wo ein Klumpen Zement aus der Mauer gefallen sein musste oder (wahrscheinlicher, wenn man Hatter-Häuser kannte) nie Zement gewesen war. Sie ließ den Lichtkegel über die Giebelmauer schweifen, eine Archäologin, die das Grab eines Pharaos öffnete, und runzelte die Stirn, als sie einen Riss im Verputz sah, der im Zickzack die Mauer hinunterlief. Den konnte man nicht den Eichhörnchen in die Schuhe schieben.
Sie stieg durch die Luke zurück und über die schmale Leiter wieder hinunter. Als sie auf der untersten Stufe stand, fuhr sie fast aus der Haut, als eine Hand ihren nackten Arm berührte. Hamish hielt ihr einen Becher mit Kaffee hin, ganz der hilfreiche Butler, nur dass er außer Boxershorts nichts anhatte. Gut gebaut für sein Alter. Plötzlich war sie sich des kurzen alten T-Shirts bewusst, in dem sie geschlafen hatte. Der kleine Scheißkerl hatte die ganze Zeit, die sie die Treppen hinuntergestiegen war, hinaufgeschaut.
»Mit Milch, ohne Zucker, Louise«, sagte er. »Ich dachte, Sie sehen aus wie jemand, der auf seine Figur achtet.« Sie überlegte kurz, ihm einen zu versetzen, aber sie wollte den Kaffee nicht im Flur verschütten oder von seinem Bankerpapa angezeigt werden, ein Arschloch, das Louise auf dem Elternabend kennengelernt hatte. Kein Zufall, dass Banker als die größten Wichser galten.
»Danke«, sagte sie und nahm den Kaffee. »Du machst dich besser fertig, Hamish, oder du kommst zu spät in die Schule.« Sie betonte das Wort »Schule«, nur um ihn daran zu erinnern, dass er tatsächlich, technisch gesehen, noch ein Kind war. Sie wollte eine Spur von Demütigung auf seinen glatten, bourgeoisen Zügen sehen, aber stattdessen sagte er: »Meine Güte, Louise, Sie müssten dringend mal chillen.«
Louise zog aus der Form geratene Sportsachen an und ging hinaus auf die Straße. Sie war noch immer wütend auf Hamish – der jetzt Frühstück machte in ihrer Küche, als wäre er zu Hause. Der Kaffee war allerdings erstaunlich gut. Archie hatte keine Ahnung vom Kaffeekochen, außer es war Instantkaffee. Louise fragte sich, ob Hamish auch für seine Mutter Kaffee kochte. Es musste schön sein, jemanden zu haben, der etwas für einen tat. Vielleicht war er bei sich zu Hause so asozial und unerträglich wie Archie, und umgekehrt, wenn Archie bei Hamish war, führte er sich vielleicht auf wie der kleine Lord Fauntleroy und sagte zu Hamishs Mutter: »Darf ich Ihnen noch mehr Tee bringen, Mrs. Sanders?« Nein, die Phantasie ging mit ihr durch.
Sie stellte sich auf den Gehweg auf der anderen Straßenseite und trank ihren Kaffee, während sie die Front ihres Hauses nach Mängeln absuchte.
Irgendwo im Haus begann ihr Handy zu klingeln.
»Das ist ein ganz schöner Riss«, sagte eine Stimme. Sie wandte sich um und sah, dass ihr Nachbar gerade sein Auto aufschloss. Er machte eine Kopfbewegung in Richtung ihrer Haustür und setzte sich auf den Fahrersitz, während seine Familie einstieg. Louise trat geschmeidig ein paar Schritte zur Seite, blickte nach oben und sah die Krähenfüße eines Risses in der Mauer über dem Eingang. Ich huste, und ich pruste, und ich puste dein Haus weg. In der Geschichte konnte der große böse Wolf das Ziegelhaus, das Schweinchen Schlau gebaut hatte, nicht wegpusten. Leider hatte kein Schweinchen Schlau Louises Haus gebaut, sondern der große böse Wolf Graham Hatter. Was hatte Jessica gesagt? Das Schiff sinkt oder so.
»Scheiße«, sagte sie.
Der Nachbar zuckte zusammen. Er war irgendein Christ, auf seinem Auto klebte so ein Fisch, und er erwartete offenbar etwas Besseres von der Polizei. Werktags fuhr er seine Kinder in die Schule, samstags zum Schwimmen und sonntags in die Kirche. Herr Spießer. Die Bilderbuch-Familie. Sie hasste sie. »Scheiße«, wiederholte sie, damit er noch einmal zusammenzuckte. »Scheiße, Scheiße, Scheiße.« Er rauschte in einer Wolke der Missbilligung davon.
Hamish tauchte in der Tür auf und hielt ihr das Telefon hin. »Ein Herr für Sie«, sagte er. Manchmal verhielt er sich wirklich tuntenhaft, vielleicht war er doch nicht der geile Hetero, der er vorgab zu sein. Würde sie zu ihren Kollegen in Corstorphine sagen können: Mein Sohn ist schwul? Sag es laut und sag es stolz. Dieses Gespräch konnte sie sich einfach nicht vorstellen. Vierzehn, erinnerte sie sich, sie waren noch Kinder, sie hatten keine Ahnung, wer oder was sie waren. Sie lief über die Straße und riss Hamish das Handy aus der Hand.
»Ja«, sagte Louise scharf, und es tat ihr sofort leid, weil es Jackson Brodie war, und dann war sie noch unhöflicher zu ihm, bestrafte ihn, weil sie sich über den Klang seiner Stimme gefreut hatte.
»Ich habe mich gerade gefragt«, sagte er, »ob Ihnen der Ausdruck ›reelle Häuser für reelle Menschen‹ etwas sagt.«
»Was?«
»Reelle Häuser für …«
»Ich habe Sie gehört. Sie schnüffeln doch nicht immer noch herum, oder? ›Reelle Häuser für reelle Menschen‹ ist der Slogan von Hatter-Häuser. Ihr Hauptquartier ist in Edinburgh, es ist immer noch ein Familienunternehmen. Graham Hatter ist ein schottischer Bonze, Millionär, Geschäftsmann und so weiter. Ich wohne in einem Hatter-Haus. Es ist ein Haufen Scheiße. Eichhörnchen fressen es auf.«
Sie wartete, bis Archie und Hamish im Wohnzimmer lagen und MTV zum Frühstück schauten und alles vergessen hatten, was nicht zu ihrer kleinen dummen Welt gehörte, bevor sie in Archies Zimmer schlich. Sie tippte auf die Leertaste, und auf dem Bildschirm tauchte eine Textseite auf.
»Du darfst nicht vergessen, Bertie, die Reichen sind anders als wir.«
»Ich weiß. Sie haben mehr Geld.«
Das war eine Geschichte oder ein Roman. Archie schrieb einen Roman? Man hatte schon Pferde kotzen sehen. Und selbst wenn Archie einen Roman schriebe, wäre es nicht diese Art Roman, sondern hätte etwas mit der Zerstörung der Welt durch roboterhafte Cybermaschinen zu tun und obendrein mit gefügigen Sexpuppenfrauen. Sie ging in »Eigene Dateien«. Der Roman war auf einer CD. Eindeutig nicht Archies CD. Es befand sich zudem Korrespondenz eines »Alex Blake« darauf, offenbar Antworten auf Fanpost. Weitere Korrespondenz von einem Martin Canning. Teile eines Manuskripts, ein Roman – mehrere Kapitel von etwas mit dem Titel »Tod auf Black Isle«. Das hatten sich Archie und Hamish gestern Abend laut vorgelesen.
»›Weißt du, ich glaube es steckt mehr dahinter, als man auf den ersten Blick sieht, Bertie.‹«
Dann fiel es ihr ein – »Alex Blake« war der Name des Mannes, in dessen Haus Richard Moat ermordet worden war. Martin Canning war sein richtiger Name – oder war es umgekehrt? Ihr Sohn, ihr harmloser Sohn besaß gesetzwidrig etwas, was vom Tatort stammen musste. Was hatten sie sonst noch getan? Sie spürte ein Loch, eine Leere, wo normalerweise ihr Magen war.