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Louise betrachtete leidenschaftslos die Leiche auf der Bahre. Bei Autopsien hielt sie es für das Beste, jedes Gefühl an der Tür zurückzulassen. Dieser Tage gab es im Fernsehen viele Sendungen, in denen Polizei und Gerichtsmediziner davon faselten, eine Leiche sei nicht einfach nur eine Leiche, sondern eine Persönlichkeit. Die Pathologen sprachen mit den Toten, als würden sie leben (Wer hat dir das angetan, Schätzchen?), als würde sich das Opfer plötzlich aufsetzen und Namen und Adresse des Mörders nennen. Die Toten waren tot, sie waren keine Menschen mehr, sie waren nur noch, was übrig bleibt, wenn die Persönlichkeit für immer verschwunden ist. Die sterblichen Überreste. Sie dachte an ihre eigene Mutter und griff nach den Tic Tacs.
Das Leichenschauhaus war bevölkert von den üblichen Verdächtigen, einem Fotografen, Technikern, Forensikern, zwei Pathologen – eine Arche Noah voller Autopsiespezialisten. Jim Tucker stand etwas abseits. Louise wusste, dass er das Leichenschauhaus nicht gut verkraftete. Er entdeckte sie und runzelte die Stirn, überrascht, sie hier zu sehen. Louise hielt den Daumen nach unten, er murmelte leise: »Oh, Scheiße.«
Ackroyd, einer der beiden Pathologen, bemerkte sie und sagte: »Das Beste haben Sie schon versäumt, Magen, Lunge, Leber.« Ackroyd war ein Schwachkopf.
Der zweite Pathologe stand stumm neben ihm und grüßte sie mit einem kurzen Nicken und einem Lächeln. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Lediglich die Routineautopsien wurden von nur einem Pathologen durchgeführt, zwei waren erforderlich, sobald es um »Nachprüfbarkeit« ging. Einer plus Ersatz. »Neil Sneddon«, sagte er mit einem erneuten Lächeln, als wären sie auf einer Party. Flirtete er mit ihr? Neben einer Leiche? Nett.
»Sind Sie wegen ihr hier?«, fragte er und schaute auf die Frau auf der Bahre.
»Nein, ich muss mit Jim sprechen – Jim Tucker.«
Das tote Mädchen sah ungesund aus, es wirkte eher ungesund als richtig tot. Ackroyd entnahm ihr Herz dem Brustkasten. Eine Assistentin, ein Mädchen namens Heather, wenn sich Louise richtig erinnerte, stand in der Nähe und hielt eine Schale aus Edelstahl hoch wie einen Baseballhandschuh, als würde ihr der Pathologe das Herz gleich zuwerfen. Nachdem er es in die Schale gelegt und nicht geworfen hatte, wog Heather das Herz, als wollte sie einen Kuchen damit backen.
Louise berührte den fühllosen Handrücken des Mädchens. Warmes Fleisch auf kaltem Fleisch. Die Lebenden und die Toten. Sie sah plötzlich ihre Mutter im Bestattungsinstitut vor sich, ihr Gesicht wie kaltes, geschmolzenes Wachs – die böse Hexe aus dem Westen, aus dem Zauberer von Oz.
Jim Tucker hob fragend eine Augenbraue, und sie winkte ihn auf die Seite.
Die Kleider der Toten lagen auf einer Bank und warteten darauf, eingepackt und ins forensische Labor in Howdenhall geschickt zu werden. BH und Unterhose passten nicht zusammen, aber in beiden befand sich ein Etikett von Matalan. Deswegen sollte man zusammenpassende Unterwäsche tragen, erinnerte sich Louise, nicht wegen der unwahrscheinlichen Chance einer sexuellen Begegnung, sondern für Eventualitäten wie diese. Für das Tot-auf-einer-Fischhändlerbahre-Szenario, wenn die ganze Welt sehen konnte, dass man die nicht zusammenpassende Unterwäsche in Billigläden kaufte.
»Prostituierte, gefunden in einem Eingang in der Coburg Street. Überdosis. War der Sitte bekannt«, sagte Jim Tucker. Er senkte die Stimme. »Was ist passiert?«
»Crichton hat das Verfahren wegen einer Formsache eingestellt. Ein Zeuge ist nicht erschienen.«
»Machst du Witze? Er hätte unterbrechen und uns bitten sollen, den Zeugen zu suchen.«
»Wir gehen in Berufung«, sagte Louise. »Wird schon werden.«
»Scheiße.«
»Ich weiß.« Auf der Bank mit den Kleidungsstücken sprang ihr etwas ins Auge – ein kleiner Stapel Visitenkarten in einer Petrischale. »Was ist das?«
»Haben wir in ihrer Tasche gefunden«, sagte Jim Tucker. »Die Visitenkarten der Dame.«
Blassrosa, schwarze Schrift. Hilfe. Eine Handynummer. Genau wie Jackson Brodie gesagt hatte.
»Wir dachten an eine Callgirl-Agentur«, sagte Jim Tucker. »Bei der Telefonnummer sind wir nicht weitergekommen.«
»Sie hat eine Callgirl-Visitenkarte, und du meinst trotzdem, sie war auf der Straße?«, wunderte sich Louise.
»Sie war ein Junkie, vermutlich war es ihr egal, ob sie es in einem Hotelzimmer oder einem Hauseingang machte.«
Louise glaubte das keine Sekunde. Wenn sie sich schon verkaufte, dann bestimmt lieber in einem hübschen warmen Hotelzimmer, wo sie sicher sein konnte, dass jemand wusste, wo sie war. »Ich bin auch auf der Suche nach Hilfe, bislang haben wir nichts gefunden.«
»Sollte ich was darüber wissen?«, fragte Jim Tucker.
»Nicht wirklich. Ein verschwundenes Mädchen, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass sie überhaupt existiert.«
»Ah, deine sogenannte Tote von gestern. Habe gehört, dass du die Truppen umsonst losgeschickt hast. Sie ist nicht aufgetaucht?«
»Noch nicht.«
»Was habe ich da von einer Leiche in Merchiston gehört?«, rief Ackroyd ihr zu.
»Keine Ahnung«, sagte sie. »Das ist Edinburgh Süd, hab ich nichts mit zu tun.«
»Ich wohne in Merchiston«, murmelte Ackroyd.
»Dein Viertel geht dahin, Tom.« Neil Sneddon lachte. Er zwinkerte Louise zu. Sie fragte sich, ob sie mit jemandem Sex haben könnte, der im Angesicht des Todes so verschmitzt war. Vermutlich kam es darauf an, wie gut er aussah. Sneddon sah definitiv nicht gut aus.
Ackroyd nahm eine kleine elektrische Säge und begann die Schädeldecke des Mädchens aufzusägen, als wäre ihr Kopf ein weiches Ei. »Schauen Sie genau hin«, sagte er zum grünlichen Jim Tucker, »das ist das einzige Mal, dass Sie sehen werden, was eine Frau im Kopf hat.«
Als sie Jackson Brodie heute Morgen aus dem Gericht kommen sah, war sie zusammengezuckt. Das kleine Flattern des verräterischen Herzens.
Louise fragte sich, wie Jackson Brodie mit vierzehn gewesen war. Waren alle seine Tugenden (und Untugenden) damals schon voll entwickelt, hätte man den Jungen ansehen und den Mann in ihm erkennen können? Konnte man den Mann anblicken und den Jungen entdecken?
Die rosa Karten gab es tatsächlich. Louise hatte den Beweis in der Tasche, abgestaubt von dem Stapel, während alle zu Ackroyd schauten, der seine Partynummer vorführte. Okay, das war Manipulation von Beweisen, aber es war ja nicht die einzige Karte gewesen. War eine Karte weniger letzten Endes von Bedeutung? Wirklich?
Sie rief Jeff Lennon an, den Mann im Revier, der alles wusste. Ein Kommissar ein paar Wochen vor der Pensionierung, ein Gesicht wie eine Schildkröte, ein Gedächtnis wie ein Elefant. Behindert von einem kaputten Knie, verbrachte er die letzten Tage mit der Aufarbeitung von Akten, und sie wusste, dass er sich freuen würde, wenn er etwas anderes zu tun hätte.
»Können Sie mir einen Gefallen tun?«, fragte sie ihn.
»Wenn Sie mich nett drum bitten.«
»Ich bitte Sie nett drum. Können Sie etwas über einen Autounfall in der Old Town gestern herausfinden? Da war Gewalt im Spiel. Der Schuldige hat Fahrerflucht begangen. Können Sie überprüfen, ob jemand das Kennzeichen gesehen hat?«
Jackson hatte von »Dutzenden von Zeugen« gesprochen, aber als Jeff ein paar Minuten später zurückrief, wusste er nur zu berichten, dass sich niemand daran erinnern konnte, obwohl irgendjemand ausgesagt hatte, er glaube, »der Wagen war blau«.
»Tja, ich habe gute Nachrichten«, sagte sie. »Blau ist korrekt, und außerdem ist es ein Honda Civic, und ich kann Ihnen das Kennzeichen geben. Ich habe einen Zeugen.« Sie hatte ihn »Jackson« genannt. Es hatte sich unprofessionell angefühlt, obwohl es das nicht war.
»Jeff? Noch einen winzigen Gefallen? Besorgen Sie mir die Adresse eines gewissen Terence Smith, war heute Morgen im Gericht.«
Jim Tucker hatte ein totes Mädchen mit einer Karte von Hilfe. Jackson Brodie hatte ein totes Mädchen mit einer Karte von Hilfe. Jims Mädchen war eindeutig eine Prostituierte, deswegen war die Chance groß, dass auch Jacksons Mädchen eine Prostituierte gewesen war. Sie bemerkte, dass sie Jim Tucker und Jackson Brodie in Gedanken als ebenbürtig behandelte. Schreibe zehnmal: Jackson Brodie ist kein Polizist. Er war Zeuge. Zudem ein potenzieller Verdächtiger, auch wenn die Anklage nur auf Verschwendung von Polizeizeit lautete. Und er war verurteilt wegen Körperverletzung, auch wenn er behauptete, unschuldig zu sein. Sag’s noch mal, Louise – er war ein Zeuge, ein Verdächtiger und ein verurteilter Straftäter.