28

Jackson Brodie hatte die höllische Vision, für immer in einem Bus festzusitzen. Diesmal war es einer der oben offenen Touristenbusse, die durch britische Städte rumpeln und den Verkehr aufhalten. Jackson war letztes Jahr mit Marlee in so einem Bus durch Cambridge gefahren, überzeugt, es wäre eine einfache Art und Weise, etwas über (wahrscheinlich revisionistische) Geschichte zu erfahren, aber er hatte alles wieder vergessen. Es war kalt oben, und ein elender Wind schien über die Nordsee zu peitschen mit dem einzigen Ziel, Jackson im Nacken zu treffen. Deswegen, erinnerte sich Jackson, war er in ein anderes Land gezogen.

Die Royal Mile war Jackson mittlerweile nahezu vertraut. Am liebsten hätte er sich der nächstbesten Person zugewandt und sie auf die St. Giles Church und das neue Parlamentsgebäude hingewiesen (das Budget um das Zehnfache überzogen – wie konnte etwas das Zehnfache des ursprünglichen Budgets kosten?). Ihre eigentliche Reiseleiterin war eine melodramatisch veranlagte Frau mittleren Alters, die für das Trinkgeld arbeitete. Es war die Art Job, den auch Julia übernahm, wenn sie knapp bei Kasse war.

Der Bus wälzte sich durch die Princes Street – hier gab es keinen dunklen Gotizismus, nur hässliche Hauptstraßen-Kaufhäuser. Es begann in Strömen zu regnen, und weniger hartgesottene ausländische Seelen suchten im unteren Geschoss Zuflucht, zurück blieben ein paar Briten, die sich unter Regenschirmen und Windjacken zusammenkauerten. Er hörte mit halbem Ohr, dass die Reiseleiterin etwas über Hexen (ansonsten natürlich unter der Bezeichnung »Frauen« bekannt) erzählte, die lebendig in das Nor’ Loch geworfen wurden, »jetzt als unsere ›weltberühmten‹ Princes Street Gardens nicht mehr wiederzuerkennen« (in Edinburgh war anscheinend alles »weltberühmt«. Ob es stimmte – berühmt in Somalia? In Bhutan?), als ihm in der Spur neben ihnen ein rosa Kombi auffiel, ein Citroën Kombi. Sie standen an einer roten Ampel, und als sie auf Gelb schaltete, fuhr der Kombi weiter. Jackson dachte zu diesem Zeitpunkt nichts außer »Man sieht nicht viele rosa Kombis«, aber ein Teil seines Gehirns las unwillkürlich die schwarze Schrift auf der Seite des Wagens – »Hilfe – Wir erfüllen Ihre Wünsche!« –, und ein anderer Teil seines Gehirns erinnerte sich an die kleine rosa Karte, die im BH des toten Mädchens gesteckt hatte.

Endlich begannen die zwei Teile seines Gehirns miteinander zu kommunizieren. Das ging langsamer vonstatten als gewöhnlich – Jackson stellte sich Signalflaggen vor und nicht ein Hochgeschwindigkeitsbreitband. Eines Tages, so vermutete er, würden die unterschiedlichen Teile seines Gehirns feststellen, dass sie die Botschaften nicht mehr interpretieren konnten. Flaggen, die hilflos im Wind flatterten. Und das wär’s dann. Demenz.

Jackson raste die Treppe hinunter, an den Menschenmengen im Untergeschoss vorbei und bat den Fahrer, die Tür zu öffnen. Der rosa Kombi stand jetzt weiter vorn in der Princes Street. Laufend hätte er mit ihm mithalten können, aber früher oder später würde er sich aus dem Verkehr lösen, und dann würde er ihn verlieren. Jackson sprintete vor einem hupenden Bus (Busse waren zum Fluch seines Lebens geworden) über die Straße und zum Taxistand in der Hanover Street, wo er sich auf den Rücksitz eines schwarzens Taxis warf. »Wohin?«, fragte der Fahrer, und es freute Jackson ungemein, als er sagen konnte: »Sehen Sie den rosa Kombi? Folgen Sie ihm.«

 

Sie fuhren durch das heitere Grün der Edinburgher Vororte. (»Morningside«, sagte der Taxifahrer.) Nicht gerade eine schäbige Gegend, dachte Jackson. Das schwarze Taxi war groß und auffällig, kaum das ideale Gefährt für verdeckte Aktivitäten. Der Fahrer des rosa Kombis schien es dennoch nicht zu bemerken, vielleicht war das schwarze Taxi so auffällig, dass man es übersah. Vermutlich rief er besser bei der Polizei an. Er hatte Louise Monroes Karte mit ihrer Reviernummer. Es meldete sich ein Unterling, der sagte: »Oberkommissar Monroe ist nicht im Büro«, und solle er etwas ausrichten? Nein, danke. Er wählte erneut (seiner Erfahrung nach meldete sich dieselbe Person nur selten zweimal), und wieder wurde ihm beschieden, dass Louise Monroe nicht im Büro sei. Er bat um ihre Handynummer, und sie wurde ihm verweigert. Wenn sie wirklich gewollt hätte, dass er mit ihr in Verbindung bliebe, hätte sie sie ihm geben sollen, oder? Niemand konnte sagen, er hätte es nicht versucht. Es war nicht seine Schuld, wenn er zum Schurken wurde, abtrünniger, einsamer alter Wolf. Und Verbrechen aufklärte.

Der Kombi blieb stehen, und Jackson sagte zum Taxifahrer: »Fahren Sie weiter um die Ecke«, wo er zahlte, ausstieg und dann nonchalant um die Ecke zurückging.

 

»Wir erfüllen Ihre Wünsche!« Ein juliahaftes Ausrufezeichen. Jackson fragte sich, ob es stimmte. Konnten sie zum Beispiel Auf der Suche nach dem Äquator in Grönland in ein gutes Stück verwandeln? Die Kranken und die Lahmen heilen? Seine tote Frau aus dem Forth finden?

»Es ist ein Slogan«, sagte die Frau, deren Gesicht an ein Tier erinnerte und die Eimer und Mopps aus dem Wagen lud und auf den Gehsteig stellte. Auf die Tasche ihrer rosa Uniform war ein Emblem gestickt mit der Aufschrift »Haushälterin«, eine Bezeichnung, die Jackson irgendwie als bedrohlich empfand. Die Mafia nannte ihre Auftragskiller angeblich »Putzer«, oder? (Wahrscheinlich nur in den Büchern, die er bisweilen las.) Was wäre dann eine »Haushälterin«? Eine Art Überkiller?

»Hilfe«, sagte Jackson freundlich. »Das ist ein hübscher Name.«

»Es ist eine Reinigungsfirma«, sagte die fiesgesichtige Frau, ohne ihn anzusehen.

»Ich frage mich«, sagte Jackson, »ob Sie mir die Adresse Ihres Büros geben können, ich habe sie nirgends gefunden.«

Sie sah ihn misstrauisch an. »Warum wollen Sie die haben?«

»Ach, wissen Sie«, sagte Jackson, »um mal hinzugehen und mich zu unterhalten. Um die Putzkräfte abzuholen.« Es klang noch mafiöser, wenn man es so ausdrückte.

»Geht alles übers Telefon«, sagte die Haushälterin. Sie sah aus, als würde sie Zitronen zum Frühstück essen, »zwiderwurzig« hätte sein Vater sie genannt, dabei sprach sie mit einem Akzent so weich wie schottischer Dunst.

»Alles übers Telefon?«, sagte Jackson. »Wie kriegen Sie neue Kunden?«

»Mundpropaganda. Persönliche Empfehlungen.«

Eine blasse junge Frau mit der Statur einer Bäuerin kam feindselig gestimmt aus dem nächsten Haus, nahm wortlos Eimer und Mopps und trug sie hinein. »Ich hole euch in zwei Stunden wieder ab«, rief ihr die Haushälterin nach, dann stieg sie in den Kombi und fuhr davon, ohne Jackson eines Blickes zu würdigen.

Jackson schlenderte in die entgegengesetzte Richtung, versuchte gleichgültig zu wirken für den Fall, dass ihn die Haushälterin im Rückspiegel beobachtete. Als der rosa Kombi nicht mehr in Sichtweite war, kehrte er um und betrat das Haus durch die Vordertür. Er hörte, dass in der Küche Wasser lief und oben etwas klapperte. Von der Rückseite des Hauses drang das Geräusch eines aggressiv geführten Staubsaugers, woraus Jackson schloss, dass mindestens drei Frauen hier waren. Natürlich waren es vielleicht nicht nur Frauen. Keine sexistischen Vorurteile, das brachte einen nur in Schwierigkeiten. Bei Frauen zumindest.

Er beschloss, die Frau in der Küche ins Visier zu nehmen. Mach halblang, sagte er sich, du befindest dich hier nicht in einer potenziell bedrohlichen Situation. Armeejargon. Die Armee lag so weit zurück, und doch war sie als Muster noch in ihm präsent. Manchmal fragte er sich, was aus ihm geworden wäre, wenn sein Vater ihn hätte einfahren lassen und er nicht zur Armee gegangen wäre. Jeder Aspekt seines Lebens wäre anders, er selbst wäre ein anderer Mensch. Man hätte ihn natürlich mittlerweile zum alten Eisen gezählt, er wäre überflüssig, unerwünscht. Aber war er das jetzt nicht auch?

1995, er erinnerte sich an das Jahr, an den Augenblick, war er zu Hause in Cambridge gewesen, als seine Frau noch seine Frau war, nicht seine Ex, und er war noch Polizist und sie hochschwanger mit Marlee (Jackson stellte sich vor, ihr Baby wäre in seiner Frau fest verpackt wie das Herz eines Kohlkopfs), und Jackson spülte nach dem Abendessen das Geschirr (als er das Abendessen noch »Tee« nannte, bevor seine Sprache von seiner Frau zu mehr Mittelklasse aufpoliert wurde). Gegen Ende ihrer Schwangerschaft aßen sie früh, hätten sie später gegessen, wäre sie zu voll gewesen, um noch schlafen zu können, und während er die Töpfe scheuerte, hörte er die Sechs-Uhr-Nachrichten auf Radio 4, und mittendrin kam die Meldung, dass die Grube geschlossen worden war, in der sein Vater sein ganzes Leben lang gearbeitet hatte. Jackson wusste nicht mehr, warum es diese Zeche in die Nachrichten geschafft hatte, wenn so viele andere ohne großes Aufheben bereits geschlossen worden waren – vielleicht weil es die größte Kohlenmine der Gegend war, vielleicht weil es die letzte noch aktive Zeche der Region war, wie auch immer – er stand mit einem nassen Teller in der Hand da und hörte dem Nachrichtensprecher zu, und ohne Vorwarnung begannen ihm die Tränen übers Gesicht zu laufen. Er wusste nicht einmal, worum er weinte – vermutlich um alles, was es nicht mehr gab. Um den Weg, den er nicht eingeschlagen hatte, um die Welt, in der er nie gelebt hatte. »Warum weinst du?«, fragte Josie und wälzte sich schwerfällig in die Küche – sie passte kaum mehr durch die Tür. Damals interessierte sie sich noch für alle seine Gefühle. »Verdammte Thatcher«, sagte er, tat es auf männliche Weise ab, ließ es politisch und nicht persönlich klingen, obwohl es in diesem Fall beides war.

Und dann bekamen sie das Kind und eine Geschirrspülmaschine, und Jackson machte weiter und dachte lange nicht mehr an den Weg, den er nicht eingeschlagen hatte, eine Lebensweise, die er nie gelebt hatte, was ihn aber dennoch nicht davon abhielt, sich an einem verwirrten Ort seiner Seele danach zu sehnen.

 

Das von ihm ins Visier genommene Mädchen stand ebenfalls an der Spüle, wrang einen Lappen aus und wischte kraftvoll über die Ablauffläche, vor und zurück, vor und zurück. Keine Kruzifixohrringe, soweit er sehen konnte. Sie kehrte ihm den Rücken zu und sang das Lied im Radio mit einem fremdländischen Akzent mit. Im Haus gab es so viele Hintergrundgeräusche, dass Jackson nicht wusste, wie er weiter vorgehen sollte, ohne ihr Angst einzujagen. Drei Dinge fielen ihm auf, erstens, sie war nicht die Bäuerliche, die die Haushälterin angeknurrt hatte, zweitens, sie hatte ein großartiges Hinterteil, das durch den engen Rock der rosa Uniform noch großartiger wurde. Zwei hart gekochte Eier in einem Handtuch, hatte sein Bruder immer gesagt. Sein Bruder war ein Frauenkenner gewesen. Eines Tages, eines zu frühen Tages würden Männer auf diese Weise seine Tochter ansehen. Und sollte er sie dabei erwischen, würde er ihnen jeden Knochen im Leib einzeln brechen.

Jackson hatte sein halbes Leben in Uniform verbracht und nicht viel darüber nachgedacht, außer dass ihm morgens das Aufstehen leichter fiel, weil er sich nicht überlegen musste, was er anziehen sollte, aber die Wirkung, die Frauen in Uniform zuweilen hatten, empfand er immer als seltsam. Nicht alle Uniformen natürlich, keine Nazis, Kantinenmitarbeiterinnen, Verkehrspolizistinnen. Er versuchte sich zu erinnern, ob er Julia jemals in einer Uniform gesehen hatte. Aus dem Stegreif fiel ihm keine Uniform ein, die ihr gestanden hätte, sie war kein Uniformtyp. Louise Monroes Kombination aus schwarzem Kostüm und weißer Bluse war eine Art Uniform. An ihrem Hals sah man ihren Herzschlag. Dadurch erschien sie verletzlicher, als sie wahrscheinlich war.

Der dritte Gedanke schaffte es in seinem Hirn nie bis nach vorn, denn in diesem Moment bemerkte ihn die Frau in dieser speziellen Uniform, griff in die Spülmaschine, nahm einen großen Teller heraus und ließ ihn mit einer geschmeidigen Bewegung durch die Luft direkt auf seinen Kopf zusegeln, als wäre es ein Frisbee. Jackson duckte sich, der Teller flog durch die offene Küchentür in die Eingangshalle. Er hob die Hände, bevor sie nach einem weiteren Teller langte. »Gehen Sie immer gleich aufs Ganze?«, fragte er.

»Universitätsmeisterin im Diskuswerfen«, sagte sie ohne offensichtliche Gewissenbisse, obwohl sie ihn beinahe enthauptet hätte. »Warum schleichen Sie sich an?«

»Ich schleiche mich nicht an, ich suche jemanden, der meine Wohnung putzt«, sagte Jackson und versuchte, wie ein hilfloser Mann zu klingen. (»Sollte dir nicht allzu schwerfallen«, hörte er Josies Stimme in seinem Kopf.) »Ich habe den Kombi gesehen und …«

»Wir werden nicht als Putzfrauen bezeichnet. Wir werden ›Mädchen‹ genannt.« Sie wurde ein bisschen umgänglicher. »Tut mir leid, ich bin nervös.« Sie setzte sich an den Tisch und fuhr sich mit Händen, die rot und wund waren von irgendeiner Dermatitis, durchs Haar. Sie sagte: »Heute Morgen hat Sophia, ein Mädchen, eher Freundin, einen Mann gefunden, der ermordet wurde in einem Haus, in dem wir putzen. War schrecklich«, sagte das ausländische Mädchen traurig.

»Das war es bestimmt«, sagte Jackson.

»Dafür werden wir nicht gut genug bezahlt.«

Geld. Immer ein guter Anfang nach Jacksons Erfahrung. Er holte fünf Zwanzigpfundscheine aus seiner Brieftasche und legte sie auf den Tisch. »Wie heißen Sie?«, fragte er das Mädchen.

»Marijut.«

»Okay, Marijut«, sagte Jackson und schaltete den elektrischen Wasserkocher ein. »Wie wäre es mit einer schönen Tasse Tee?«

 

»Eine junge Frau«, wiederholte Jackson geduldig, »ich möchte wissen, ob sie auf Ihrer Liste steht.« Im Büro von Hilfe herrschte eine gelangweilte Atmosphäre. Das Mädchen, das die Aufsicht führte und die einzige Person im Gebäude zu sein schien, sprach schlecht Englisch und schien absichtlich alles misszuverstehen, was Jackson sagte. Automatisch schaltete er auf Pidgin-Englisch um, weil er tief in seiner atavistischen Einheimischenseele glaubte, Ausländer könnten nicht fließend Englisch sprechen, wohingegen es die Engländer waren, die selbstverständlich keine Fremdsprachen beherrschten. »Ohren? Kreuze?«, sagte er laut.

Das Büro befand sich in einem vernachlässigten, gepflasterten Sträßchen, das von der High Street abging. Der Ruß war längst vom Gesicht Edinburghs weggewaschen worden, aber die Steine hier waren noch verkrustet mit schwarzen Überresten aus der stinkenden Vergangenheit der Hauptstadt. Es war ein kalter ungeliebter Ort, seltsam unberührt sowohl von der Aufklärung als auch von Immobilienspekulanten.

Hilfe war eingezwängt zwischen einem Restaurant (einem selbsternannten »Bistro«) und Fringe-Veranstaltungsort 87. Jackson spähte in das düstere, fleischfarbene Innere des Bistros, in dem noch einige wenige Gäste zu Mittag aßen. Er schwor sich, nie einen Fuß hineinzusetzen. Von außen sah der Fringe-Veranstaltungsort wie eine Sauna aus, aber im Inneren fand er eine Gruppe unwirscher amerikanischer Highschoolkinder, die Der kaukasische Kreidekreis vor einem Publikum aus zwei Männern spielten, die aussahen, als hätten sie den Ort ebenfalls mit einer Sauna verwechselt. Julia hatte ihn vor den »Saunas« von Edinburgh gewarnt. Glaub nicht einen Augenblick lang, dass es tatsächlich Saunas sind, Jackson.

Von der Straße führte eine unauffällige, schwarz gestrichene Tür in das Büro, an deren Stock ein billiges Plastikschild mit der Aufschrift »Hilfe – Import-Export« angebracht war. Kein Versprechen samt Ausrufezeichen, seine Wünsche zu erfüllen. »Import-Export«, wenn es je einen Begriff gegeben hatte, der eine Vielfalt von Sünden abdeckte, dann diesen. Über der Klingel befand sich eine Überwachungskamera, so dass man unmöglich vor der Tür stehen konnte, ohne beobachtet zu werden. Jackson setzte sein vertrauenswürdigstes Gesicht auf und wurde eingelassen, weil er sich als Kurier ausgab. Kuriere wurden anscheinend nie nach ihren Ausweisen gefragt.

Er musste eine Treppe hinauf- und einen Korridor entlanggehen, in dem sich industriegroße Behälter mit flüssigen Putzmitteln stapelten. »Gefahrgut« stand auf einem. Auf einem anderen war ein schwarzes Totenkopfsymbol aufgemalt, aber die Aufschrift war in einer Sprache, die Jackson nicht kannte. Er dachte an Marijut, die den Lappen auswrang und mit ihren Wäscherinnenhänden die Ablauffläche wischte. Wenn schon nichts anderes, konnte er Hilfe dem Gesundheitsamt melden. Noch eine Wand aus Schachteln, auf die das geheimnisvolle Wort »Matroschka« gedruckt war.

Vielleicht war Hilfe ein Verbrecherkartell, das alles in der Stadt kontrollierte. Und was war mit den Kruzifixen? Ein vom Vatikan kontrolliertes Verbrecherkartell?

»Die Frau hatte Kruzifixe in den Ohren«, sagte Jackson zu dem Mädchen am Empfang. »Kreuze.« Er nahm einen Stift von ihrem Schreibtisch und zeichnete ein Kruzifix auf einen Block und deutete auf seine Ohren. »Ohrringe«, sagte er, »wie Ihre.« Er deutete auf die silbernen Reifen in den Ohren des Mädchens. Sie sah ihn an, als wäre er verrückt. Marijut hatte ihm erzählt, dass sie sich nicht an ein Mädchen mit Kruzifixohrringen erinnerte. Seine Beschreibung »eins siebzig groß, sechzig Kilo, blond« hätte auf ungefähr die Hälfte der Mädchen gepasst, die sie kannte. »Ich, zum Beispiel«, sagte sie. Oder das Mädchen am Empfang.

Jackson tippte auf den Computerbildschirm und sagte: »Schauen wir mal nach.« Das Mädchen warf ihm einen genervten Blick zu und scrollte dann müßig die Seite hinunter.

»Was wollen Sie von ihr?«, fragte sie.

»Ich will sie nicht. Ich will wissen, ob sie auf Ihrer Liste steht.« Jackson reckte den Hals, um den Bildschirm sehen zu können. Das Mädchen öffnete eine Datei, die ein Lebenslauf zu sein schien; in der linken oberen Ecke befand sich ein Thumbnailfoto, aber sie schloss die Datei sofort wieder. »Halt«, sagte er. »Zurück, zurück zur letzten Seite.« Das war sie, er hätte schwören können, dass sie es war. Sein totes Mädchen.

»Sie arbeitet nicht mehr für uns«, sagte das Mädchen. Sie gluckste kurz, als hätte sie einen Witz gemacht. »Ihr Vertrag ist beendet.« Sie schloss das Programm mit entschiedener Miene und schaltete den Bildschirm aus.

»Die Frau, die ich suche« – er sprach jedes Wort klar und deutlich aus –, »diese Frau ist tot.« Jackson fuhr sich ruckartig mit der Hand quer über die Kehle. Das Mädchen wich vor ihm zurück. Er war kein guter Mime. Er hätte mit Julia üben sollen, niemand spielte mit so großer Begeisterung Scharaden wie Julia, außer vielleicht Marlee. Wie stellt man tot dar? Er verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. Als er sie wieder aufschlug, stand die »Haushälterin« vor ihm und sah ihn komisch an.

»Er sagt, er ist Kurier«, sagte das Mädchen am Computer sarkastisch.

»Ja?«, sagte die Haushälterin.

»Ich suche jemanden«, sagte Jackson beherzt, »ein Mädchen, das verschwunden ist.«

»Wie heißt sie?«, fragte die Haushälterin.

»Ich weiß es nicht.«

»Sie suchen jemanden und wissen nicht, wie sie heißt?«

»Ich kann Ihnen jemand anders geben«, sagte das Mädchen am Computer.

»Ich will niemand anders«, sagte Jackson. »Was für eine Art Firma sind Sie eigentlich?«

Das Mädchen neigte sich über den Schreibtisch näher zu ihm, lächelte Jackson raubtierhaft an und sagte: »Was für eine Firma hätten Sie denn gern?«