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Dann betraten er und Irina sein Kakerlakenhotel, gingen an den furchterregenden Männern vorbei, die am Eingang herumhingen, eine Kreuzung zwischen Türstehern und Wachmännern. Sie trugen immer schwarze Lederjacken, rauchten immer Zigaretten. Sie öffneten (manchmal) die Tür und riefen Taxis, aber sie wirkten mehr wie Gangster. Einer von ihnen sagte etwas zu Irina, und sie winkte mit einer verächtlichen Geste ab.

Und dann waren sie irgendwie in seinem Zimmer, und, ohne zu wissen, wie, stand er in der Unterhose vor ihr und sagte: »Gut gepolstert. Gemacht für Behaglichkeit, nicht für Eile.«

Dann ein Zeitsprung, und sie saß auf dem schmalen Bett, trug nur noch BH und Schuhe, gab keuchende Laute von sich, die als sexuelle Raserei durchgegangen wären, wenn ihr Gesicht nicht völlig ausdruckslos gewesen wäre. Martin trug zu dem Akt so gut wie nichts bei, er hatte ihn überrascht in seiner Unerwartetheit und Hast. Er kam kurz und leise auf eine Art, für die er sich schämte. »Tut mir leid«, sagte er, und sie zuckte die Achseln und neigte sich über ihn, ihr schönes Haar strich über seine Brust, eine spöttische Geste, die absolutes Desinteresse zeigte. Er sah die dunklen Haarwurzeln, wo die gefärbten Haare herausgewachsen waren.

Sie stieg von ihm herunter. Der Nebel aus Alkohol in seinem Gehirn lichtete sich, stattdessen senkte sich eine übelkeiterregende, dumpfe Depression auf ihn, als er zusah, wie sie sich eine Zigarette anzündete. Eine Frau in einem fremden Land, eine Frau, die er kaum kannte, zog sich nicht umsonst bis auf BH und Schuhe aus und ritt dich wie ein Pferd. Sie war vielleicht keine richtige Prostituierte, aber sie erwartete Geld.

Irina hob ihre Kleider auf und machte sich fertig, die Zigarette hing zwischen den Lippen. Sie fing seinen Blick auf und lächelte. »Okay?«, sagte sie. »Du hast Spaß? Gibst du mir kleines Geschenk für Spaß?«

Er stand auf und hüpfte herum, versuchte seine Hose anzuziehen. Der Abend hatte ihn in Abgründe der Würdelosigkeit gestürzt, die er bislang gemieden hatte, auch in der Phantasie. Er kramte in seinen Taschen nach Geld. Das meiste Bargeld hatte er im Grand Hotel gelassen, und er fand nur einen Zwanzig-Rubel-Schein und ein paar Münzen. Irina blickte angewidert auf das Geld, als er ihr zu erklären versuchte, dass er zur Rezeption hinuntergehen und mit seiner Visakarte Geld holen könnte. Sie runzelte die Stirn und sagte: »Njet, keine Visa.«

»Nein, nein«, sagte er. »Ich biete dir keine Visa an. Ich will Geld wechseln. Ich will unten Dollars für dich holen.«

Sie schüttelte entschlossen den Kopf. Dann deutete sie auf seine Rolex und fragte: »Ist gut?« Sie wickelte das Kopftuch um ihren Kopf, knöpfte den Mantel zu.

»Ja«, sagte er, »sie ist echt, aber …«

»Du gibst mir.« Sie klang allmählich schrill und kompromisslos.

Es war vier Uhr morgens (er hatte keine Ahnung, wie das möglich war, als er zum letzten Mal auf die Uhr geschaut hatte, war es elf gewesen). Im Zimmer nebenan schlief ein pensioniertes Ehepaar aus Gravesend. Was würden sie denken, wenn sie von einer schreienden russischen Frau geweckt wurden, die für Sex bezahlt werden wollte? Was, wenn sie anfinge, zu schreien und Dinge durchs Zimmer zu werfen? Es war lächerlich, die Uhr war über zehntausend Pfund wert, wohl kaum ein fairer Tausch. »Nein, ich hole Geld«, beharrte er. »Und dann wird dir das Hotel ein Taxi rufen.« Er stellte sich vor, wie einer der bedrohlichen Männer in schwarzem Leder sie in ein Taxi setzte, Martin ansah, wohl wissend, dass er gerade für Sex mit ihr bezahlt hatte.

Sie sagte etwas auf Russisch, trat auf ihn zu, versuchte, ihn am Handgelenk zu packen. »Nein«, sagte er und tänzelte aus dem Weg. Sie stürzte sich erneut auf ihn, und er trat wieder zur Seite, aber diesmal stolperte sie und verlor das Gleichgewicht, und obwohl sie die Hände ausstreckte, um sich abzustützen, konnte sie nicht verhindern, dass sie mit dem Kopf gegen die Ecke des billigen, furnierten Schreibtisches stieß, der in dem kleinen Raum nahezu eine ganze Wand einnahm. Sie schrie leise auf, ein verletzter Vogel, und war dann still.

Sie sollte aufstehen. Sie sollte aufstehen und sich den Kopf halten. Sie sollte nur eine Schürfwunde oder einen Bluterguss haben. Und er würde wahrscheinlich die Rolex abnehmen und sie ihr geben, um sie für den Schmerz zu entschädigen und damit sie aufhörte, ein Theater zu machen. Doch sie stand nicht auf. Er ging in die Hocke, berührte sie an der Schulter und sagte leise: »Irina? Hast du dir wehgetan? Alles in Ordnung?« Das Kopftuch war ihr von den Haaren gerutscht. Sie lag mit dem Gesicht auf dem hässlichen Teppich und reagierte nicht. Ihr blasser Nacken wirkte verletzlich.

Er versuchte, sie umzudrehen, unsicher, ob es richtig war, das zu tun bei jemandem, der bewusstlos war. Sie war schwer, viel schwerer, als er erwartet hatte, und leistete unbeholfen Widerstand, als wäre sie entschlossen, ihm bei seinen Manövern nicht zu helfen. Er schaffte es, sie zu drehen, und sie sackte zurück auf den Rücken. Ihre Augen standen weit offen und starrten ins Nichts. Vor Entsetzen blieb ihm das Herz kurz stehen. Er machte einen Satz, nur weg von ihr, fiel über das Ende des Betts, stieß sich das Schienbein an und verletzte sich den Fuß. Etwas stieg in seiner Brust auf, ein Schluchzer, ein Schrei, er wusste nicht, was herauskommen würde, und war überrascht, als es nur ein dummes kleines Quäken war.

Es gab keinen offenkundigen Grund dafür. Eine rote Stelle an ihrer Schläfe, das war alles. Die Chance war eins zu einer Million, vermutete er – ein gebrochener Halswirbel oder eine Gehirnblutung. Danach las er monatelang Bücher über Kopfverletzungen.

Es brauchte nur ganz wenig. Wenn sie keine hochhackigen Schuhe getragen hätte, wenn der Teppich nicht ausgefranst gewesen wäre, wenn er so vernünftig gewesen wäre und begriffen hätte, dass sich ein Mädchen wie sie nie im Leben ernsthaft für ihn interessieren könnte. Einen Augenblick sah er die Szene mit den Augen anderer – des Hotelmanagements, der Männer im schwarzen Leder, der Polizei, des britischen Konsuls, des Paars aus Gravesend, des sterbenden Lebensmittelhändlers. Keine Chance, dass auch nur einer von ihnen die Situation zu seinen Gunsten interpretiert hätte.

Panik überwältigte ihn. Panik pulsierte in seiner Brust, wirbelte durch sein Gehirn wie ein Zyklon, eine Woge von Adrenalin, die durch seinen Körper spülte und alle Gedanken wegwusch bis auf einen – du musst sie loswerden. Er schaute sich im Zimmer um, ob etwas von ihr herumlag. Er sah nur ihre Handtasche, prüfte, ob sich etwas darin befand, was ihn belasten würde, ein Zettel mit seinem Namen und der Adresse des Hotels. Nichts, nur eine billige Geldbörse, ein paar Schlüssel, ein Taschentuch, ein Lippenstift. Ein Foto in einer Brieftasche aus Plastik. Das Foto eines Babys von unbestimmtem Geschlecht. Martin weigerte sich, über die Bedeutung dieses Babyfotos nachzudenken.

Er riss das Fenster auf. Es war der siebte Stock, aber das Fenster ließ sich ganz öffnen – keine Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften im Kakerlakenhotel. Er zog sie zum Fenster, dann fasste er sie in einer linkischen Umarmung um die Taille wie ein schlechter Tänzer und hievte sie aufs Fensterbrett. Er hasste sie, weil sie sich wie eine unnachgiebige Puppe, wie ein Sandsack für Bajonettübungen verhielt. Er hasste sie dafür, dass sie halb im Zimmer, halb draußen hing, als ob ihr alles gleichgültig wäre. Eine russische Puppe. Auf der Straße war es totenstill. Wenn sie aus dem siebten Stock fiele, wenn sie auf dem Gehweg gefunden würde, wüsste niemand, ob sie gesprungen oder gestoßen worden oder betrunken aus dem Fenster gefallen war. Ihr Blut musste zu nahezu hundert Prozent aus Alkohol bestehen, so viel, wie sie getrunken hatte. Niemand könnte auf sein Fenster deuten und sagen: Dort, Martin Canning, der britische Tourist, aus seinem Fenster kam sie. Unten stand ein riesiger Container mit Bauschutt. Er wollte nicht, dass sie dort hineinfiel, weil es dann ausgesehen hätte, als wollte jemand ihre Leiche loswerden.

Er legte ihr den Riemen der Tasche um den Hals, schob dann ihren Arm durch, fasste sie um die Knie, hob und zerrte, bis sie fiel.

Wenn er auf den Container gezielt hätte, er hätte ihn verfehlt, aber weil er wollte, dass sie auf dem Gehweg auftraf, stürzte sie direkt in den Container, drehte sich in der Luft, bevor sie mit einem knirschenden Geräusch, das Gesicht nach oben, auf dem Holz, den Steinen und dem zerbrochenen Verputz aufprallte. Ein streunender Hund wich erschrocken zur Seite, aber sonst blieb es still auf der Straße. Er schloss das Fenster.

Er setzte sich in eine Ecke des Zimmers und zog die Knie an. In dieser Position blieb er lange Zeit, zu erschöpft, um irgendetwas anderes zu tun. Er sah zu, wie die Dämmerung ins Zimmer drang, und dachte an Irinas blinde Augen, die es nicht mehr hell werden sahen. Eine Kakerlake krabbelte über seinen Fuß. Er hörte die erste Tram auf der Straße. Er wartete auf die Bauarbeiter, stellte sich vor, wie sie auf das Gerüst kletterten, hinuntersahen und die Frau entdeckten, die wie eine weggeworfene Puppe dalag. Er fragte sich, ob er ihre Rufe in seinem Zimmer hören würde.

Er hörte einen starken Motor, ein knirschendes Getriebe und kroch zum Fenster. Der Container schaukelte in der Luft, aus der Höhe sah er aus wie ein Kinderspielzeug. Irgendwie hatte er gehofft, dass sie in der Zwischenzeit verschwunden wäre, aber sie war noch da, zerbrochen und schlaff. Der Container wurde auf die Ladefläche eines riesigen Lastwagens gehoben und mit einem lauten metallischen Klonk abgesetzt, das durch die kalte Luft hallte. Der Lastwagen fuhr davon. Martin blickte ihm nach, wie er langsam die Straße entlangrollte, auf die Brücke über die Newa fuhr. Am Ende der Brücke verschwand er aus seinem Blickfeld.

Er hatte ein menschliches Wesen weggeworfen wie ein Stück Abfall.

 

An der Passkontrolle im Flughafen wartete er darauf, dass einer der furchterregenden Beamten ihm die Hand auf die Brust legte und das Rasen seines Herzens spürte, ihm in die Augen schaute und die Schuld darin sah. Doch er wurde mit einer gelangweilten Geste durchgewinkt. Er dachte, die Vergeltung käme rasch, aber es stellte sich heraus, dass die Mühlen der Gerechtigkeit langsam mahlten, ihn platt walzten, bis er schlichtweg nicht mehr existierte.

In dem kleinen Duty-free-Laden kaufte er einen Kühlschrankmagneten für seine Mutter, eine kleine lackierte Matroschka aus Holz. Auf dem Rückflug saß der Lebensmittelhändler neben dem Paar aus Gravesend, eingequetscht auf einem Sitz, der zu schmal für ihn war, und erzählte ihnen, dass er wieder einen Punkt auf der Liste »Dinge, die ich tun will, bevor ich sterbe« abgehakt hatte. Das Essen wurde serviert, eine traurige Mischung kalter Pasta. Martin fragte sich, ob Irinas Stand heute geschlossen bliebe oder ob ihn bereits jemand anders übernommen hatte. Dem Lebensmittelhändler ging es schlecht, als sie landeten. Auf der Rollbahn holte ihn ein Krankenwagen ab. Martin schaute nicht einmal hin.

 

Da war eine Frau, für die er mittags ein Buch signiert hatte. Er hatte keine Ahnung, warum sie hier war. Sie klammerte sich an ein Exemplar von Der Affenschwanzbaum und schrie. Er dachte daran, einen Witz zu machen und zu ihr zu sagen: »So schlecht ist es doch gar nicht, oder?«, aber er tat es nicht. Da war ein blondes Mädchen, das dem verrückten Honda-Fahrer etwas auf Russisch zurief. Der Honda-Fahrer wollte das blonde russische Mädchen umbringen, und dann schritt Jackson ein, um sie zu retten und sich zu opfern. Der Honda-Fahrer war außer sich vor Wut. Etwas stimmte nicht im Kopf von Leuten wie ihm, Leuten, die Hunde durchs Fenster warfen und ihrer Frau eine Pistole an den Kopf hielten. Schlechte Hirnchemie. Wäre Nina Riley hier gewesen, hätte sie gesagt: Legen Sie die Waffe nieder, Sie Bösewicht. Doch sie war nicht hier. Martin war allein.

Die Zeit verlangsamte sich. Der Honda-Fahrer schwang den Schläger in dem bekannten Bogen der Vernichtung. Das russische Mädchen sah ihn an. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, ihre blauen Puppenaugen starrten ihn unerschrocken an, ihr kleiner Rosenknospenmund sagte: »Erschieß ihn, Marty.« Und er schoss.