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Gloria schloss alle Türen und Fenster ab, schaltete die Alarmanlage ein und ging dann in den Keller, um die Überwachungskameras zu kontrollieren.

Im Garten vor dem Haus war alles ruhig, abgesehen von einer Füchsin, die forsch über den Rasen trottete. An den meisten Abenden stellte Gloria den Füchsen etwas zu fressen hin. Angefangen hatte sie mit Essensresten, aber jetzt kaufte sie oft etwas für sie, Pakete mit Schweinswürsten, kleine Stücke Schmorfleisch. Für den Igel (es mochte mehr als einer sein, wer wusste das schon?) gab es Katzenfutter, Brot und Milch. Das fraßen natürlich auch die Füchse. Manchmal hoppelten Kaninchen über den Rasen (die Füchse fraßen auch sie), und Gloria hatte zahllose Katzen aus der Nachbarschaft beobachtet, ebenso wie kleine scheue Nagetiere, die nur nachts herauskamen. Die Füchse fraßen die kleinen scheuen Nagetiere besonders gern. Hier unten im Keller hatte sie manchmal den Eindruck, sie würde eine Tiersendung im Fernsehen anschauen.

Die Nachtsichtkameras übertrugen alles in seltsamen Grau- und Grüntönen, so dass der Garten fremd wirkte, ein schattenhafter Ort, gesehen durch gespenstische Augen. Etwas bewegte sich in dem Blättergewirr der großen Rhododendronbüsche neben der Einfahrt. Etwas Glitzerndes, Diamanten in Jet gefasst. Augen. Was konnte das für ein Tier sein? Ein Bär? Ein Pferd? Beides war unwahrscheinlich. Sie blinzelte, und es war verschwunden. Ein Geschöpf der Nacht.

Trotz aller Technologie konnten die Kameras nicht losmarschieren und im Laub schnüffeln, sie konnten einen Eindringling nicht anheulen und anbellen. Sollte Graham sterben, würde Gloria als Erstes ins Hundeheim nach Seafield fahren und einen sanftäugigen Lurcher oder einen temperamentvollen kleinen Terrier holen. Graham mochte Tiere nicht, sie hatten nie ein Haustier gehabt, weil er behauptete, er habe eine schwere Allergie gegen Tierhaare und Federn. Gloria hatte nie Symptome von dieser oder irgendeiner anderen Allergie bei Graham bemerkt. Einmal hatte sie Haare von einer Nachbarkatze genommen – das arme Ding hatte eine Art Alopezie, man musste sie nur streicheln und hatte die Hand voller Haare – und sie unter Grahams Kopfkissen gelegt. Dann war sie die halbe Nacht wach geblieben, um zu sehen, was passierte, doch er war morgens wie immer aufgewacht und hatte nach »zwei pochierten Eiern« verlangt. Gloria vermutete, dass ihre Kinder sympathischere Menschen geworden wären, wenn sie mit einem Hund aufgewachsen wären.

Sie dachte an Graham auf der Intensivstation, der sich in einem dämmrigen Niemandsland zwischen Leben und Tod befand und darauf wartete, dass der Große Architekt im Himmel ihm seine Pläne enthüllte. Gloria behielt dieses geheimnisvolle Geschehen für sich und bereitete sich auf die Folgen vor. Sie hatte weder Ewan noch Emily angerufen, um ihnen mitzuteilen, dass ihr Vater vor der Tür des Todes herumlungerte und darauf wartete, ob er eingelassen würde. Sie hatte es niemandem gesagt. Sie wusste, dass sie es tun sollte, aber sie hatte keine Lust. Die Leute würden so ein Drama daraus machen, und Gloria glaubte, die Sache würde besser über die Bühne gehen, wenn sie sich ruhig verhielt. Außerdem hatte sie noch einiges zu erledigen, bevor er starb, bevor die Leute es erfuhren. Deshalb würde sie ihn in seinem Krankenhausbett liegen lassen, verborgen vor aller Augen, während sie Vorbereitungen für ihre Witwenschaft traf. Seine plötzliche Neigung zur Sterblichkeit hatte sie frappiert. Graham überraschte sie nicht oft.

 

Gloria legte sich mit einem Becher Horlicks und einem Teller Haferplätzchen mit Wensleydale-Käse und einem dicken Wälzer von Maeve Binchy ins Bett. Sie aß immer Wensleydale, nie Lancashire, aus tief empfundener Loyalität zu ihrer Grafschaft. Mit derselben Einstellung sah sie lieber Emmerdale als Coronation Street, einfach weil Emmerdale in Yorkshire spielte, wenn auch nicht in einem Teil von Yorkshire, den sie wiedererkannte.

Wie groß und wunderbar ihr das Ehebett plötzlich erschien. Sie hatte bereits die Bettwäsche gewechselt, die Matratze umgedreht und gelüftet, Grahams tote Haut von den Kissen gesaugt. Kaum hatte sie es sich gemütlich gemacht, Murphys Gesetz, hörte sie das geduldige Klingeln des Telefons. Gloria war der Ansicht, dass Alexander Graham Bell für eine Menge zur Rechenschaft zu ziehen war, und hatte sich geweigert, ein Telefon neben dem Bett installieren zu lassen. Sie sah die Notwendigkeit nicht ein. Wenn sie im Bett lag, wollte sie schlafen, nicht reden. Grahams Handy war buchstäblich mit seinem Ohr verbunden, er brauchte kein Telefon im Schlafzimmer, und in Reichweite des Betts befand sich »für Notfälle« ein Panikschalter, obschon Gloria sich nur ungern vorstellte, was für ein Notfall sich im Schlafzimmer ereignen sollte, damit sie auf den Panikschalter drückte. Vielleicht wenn Graham Sex wollte. Sie hievte sich widerwillig aus dem Bett und ging nach unten. Vermutlich war es am besten, alle Fragen offensiv zu beantworten.

Auf dem Display stand »Pam«. Gloria seufzte und hob ab, aber es war nicht Pam, sondern ihr Mann Murdo.

»Gloria! Entschuldige, dass ich dich so spät störe, aber ich versuche Graham auf seinem Handy zu erreichen.«

Gloria hörte, dass er sich bemühte, liebenswürdig zu klingen, aber Murdo war kein liebenswürdiger Mensch, und vor Anstrengung, so zu tun, hörte er sich an, als wäre er nicht ganz bei Trost.

»Wir waren heute Nachmittag zu einer Besprechung verabredet, aber er ist nicht gekommen. Ist er zu Hause? Liegt er im Bett?«

»Nein, er ist in Thurso.«

Das Wort schien einen hysterischen Anfall bei Murdo hervorzurufen. »Thurso? Du machst Witze. Was soll das heißen, Thurso? Was tut er in Thurso, verdammt noch mal, Gloria?«

Warum hatte sie Thurso gesagt? Vielleicht weil es sich auf Murdo reimte. Oder weil es der am weitesten entfernte Ort war, der ihr eingefallen war. »Er baut dort eine Siedlung.«

»Seit wann?«

»Seit heute.«

»Das erklärt nicht, warum er nicht ans Telefon geht.«

»Er hat es vergessen«, sagte Gloria beherzt.

»Graham hat sein Handy vergessen?«

»Ich weiß, es ist kaum zu glauben, aber so ist es. Die ganze Zeit passieren erstaunliche Dinge.« (Das stimmte.)

Murdo gab einen aufgeregten Laut von sich, gleichermaßen frustriert und panisch. Glücklicherweise begann in diesem Moment irgendwo in den Tiefen des Hauses Grahams Handy zu läuten, erkennbar am irritierenden »Walkürenritt«-Klingelton. Gloria folgte dem Wagner-Faden durchs Haus, wie eine Ratte dem Kinderfänger von Hameln, bis in die Waschküche, in der sie den Plastiksack mit Grahams Sachen aus dem Krankenhaus abgestellt hatte. Er wäre sehr wütend geworden, hätte er gewusst, dass sein maßgeschneiderter Sommeranzug aus leichter Wolle und seine handgefertigten Schuhe in einem Müllsack des Krankenhauses steckten.

Gloria wühlte in dem Sack, bis sie das Telefon endlich in der Innentasche von Grahams Jackett fand. Sie hielt es hoch, damit Murdo das Klingeln hören konnte.

»Hörst du das?«, sagte sie. »Der ›Walkürenritt‹. Ich habe dir doch gesagt, dass er’s vergessen hat.« Murdo gab ein Schnauben von sich und legte auf. »Den Blödmann wären wir los«, sagte Gloria. Manche Leute hatten einfach keine Manieren.

Sie nahm den Anruf auf Grahams Handy an und hörte eine drängende Stimme sagen: »Graham, ich bin’s, Maggie. Wo bist du? Ich versuche schon den ganzen Nachmittag, dich zu erreichen.«

»Maggie Louden«, murmelte Gloria und beschwor ein Bild von ihr herauf. Sie war neu im Team von Grahams Verkaufsabteilung, eine schmalgesichtige Frau Ende vierzig, mit einem Helm schwarz gefärbten Haars, am Kopf festgesprayt wie der Panzer eines Käfers. Gloria hatte sie an Weihnachten zum letzten Mal gesehen. Einmal im Jahr waren alle, angefangen von den Richtern und Polizeipräsidenten über die Ziegellieferanten und Leiter der Dackdeckerfirmen bis zu privilegierten Mitarbeitern aus dem Hatter-Häuser-Büro, eingeladen, unter dem Hatter-Dach in Grange Champagner zu trinken und süße Pasteten mit Hackfleisch zu essen. Sie erinnerte sich, dass Maggie in ihren schlecht sitzenden Stöckelschuhen von Kurt Geiger wie ein Kakerlak über die Fliesen in der Halle geklappert war. Gloria erinnerte sich nicht, dass jemals zuvor Leute vom Verkauf zu ihrer Weihnachtsparty eingeladen gewesen waren.

Gloria wollte gerade »Hallo Maggie, hier ist Gloria« antworten, als Maggie sagte: »Graham, Liebling, bist du da?«

Liebling? Gloria runzelte die Stirn. Sie erinnerte sich, dass Graham zusammen mit Maggie Louden, Murdo Miller und Sheriff Crichton vor dem Weihnachtsbaum gestanden hatte, in der einen Hand ein Glas mit Malzwhisky, die andere unverhohlen auf Maggies Rücken genau an der Nahtstelle zwischen dem schwarzen Crêpe ihres Cocktailkleides und dem weißen Crêpe ihrer Haut. Eine Kellnerin hielt ihnen einen Teller mit Pasteten hin, und Graham nahm zwei davon und schaffte es, sie sich gleichzeitig in den Mund zu stecken. Doch Maggie Louden winkte ab, als wären sie radioaktiv. Gloria war misstrauisch gegenüber jedem, der keine Zeit für Zucker hatte, es war ein persönlicher Makel wie eine Vorliebe für schwachen Tee. Zucker und Tee waren Charaktertests. Sie hätte es damals schon wissen müssen.

Graham hatte sich zu Maggie geneigt, seine hängenden Backen streiften nahezu den Schellack ihres Haars, und ihr etwas ins Ohr geflüstert. Gloria war es unwahrscheinlich erschienen, dass er die neue Baumbeleuchtung kommentierte, die sie vor kurzem bei Dobbies erworben hatte, aber sie hatte geglaubt, dass er einfach Graham war. Sie dachte oft, wenn er ein Müllmann oder ein Zeitungshändler wäre, er wäre für Frauen nicht so attraktiv. Ohne Geld, ohne Macht, ohne Charisma wäre er – seien wir ehrlich – nur ein alter Mann.

Das Telefon fühlte sich plötzlich heiß an in ihrer Hand. »Ist es erledigt, ist es vorbei?«, fragte Maggie. »Bist du Gloria los? Bist du die alte Schachtel los?«

Gloria war so verdattert, dass ihr beinahe das Telefon aus der Hand gefallen wäre. Graham wollte sich von ihr scheiden lassen? Graham hatte eine Affäre mit jemandem aus der Verkaufsabteilung, und die beiden sprachen davon, sie loszuwerden? Gloria steckte das Handy zurück in Grahams Tasche und ließ Maggie Louden mit seiner Sommerwolle sprechen. Sie hörte sie noch immer gedämpft »Graham? Bist du da, Graham?« sagen wie eine beharrliche Hellseherin bei einer Séance. In der Ferne explodierte leise das Feuerwerk am Schluss des Zapfenstreichs. Hatte der Kapitalismus wirklich die Menschheit gerettet? Es schien unwahrscheinlich, aber jetzt war es vermutlich zu spät, um mit Graham darüber zu diskutieren.