25
Martin fuhr zu einer Tankstelle im Leith Walk. Er war erleichtert gewesen, als er seinen Wagen endlich im Parkhaus des St. James Centre entdeckte, geduldig wartend wie ein Pony auf der Koppel – sein Gehirn befand sich in einer Art nervösem Overdrive und schlug schreckliche metaphorische Purzelbäume. Er suchte eine halbe Stunde nach seinem Auto, da Richard Moats Anweisungen sich nicht gerade als hilfreich erwiesen – Ihr Wagen steht vor Macbet im Leith Walk, Gruß, R, gekritzelt auf den Umschlag, in dem gestern die Eintrittskarte gesteckt hatte. Als er den Wagen fand, war die Windschutzscheibe vor Parkscheinen kaum mehr zu sehen.
An der nächsten Zapfsäule saß ein kleiner Junge auf dem Rücksitz eines Toyota, zog schreckliche, schwachsinnige Grimassen, und Martin vermutete, dass das Kind irgendwie behindert war. Die Mutter war im Laden und zahlte, und Martin fragte sich, ob er es wagen würde, ein Kind allein im Auto zu lassen. War der Wagen abgeschlossen und fing Feuer (das viele Benzin), konnte das Kind verbrennen. War der Wagen nicht abgeschlossen, konnte jemand das Kind stehlen, oder es konnte aussteigen, auf die Straße rennen und von einem Lastwagen überfahren werden. Ein Vorteil, kein Kind zu haben, war, dass er nicht seinetwegen Entscheidungen über Leben oder Tod treffen musste.
Als Frau ohne Partner konnte man zu einer Samenbank gehen, aber als Mann? Vom Kauf einer Frau abgesehen, ließe sich vielleicht eine Frau auch dafür bezahlen, sein Baby auszutragen, aber es blieb trotzdem eine geschäftliche Transaktion. Und wie sollte er das dem Kind erklären, wenn es fragte, wer seine Mutter war? Vermutlich könnte er lügen, aber beim Lügen wurde man immer erwischt, wenn auch nur von sich selbst.
Vielleicht hätte er doch Mönch werden sollen, zumindest hätte er dann ein Sozialleben. Bruder Martin. Vielleicht wäre er für die Krankenstation zuständig, für den eingefriedeten Kräutergarten, wo er die medizinischen Pflanzen pflegte, die Bienen summten leise, irgendwo läutete eine Glocke, die warme Luft duftete nach Lavendel und Rosmarin. Aus der Kapelle schwebten die beruhigenden Klänge eines Chorals oder eines gregorianischen Gesangs heran – war das nicht ein und dasselbe, und wenn nicht, worin bestand der Unterschied? Schlichte Mahlzeiten im Refektorium, Brot und Suppe, süße Äpfel und Pflaumen aus dem Obstgarten des Klosters. Freitags ein fetter Karpfen aus dem Fischteich. Im Winter würde er durch den kalten Kreuzgang hasten, sein Atem hinge wie weiße Wolken in der eisigen Luft des Kapitels. Natürlich stellte er sich das mönchische Leben von vor der Reformation vor, oder? Eine andere Zeit, ein anderer Ort, eine Mischung aus Bruder-Cadfael-Romanen und »Der St.-Agnes-Abend« und nicht die historische Realität. Außerdem gab es so etwas wie eine »historische Realität« nicht, Realität war diese Nanosekunde, genau jetzt, nicht einmal ein Atemzug, sondern das Atom eines Atemzugs, ein winziges winziges Ding. Davor und danach existierten nicht. Alle hielten sich mit den Fingernägeln an dem Faden fest, an dem sie hingen.
Seine namenlose, imaginäre Frau – eine Frau, für die er nichts bezahlt hatte (obwohl sie ihm teurer war als Rubine) – lebte mit ihm in einem Häuschen, das sich in einem vollkommenen Dorf befand, von dem man, wenn man wollte, in einer Stunde in London war. Das Häuschen war voller Plüsch und hatte Holzbalken, einen schönen Garten und ähnelte dem von Mrs. Miniver. Martin hatte kürzlich die Fortsetzung von Mrs. Miniver gesehen – Ihr Geheimnis – und war noch immer empört, dass sie aus keinem ersichtlichen Grund die arme Greer Garson hatten sterben lassen, als gäbe es in der Nachkriegswelt keinen Platz mehr für sie. Was natürlich den Tatsachen entsprach, aber darum ging es nicht. Und sie hatte nicht einmal gegen ihre namenlose Krankheit gekämpft (offenbar Krebs); ihre einzige Sorge war, niemandem zur Last zu fallen. Keine Krankheit, kein Erbrechen, kein Blut, kein Eiter, keine im Wohnzimmer verspritzte Gehirnmasse, kein Wüten gegen das Verlöschen des Lichts – sie küsste lediglich ihren Mann zum Abschied, ging die Treppe hinauf und schloss die Schlafzimmertür.
Der Tod war nicht so. Der Tod trat ein, wenn man am wenigsten damit rechnete. Ein Streit auf der Straße. Ein verrücktes russisches Mädchen, das den Mund aufriss, um zu schreien. Es brauchte nur ganz wenig.
Seine vortreffliche Nachkriegs-Ehefrau konnte wie Miniver ausbessern und improvisieren, sie wusste, wie man eine gefurchte Stirn glättete und die Niedergeschlagenen aufheiterte, sie hatte Tragödien erlebt, aber im Angesicht der Tragödie blieb sie stoisch. Sie roch nach Maiglöckchen.
Für gewöhnlich begann gerade der Frühling, der Himmel war blass und herb, ein heftiger Wind wehte, frische Osterglocken trieben wie Speere aus der Erde. Aus unerfindlichem Grund war es fast immer Sonntagmorgen (es hatte wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass er die Wochenenden im Internat verbracht hatte). Eine Lammkeule (beim Phantasieren nahm kein lebendes Tier Schaden) brutzelte in dem alten cremefarbenen Aga-Herd in der Küche. Martin hatte bereits Minze gehackt, frisch aus dem Garten. Sie saßen im Wohnzimmer, in Sesseln, die mit William Morris’ »Erdbeerdieb«-Stoff überzogen waren, tranken einen kleinen Sherry und hörten die Goldberg-Variationen. Diese Frau ohne Namen hatte den gleichen Geschmack wie er, was Musik, Gedichte, Drama anbelangte. Nachdem sie das Lamm (mit Sauce, Erbsen und Bratkartoffeln) gegessen hatten, gab es eine hausgemachte Eiercremetorte – zitterndes blasses Gelb mit einer Spur Muskat. Dann erledigten sie gemeinsam den Abwasch an der altmodischen Spüle aus Porzellan. Sie spülte, er trocknete ab, Peter/David räumte auf. (Die Vorlegelöffel gehören hier hinein, Lieber.) Dann schüttelten sie die Tischdecke aus und gingen spazieren, bestimmten Vögel und die ersten Frühlingsblumen, stiegen über Zauntritte, sprangen in Pfützen. Lachten. Sie sollten einen Hund haben, einen freundlichen, temperamentvollen Terrier. Der beste Freund eines Jungen. Nachdem sie mit geröteten Gesichtern und gestärkt nach Hause zurückgekehrt waren, tranken sie Tee und aßen etwas Selbstgebackenes aus der Keksdose.
Abends machten sie Sandwiches von den Lammresten und legten gemeinsam ein Puzzle oder hörten Radio, und nachdem Peter/David im Bett war, lasen sie oder spielten zusammen ein Duett, sie auf dem Klavier, er auf der Oboe. Zu seinem immerwährenden Bedauern hatte er nie ein Instrument gelernt, aber in seiner Phantasie spielte er meisterhaft, gelegentlich sogar inspiriert. Sie strickte viel – Pullover für Peter/David und frauliche Jacken für Martin. Im Winter saßen sie vor dem knisternden Kohlenfeuer, und manchmal toastete Martin Hefeküchlein oder Teekuchen mit der Röstgabel aus Messing. Hin und wieder las er ihr Gedichte vor, allerdings nichts zu Modernes.
Dann war es natürlich an der Zeit, dass auch sie ins Bett gingen. Martin zog die Uhr auf, überprüfte die Schlösser, wartete, bis seine Frau getan hatte, was immer sie in dem kalten, etwas feuchten Bad tat. Eines Tages würde das Häuschen unvermeidlicherweise modernisiert werden, Bad und Küche, ein elektrischer Herd und Zentralheizung, aber jetzt hatte das Ganze etwas Entbehrungsreiches, geschuldet seiner Zeit und seinem Ort in der britischen Sozialgeschichte. Dann würde auch er die schmale Treppe hinaufgehen (Kiefernholz mit Läufer und Messingstangen) und ihr Schlafzimmer mit den Dachschrägen betreten. Dort wartete sie auf ihn, saß in ihrem geblümten Nachthemd in dem Mahagonibett aus einem früheren Jahrhundert und las im heimeligen Licht der Lampe mit dem Pergamentschirm ein Buch. Marty, komm ins Bett.
Nein, das war falsch, sie nannte ihn nie Marty. Das war falsch. Falsch, falsch, falsch. Martin, sie nannte ihn Martin, der gewöhnliche Name eines gewöhnlichen Menschen, an den sich nie jemand erinnerte.
Die Mutter des Jungen im Toyota kam aus dem Laden, hatte Chips und Cola und Schokoriegel dabei. Sie blickte Martin (aus keinem erkennbaren Grund) finster an und reichte die Früchte ihrer Nahrungssuche an den Jungen auf dem Rücksitz weiter, bevor sie in einer Abgaswolke davonfuhr. Der Junge wandte sich zu Martin um und hielt ihm in einer unverwechselbaren Geste einen Finger ans Fenster entgegen.
Erst als er den Laden betrat, um zu zahlen, fiel ihm ein, dass er seine Brieftasche nicht mehr hatte.
Als Martin vor seinem Haus vorfuhr, musste er feststellen, dass die Einfahrt von der Polizei abgesperrt war und von einem uniformierten Polizisten bewacht wurde. Martin fragte sich, ob es in seinem Haus gebrannt hatte oder eingebrochen worden war oder ob er versehentlich ein Verbrechen begangen hatte – vielleicht während der Stunden der Unzurechnungsfähigkeit im Four Clans. Oder waren sie ihm schließlich auf die Spur gekommen? Hatte ihn Interpol aufgespürt, und wollten sie ihn verhaften und an Russland ausliefern?
»Officer«, sagte er, »ist etwas passiert?« (Sagte man das – Officer –, oder sagten das die Leute im amerikanischen Fernsehen? Martin war noch immer schrecklich benebelt.)
»Es gab einen Zwischenfall, Sir«, sagte der Polizist. »Sie können leider nicht ins Haus gehen.«
Plötzlich fiel Martin ein, dass Mittwoch war. »Es ist Mittwoch.« Er hatte nicht beabsichtigt, es laut zu sagen, er musste klingen wie ein Idiot.
»Ja, Sir«, sagte der Polizist, »so ist es.«
»Die Putzfrauen kommen mittwochs«, sagte Martin. »Hilfe – das ist eine Agentur. Hatte die Putzfrau einen Unfall?« Martin war kurz einer oder zwei der rosa gekleideten Frauen begegnet. Er war nicht gern zu Hause, während sie schrubbten und polierten, Dienstboten, die seine schmutzigen Geschäfte erledigten, und er versuchte immer aus dem Haus zu flüchten, bevor sie ihn entdeckten.
War eins der »Mädchen« wegen einer fehlerhaften elektrischen Leitung an einem Stromschlag gestorben, war sie auf einem spiegelglatt gewienerten Boden ausgerutscht, über den lockeren Läufer auf der Treppe gestolpert und hatte sich dabei das Genick gebrochen? »Ist eine der Putzfrauen tot?«
Der Polizist murmelte etwas in das Funkgerät an seiner Schulter und sagte dann zu Martin: »Wie heißen Sie, Sir?«
»Martin, Martin Canning«, sagte Martin. »Ich wohne hier«, fügte er hinzu und dachte, dass er das vielleicht schon früher hätte erwähnen sollen.
»Haben Sie Ihren Ausweis dabei, Sir?«
»Nein«, sagte Martin. »Meine Brieftasche wurde letzte Nacht gestohlen.« Es klang nicht einmal in seinen eigenen Ohren überzeugend.
»Haben Sie den Diebstahl gemeldet, Sir?«
»Noch nicht.« In der Tankstelle im Leith Walk hatte er in seinen Taschen gekramt und vier Pfund und einundsiebzig Pence gefunden. Er bot an, für den Rest einen Schuldschein auszustellen, ein Vorschlag, über den herzlich gelacht wurde. Martin, überzeugt, dass jeder für ehrlich gehalten werden sollte, bis das Gegenteil bewiesen war (eine Haltung, aufgrund deren er häufig geschröpft wurde), fühlte sich erstaunlich gekränkt, weil ihm niemand das gleiche Wohlwollen entgegenbrachte. Letztlich rief er Melanie, seine Agentin, an und bat sie, mit ihrer Kreditkarte zu zahlen.
Der Polizist vor dem Haus bedachte ihn mit einem langen, kühlen Blick und murmelte wieder etwas in sein Funkgerät.
Eine alte Frau ging langsam mit einem offensichtlich ebenso alten Labrador vorbei. Martin erkannte – mehr am Hund als an der Frau –, dass sie eine Nachbarin war. Hund und Frau blieben vor der Einfahrt stehen. Martin bemerkte, dass auf der anderen Straßenseite noch weitere Leute standen – Nachbarn vermutlich, Passanten, ein paar Arbeiter, die Mittagspause hatten und ihre Zeit vertrödelten. Einen Augenblick lang dachte er an die Zuschauer bei Paul Bradleys blutigem Straßentheater gestern.
Die alte Frau mit dem Labrador berührte Martin am Arm, als wären sie alte Bekannte. »Ist es nicht schrecklich?«, sagte sie. »Wer hätte das gedacht, es ist so ruhig hier.« Martin kraulte den mottenzerfressenen Kopf des Hundes, der unerschütterlich und reglos dastand, nur ein leises Zittern seines Schwanzes verriet sein Wohlbehagen. Der Hund erinnerte ihn an Spielzeughunde auf Rädern. Er und sein Bruder Christopher hatten als Kinder einen gehabt, einen Allerweltsterrier. Sein Vater stolperte eines Tages darüber und wurde so wütend, dass er ihn aufhob und mit so viel Schwung wie möglich aus dem Wohnzimmerfenster schleuderte. So etwas galt in ihrem Zuhause als akzeptables Verhalten. Nicht Zuhause – »Heimatfront« nannte ihr Vater es. Das war die Generalprobe für den echten Hund gewesen, eine Promenadenmischung, den er in Deutschland durch das Wohnzimmerfenster warf. Der Spielzeughund überlebte, der echte Hund nicht. Martin erinnerte sich daran, wie er gestern den Laptop geworfen hatte – hatte irgendetwas in ihm den Moment der Aggression genossen? Etwas, Gott bewahre, von seinem Vater?
»Und man stelle sich vor, niemand hat etwas gehört«, sagte die alte Frau mit dem Labrador.
»Etwas gehört? Was ist passiert?«, fragte Martin sie und blickte zu dem Polizisten. Durfte er fragen, gab es hier ein großes Geheimnis, von dem er nichts wissen sollte? Vielleicht hatten sie herausgefunden, dass Richard ein Terrorist war – unwahrscheinlich angesichts seines vollkommenen Desinteresses an allem, was nicht Richard Moat hieß. Richard! War Richard etwas zugestoßen? »Richard Moat«, sagte er zu dem Polizisten, »der Kabarettist, er wohnt bei mir, ist ihm etwas passiert?« Der Polizist runzelte die Stirn und sprach wieder in sein Funkgerät, diesmal mit mehr Dringlichkeit, dann sagte er zu der Frau mit dem Labrador: »Ich muss Sie leider bitten weiterzugehen, Madam.«
Statt weiterzugehen, schlurfte die alte Frau näher zu Martin hin und flüsterte verschwörerisch: »Alex Blake, der Krimiautor – ist ermordet worden.«
»Ich bin Alex Blake«, sagte Martin.
»Ich dachte, Sie wären Martin Canning, Sir?«, protestierte der Polizist.
»Der bin ich«, sagte Martin, aber er hörte den Mangel an Überzeugung in seiner Stimme.
Ein ernster Mann stellte sich Martin als »Erster Hauptkommissar Robert Campbell« vor und ging mit ihm durch das Haus, als wäre er ein Makler, der versuchte, eine besonders lästige Immobilie loszuschlagen. Jemand gab Martin so etwas wie Duschhauben aus Papier, die er sich über die Schuhe ziehen musste (Noch immer ein frischer Tatort, Sir), und Erster Hauptkommissar Campbell murmelte leise: »Treten Sie vorsichtig auf, Sir«, als wollte er Yeats zitieren.
In den Trümmern des Wohnzimmers waren zwei Techniker von der Spurensicherung noch bei der Arbeit – eifrige und unauffällige Personen, nicht glamourös und gut aussehend wie bei CSI. Martins Romane kamen ohne Spurensicherung aus, die Fälle wurden durch Intuition und Zufälle und plötzliche Eingebungen gelöst. Nina Riley fragte hin und wieder einen alten Freund ihres Onkels um Rat, einen »pensionierten Kriminologen« von eigenen Gnaden. Oh, lieber alter Samuel, was würde ein armes Mädchen tun, wenn es sich nicht auf einen brillanten Geist wie den Ihren verlassen könnte? Martin hatte keine wirkliche Vorstellung, was ein »Kriminologe« eigentlich tat, aber er füllte viele Lücken in Nina Rileys Bildung.
Der Kriminologe lebte in Edinburgh, und Nina hatte ihn gerade in seinem Haus in der Nähe des Botanischen Gartens besucht. Sie war derzeit auf Seite einhundertfünfzig, auf dem Rückweg zur Black Isle, und hing von der Forth Bridge, während der Zug von Edinburgh nach Dundee über sie »hinwegdonnerte wie ein Drachen«. Donnerten Drachen? Bertie, da haben wir uns ganz schön in die Bredouille gebracht, stimmt’s? Gott sei Dank, dass es nicht der Schnellzug von King’s Cross nach Inverness war, kann ich da nur sagen! Aus seinem Wohnzimmer wehte ein Geruch nach Fäulnis heran. Lag Richard noch dort drin? Martin zuckte zusammen, seine linke Hand zitterte. Nein, nein, versicherte ihm Erster Hauptkommissar Campbell, die Leiche sei bereits ins Leichenschauhaus der Polizei gebracht worden. Das Haus war vom lebenden Richard Moat verschmutzt worden, und jetzt verschmutzte es der tote. Es gab keine Realität, rief er sich in Erinnerung, nur die Nanosekunde, das Atom eines Atemzugs. Ein Atemzug, der roch wie in einer Metzgerei. Jetzt war er froh, dass er weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen hatte.
»Wie ist er gestorben?« Wollte er es wirklich wissen?
»Wir müssen die Ergebnisse der Autopsie abwarten, Mr. Canning.«
Martin wartete auf den richtigen Moment, um zu sagen: »Ich habe gerade unter Drogen eine Nacht in einem Hotel verbracht mit einem Mann, der eine Pistole hatte«, aber Campbell fragte immer wieder, ob im Haus etwas fehle. Das Einzige, was Martin einfiel, war seine Uhr, aber die war schon am Tag davor verschwunden.
»Eine Rolex«, sagte er, und Campbell zog eine Augenbraue in die Höhe und sagte: »Eine Oyster Yacht-Master, achtzehn Karat? Wie Mr. Moat sie getragen hat?«
»Ja? Glauben Sie, dass Richard bei einem Einbruch getötet wurde, der schieflief? Ist jemand eingebrochen, weil er glaubte, dass niemand da wäre (weil ich unter Drogen eine Nacht in einem Hotel verbracht habe mit einem Mann, der eine Pistole hatte), und Richard ist heruntergekommen und hat ihn überrascht?« Martin hörte sich sprechen wie ein Aktenzeichen XY …-ungelöst-Moderator. Er wollte damit aufhören, aber das schien er nicht zu können. »Hat er den Einbrecher gestört?«
»Es gibt Anzeichen, die für eine Gelegenheitstat sprechen«, sagte Campbell vorsichtig. »Ein bei der Tat überraschter Einbrecher, wie Sie sagen, aber wir wollen nichts ausschließen. Und es wurde nicht eingebrochen, Mr. Moat hat seinem Mörder entweder die Tür geöffnet, oder er hat ihn ins Haus mitgebracht. Wir nehmen an, dass er zwischen vier und sieben Uhr heute Morgen gestorben ist.«
Eine uniformierte Polizistin kam auf der Treppe an ihnen vorbei. Überall in seinem Haus waren Fremde. Martin fühlte sich selbst wie ein Fremder. Die Polizistin trug einen großen Plastikbehälter, der Martin an einen Brotkasten erinnerte. Sie hielt ihn gewissenhaft ein Stück vom Körper weg, als enthielte er etwas Gefährliches oder Zerbrechliches. »Kreuzen auf der Treppe«, sagte sie fröhlich, »das bringt Unglück. Und die vielen zerschlagenen Spiegel unten«, fügte sie kopfschüttelnd hinzu und lachte. Campbell runzelte die Stirn angesichts ihrer Frivolität.
»Wir haben die Tatwaffe noch nicht gefunden«, sagte er zu Martin. »Wir müssen wissen, ob etwas aus dem Haus fehlt, womit Mr. Moat umgebracht worden sein könnte.«
Es schien lächerlich, in diesem schönen Haus in Merchiston Wörter wie »Waffe« und »umbringen« zu benutzen. Es waren Wörter, die zu Nina Rileys Sprachschatz gehörten. Siehst du, Bertie, die Tatwaffe, mit der der Gutsherr umgebracht wurde, war ein Eiszapfen, der vom Dach hing. Der Mörder warf ihn nach der Tat einfach in den Küchenofen – deswegen konnte die Polizei ihn nicht finden. Vermutlich hatte er diesen Plot von Agatha Christie gestohlen. Aber hieß es nicht, dass es nichts Neues unter der Sonne gebe?
»Wir können nicht ausschließen, dass es eine persönliche Sache war, Martin.« Martin fragte sich, an welchem Punkt Campbell umstandslos von »Sir« zu »Martin« übergegangen war.
»Sie meinen, dass jemand mit der Absicht hierhergekommen ist, Richard umzubringen?«, fragte Martin. Er konnte es sich vorstellen, Richard konnte Mordgelüste in einem hervorrufen.
»Ja, das ist möglich«, sagte Campbell, »aber ich dachte eigentlich an Sie. Haben Sie Feinde, Martin? Gibt es jemanden, der Sie umbringen will?«
Ein Miasma von Usher-artigem Verhängnis schien das Haus plötzlich einzuhüllen wie ein nasses Leichentuch. Der Tod war durch seine Zimmer geschlichen. Martin hatte schreckliche Kopfschmerzen. Der Tod hatte ihn gefunden. Er hatte ihn nicht geholt, aber er hatte ihn gefunden. Er war gekommen, um Vergeltung zu üben.
Robert Campbell ging mit Martin zum »Zimmer seines Freundes«. Martin wollte sagen: »Er ist nicht mein Freund«, aber das schien grausam und herzlos angesichts der jüngsten Ereignisse.
Martin hatte das Zimmer nicht mehr betreten, seit er Richard hineingeführt und gesagt hatte: »Wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen.« Damals war es das »Gästezimmer« gewesen mit einem hübschen blauweißen Toile-du-Jouy-Muster an den Wänden, einem cremefarbenen Teppich auf dem Boden und einer ordentlichen Pyramide weißer Gästehandtücher auf dem französischen Schlittenbett, als krönender Abschluss eine Maiglöckchenseife von Crabtree and Evelyn. (Sind Sie immer so anal, Martin? Richard Moat hatte gelacht, als er das Zimmer betrat. Ja, hatte Martin gesagt.)
Jetzt sah das Gästezimmer wie eine billige Absteige aus. Es roch schal, als hätte Richard Essen mitgebracht – und tatsächlich standen unter dem Bett eine Schachtel mit einem Stück alter kalter Pizza mit Peperoni und ein Alubehälter mit möglicherweise etwas Chinesischem darin, daneben Teller und Untertassen voller Zigarettenkippen. Auf dem Boden lagen schmutzige Socken, Unterhosen, benutzte Taschentücher (weiß Gott, wofür), Zettel, auf die etwas gekritzelt war, ein paar Pornohefte. »Er war nicht ordentlich«, sagte Martin.
»Fehlt in diesem Zimmer etwas, Martin?«
»Es tut mir leid, das kann ich nicht sagen.« Richard Moat fehlte, aber das hieße, das Offensichtliche feststellen.
Ein Polizist kramte in einer Plastiktüte voller Korrespondenz. »Sir?«, sagte er zu Robert Campbell und reichte ihm einen Brief, den er mit einer behandschuhten Hand vorsichtig an einer Ecke hielt. Robert Campbell las ihn stirnrunzelnd und fragte Martin: »Hatte Mr. Moat Feinde?«
»Er hat eine Menge Fanpost bekommen«, sagte Martin.
»Fanpost? Was für Fanpost?«
»Richard Moat, du bist ein wichsender Wichser. Diese Art.«
»Und war er das?«, fragte Robert Campbell.
»Ja.«
»Darf ich Sie fragen, wo Sie letzte Nacht waren, Martin?«, fragte Campbell, sein breites freundliches Gesicht ließ nicht darauf schließen, dass er Martin in irgendeiner Weise für das verantwortlich machte, was seinem »Freund« letzte Nacht in seinem Haus zugestoßen war. Campbell seufzte – es war ein langer, tiefer Seufzer, wie ihn ein sehr trauriges Pferd ausstoßen würde –, während er auf Martins Antwort wartete.
Martin verspürte einen brennenden Schmerz unterhalb des Brustkastens. Er erkannte ihn als Schuldgefühl, obwohl er unschuldig war. In dieser Sache zumindest. Aber war das von Bedeutung? Schuld war Schuld. Irgendwem musste sie zugewiesen werden. Sie musste irgendwie bezahlt werden. Wenn kosmische Gerechtigkeit am Werk war, und Martin neigte dazu, es zu glauben, dann mussten am Ende des Tages die Gewichte gleich verteilt sein. Auge um Auge.
»Letzte Nacht?«, gab Campbell das Stichwort.
»Also«, sagte Martin, »da war ein Mann, und der hatte einen Baseballschläger.« Es klang wie der Anfang einer Geschichte, die überall hinführen konnte – und er war einer der besten Spieler in der Liga. Oder die traurige Fassung – und als er erfuhr, dass er sterben würde, vermachte er den Schläger seinem Lieblingsenkel. Die Gestalt, die die wahre Geschichte annahm, schien unglaublich im Vergleich mit ihren fiktiven Alternativen. Nur die Pistole erwähnte Martin nicht. Er konnte sich vorstellen, dass man dieses Detail als weit hergeholt finden würde.