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Jackson hatte nicht vorgehabt, sich als Polizist auszugeben, aber als die Tür vor ihm aufging und er »Mrs. Hatter?« sagte und sie mit »Ja« antwortete, tat er es automatisch. Es schien das Natürlichste von der Welt zu sagen: »Inspektor Brodie.«

Gloria Hatter trug einen roten Trainingsanzug, der einen abgelegenen Teil seines Gehirns an Jimmy Savile in der Serie Jim’ll Fix It erinnerte. Gott sei Dank hatte sie kein Medaillon um und rauchte auch keine Zigarre. Sie schien zu glauben, dass er vom Betrugsdezernat kam, und er machte sich keine Mühe, diesen Eindruck zu korrigieren.

Als er den Honda und den Unfall erwähnte, sagte sie, »Ich habe nichts gesehen«, und Jackson fragte ungläubig: »Sie waren auch dort?«

Eine ihm vage bekannt vorkommende Frau mit orangefarbenem Haar saß auf dem Sofa, ein Exemplar von Martins letztem Buch Der Affenschwanzbaum in der Hand. Allein das brachte Jacksons Gehirn zum Rotieren. Schachteln in Schachteln, Puppen in Puppen, Welten in Welten. Alles war miteinander verbunden. Die ganze Welt.

Das Telefon klingelte, und ein Anrufbeantworter schaltete sich ein. Die hysterische Stimme einer Frau rief, als wolle sie die Invasion Außerirdischer verkünden: Gloria! Ich bin’s, Christine! Sie sind hier. Sie nehmen die Computer mit!

Tatianas Eintritt lenkte Jackson von dieser Nachricht ab. Das ist zu viel, das ist wirklich zu viel, schoss es ihm durch den Kopf. Und als Honda-Mann, ausgerüstet mit seinem Baseballschläger, vor der Terrassentür auftauchte wie eine Gestalt in einem Horrorfilm und Luft schuf, wo zuvor Glas gewesen war, begann Jackson sich zu fragen, ob er sich in einer neuen Reality-TV-Show befand, einer Kreuzung aus Versteckte Kamera und einem Wochenende mit Mörderjagd. Halb rechnete er damit, dass ein Moderator hinter Gloria Hatters Sofa hervorspringen und rufen würde: »Überraschung! Jackson Brodie, Sie dachten, Sie hätten eine Leiche im River Forth gefunden, Sie dachten, Sie wären Zeuge geworden, wie ein Mann mit einem Baseballschläger niedergeschlagen wurde, Sie dachten, diese kleine russische Dame hier hätte Ihnen Hinweise ins Ohr geflüstert (ja, sie spielte auch die mysteriöse Leiche), aber nein, das war alles Fiktion. Jackson Brodie, Sie stehen live vor einem Millionenpublikum. Willkommen in der Zukunft.«

Sie waren alle da, Tatiana, Honda-Mann, es fehlte nur Martin. Doch das hatte er zu früh gedacht, denn da kam Martin, er schritt zielgerichteter als je zuvor über Glorias bewundernswert gepflegten Rasen. Und Martin Canning als täuschend tollpatschiger Schriftsteller!

Tatiana rief etwas auf Russisch, das wie ein Fluch klang, während Gloria Hatter weniger dramatisch sagte: »Terry, was um alles in der Welt glauben Sie, dass Sie da tun?«

»Er ist verschwunden«, schrie Terry sie an. Spucke flog aus seinem Mund, und Jackson fühlte sich an seinen Hund erinnert.

»Er ist verschwunden, Mr. Hatter, er hat sich aus dem Staub gemacht. Und ich soll den verdammten Sündenbock spielen, oder was?« Und dann schwang er mit einer mühelosen Bewegung Körper und Schläger und zerschlug eine Glasvitrine mit unzähligen Nippes in Tiergestalt. Der Mann liebte das Geräusch splitternden Glases. Er wandte sich wieder dem Zimmer zu und zögerte einen Moment, unsicher, was er als Nächstes zerschlagen sollte, und Jackson hatte Zeit genug, Gloria Hatter und ihre orangehaarige Freundin hinter das Sofa zu scheuchen (wo sich Gott sei Dank kein Fernsehmoderator befand).

Terence Smith schien Jackson zum ersten Mal wahrzunehmen, und ein Runzeln machte sich auf seiner plumpen Stirn breit. »Sie?«, wunderte er sich. »Hier? Warum?« Dann fiel sein Blick auf Tatiana. »Und du auch?« Er hob erneut den Schläger und schwang ihn in Tatianas Richtung.

Jackson stürzte sich auf sie, ein ziemlich ungeschicktes Rugbymanöver, versuchte, sie zu Boden zu werfen und mit seinem Körper abzuschirmen. Terence Smith traf ihn im Sprung mit einem heftigen Schlag gegen die Taille, und Jacksons Oberkörper kippte vornüber, als hinge er an einer Angel, und er fiel auf den Teppich. Ein schöner Teppich, wie er bemerkte, einer dieser dicken chinesischen Teppiche mit einem Muster, das wie gemeißelt scheint. Er sah es aus nächster Nähe. Wenn er den Kopf ein wenig drehte, unter großen Mühen und Schmerzen, sah er auch Martin – der immer noch zielsicher auf das Haus zuging, den Arm ausgestreckt, als würde er einen Kavallerieangriff leiten. Am Ende des Arms befand sich seine Hand (was zu hoffen stand), und in seiner Hand befand sich eine Waffe. Die Welrod. Die Welrod, über die Jackson sich gewundert hatte, als Martin sie am Morgen erwähnte.

Jackson dachte: Na gut, okay, entworfen für einen verdeckten Nahschuss, aber auch auf einige Entfernung tödlich, allerdings nur in den Händen von jemandem, der schießen konnte. Und man hatte nur einen Schuss, weil man entweder tot oder verhaftet war, bis man wieder geladen hatte. Und Martin war, seien wir ehrlich, ein Stümper, und deshalb zwangsläufig auch ein miserabler Schütze.

Martins Anblick war zu viel für Honda-Mann. Die Räder in seinem Gehirn schienen quietschend zum Stillstand zu kommen, offenbar war die Anstrengung zu groß, herauszufinden, warum alle Leute, die er umbringen wollte, sich gemeinsam in diesem Raum befanden. Dann gab er das Denken endgültig auf und wandte seine Aufmerksamkeit Jackson zu. Wenn er irgendwo anfangen musste, schien seine Miene zu besagen, warum dann nicht mit dem, der schon am Boden lag und vor Schmerzen stöhnte. Er hob den Schläger. Jackson rollte sich zusammen wie ein Fötus und versuchte, den Kopf mit den Händen zu schützen. Er fragte sich, was die anderen Personen im Raum taten, während er darauf wartete, dass ihm der Schädel zertrümmert wurde. Tatiana konnte doch sicherlich etwas Nützliches mit ihrem Messer unternehmen? Und wenn schon das nicht, dann konnte sie Terence Smith die Kehle mit den Zähnen zerreißen. Sie tat weder das eine noch das andere, er hörte sie stattdessen telefonieren, sie sprach Russisch, und zwar sehr schnell. Was sie wohl sagte? Schickt Anwälte, Waffen, Geld? Die Frau mit dem orangefarbenen Haar schrie. Sie tat das Richtige. Eine Menge Lärm würde die Polizei aufmerksam machen. Das wäre gut.

Er befand sich wie in einem Kokon, die normalen Gesetze der Zeit galten nicht mehr. Es war das persönliche Ende seiner Tage, er zählte noch das letzte Lämmchen. Er war wieder zu Hause, in der schwach beleuchteten Küche des kleinen Reihenhauses – die Vergangenheit war in seiner Erinnerung immer schwach beleuchtet, er fragte sich, ob es daran lag, dass die Armen Glühbirnen mit niedriger Wattzahl benutzten –, er saß an einem Tisch, sein Bruder und seine Schwester neben ihm, sein Vater war frisch gewaschen von der Arbeit gekommen, seine Mutter verteilte Eintopf. Das schöne Haar seiner Schwester war zu Zöpfen geflochten (Rattenschwänze nannte sein Vater sie), das Gesicht seines Bruders war blass und offen, er hatte die Schuluniform an, die Jackson ein paar Jahre später tragen würde. Nicht Versteckte Kamera, sondern Das war Ihr Leben. Es war nur ein Augenblick, ein ganz gewöhnlicher, die Frau, die Milch aus einem Krug goss. Sie aßen ihr Abendbrot, ihre Mutter setzte sich erst, wenn sie fertig waren, und aß die Reste. Sein Bruder gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, und er wusste, auch wenn es wehtat, dass es Francis’ Art war, Zuneigung auszudrücken. Seine Mutter sagte etwas, aber er verstand sie nicht, weil in diesem Moment ein Objekt so groß wie ein Haus auf ihn stürzte. Jackson roch Blut und Geschützfeuer, die unverwechselbaren Gerüche des Schlachtfelds. Er hörte nur ein leises Tock. Das musste man der Welrod lassen, wenn sie sagten schallgedämpft, dann meinten sie schallgedämpft. Es war kein Haus, was da auf ihn gestürzt war, es war Terence Smith, gefällt wie ein Stück Großwild, der ihn jetzt erdrückte. Jackson fragte sich, ob er neue Rippen bekommen könnte, wenn all das vorbei war.

Ächzend vor Anstrengung, schob er das Rhinozerosgewicht von sich herunter, setzte sich auf (unter großen Mühen und Schmerzen etc.) und blickte auf seine Uhr. Es war eine automatische Reaktion, ein Echo anderer Zeiten, anderer Orte – Todeszeitpunkt … der Verdächtige erschien am Tatort um … der Zwischenfall wurde aufgenommen um … Neunzehn Uhr fünfundvierzig, aber für Jackson war es Zwölf Uhr mittags. In fünfzehn Minuten begann Julias Stück. Dieser Termin war der Dreh- und Angelpunkt seines ganzen Tages gewesen. Aber du wirst doch fertig, bis die Show anfängt? Seine Uhr, bemerkte er benommen, war mit Blut bespritzt.

Tatiana zündete sich beiläufig eine Zigarette an und fühlte Terence Smith den Puls. »Ist tot«, sagte sie unnötigerweise. Er war nicht nur tot, er war außerordentlich tot, sein Herz war von einer Kugel zerfetzt worden.

»Volltreffer, Martin«, murmelte Jackson. Wer hätte gedacht, dass Martin ein erstklassiger Schütze war?

Tatiana ging zu Jackson und kniete sich neben ihn. Sie musterte ihn und sagte: »Okay?«

»In gewisser Weise.«

»Sie retten mein Leben«, sagte sie.

»Ich glaube, es war der Mann dort drüben, der Sie gerettet hat«, erwiderte Jackson. Martin stand auf dem Rasen, die Pistole in seiner schlaffen Hand zielte jetzt aufs Gras. Er wirkte ganz ruhig, wie jemand, der Frieden mit sich geschlossen hat. Jackson hörte eine Sirene und dachte, das ging aber schnell, aber Gloria Hatter sagte sachlich und zu niemandem im Besonderen: »Panikschalter.«

Tatiana neigte sich näher zu Jackson. Ihre Augen blickten so verträumt wie im Zirkus. Sie küsste ihn auf die Backe und sagte: »Danke.«

Jackson fühlte sich seltsam privilegiert, als hätte ein wildes Tier zugelassen, dass er es streichelte. Ihm war es gleichgültig, dass Terence Smith tot war. Vielleicht hatte er zu viele Tote gesehen, um sich über einen weiteren noch aufzuregen, oder vielleicht war Honda-Mann einfach ein besonders schlechtes Exemplar, und auf der Erde gab es nicht einmal genug Platz für die guten Menschen, geschweige denn für all die schlechten. Es gab verhungernde Menschen, gefolterte Menschen, arme Menschen, denen sein Sauerstoff gelegen käme. Er war nicht der Einzige im Zimmer, den Terence Smith’s Ableben ungerührt ließ. »Auge um Auge«, sagte Gloria Hatter mit grandioser Indifferenz. Die einzige Person, die durch die Geschehnisse aus dem Gleichgewicht geraten schien, war die Frau mit dem orangefarbenen Haar, die auf dem Sofa saß und leise wimmerte.

Jackson stand mühsam auf und ging vorsichtig zu Martin. Aus der Nähe sah er den panischen, wilden Blick in seinen Augen. Aus Erfahrung wusste Jackson, dass man panische, wild blickende Personen am besten wie verängstigte Tiere behandelte – sie mochten im Grunde harmlos sein, aber sie konnten immer noch treten und beißen.

»Ganz ruhig, Martin«, sagte er leise. »Geben Sie mir die Pistole.« Und ohne zu zögern, gab Martin ihm die Pistole. »Tut mir leid«, sagte er. »Tut mir wirklich leid.« Dann knickten ihm die Beine weg, und er sank zu einem traurigen kleinen Häufchen auf dem Rasen zusammen, so dass nur Jackson, die Welrod in der Hand, vor Terence Smith’s Leiche stand, als der erste Polizist am Tatort eintraf.

»Das sieht übel aus, nicht wahr?«, sagte Jackson.