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Ein Hahn krähte. Es gab keinen besseren Wecker. Er erinnerte sich, dass es Sonntag war, sein bevorzugter Wochentag, und er streckte im Bett genüsslich alle viere von sich. Er musste nicht aufstehen und zur Arbeit gehen. Denn er schrieb nicht mehr, Gott sei Dank, er fühlte sich seltsam befreit, wenn er jeden Werktagmorgen einen Anzug und eine Krawatte anziehen und nach London fahren konnte, um sich in einem konservativen Büro mit hohen Decken und großen altmodischen Schreibtischen abzuplacken, einem Ort, an dem ihn die Jüngeren und die Sekretärinnen »Mr. Canning« nannten und der Direktor ihm auf den Rücken schlug und sagte: »Wie geht es dieser wunderbaren Frau, die Sie geheiratet haben, alter Freund?« Er wusste nicht, was er den ganzen Tag in dem Büro tat, aber mittags ging er in ein Restaurant, in dem die Kellnerinnen weiße Schürzen mit Spitzenbesatz und kleine Hauben auf dem Kopf trugen und ihm Ochsenschwanzsuppe und Plunder, gefüllt mit Früchten und Eiercreme, brachten. Und nachmittags um Punkt drei Uhr servierte ihm seine Sekretärin (June oder vielleicht Angela), eine fröhliche junge Frau mit einer forschen Kurzschrift und weichen Twinsets, die gewohnte Tasse Tee und einen Teller mit Keksen.
Der Hahn wusste nicht, dass es Sonntag war. Bald gesellten sich andere Vogelstimmen dazu. Martin konnte aus der Tapisserie des Gezwitschers das freudige Trillern einer Amsel heraushören, die Identität der anderen Vögel war ihm jedoch ein Rätsel. Seine (wunderbare) Frau wüsste es, sie war auf dem Land geboren und aufgewachsen. Ein Bauernmädchen. Ein gesundes, milchgenährtes Bauernmädchen. Er stützte sich auf den Ellbogen und betrachtete das gesunde Bauernmädchengesicht. Wenn sie schlief, war sie noch schöner, aber es war eine Schönheit, die bei Männern respektvolle Bewunderung und nicht Lust hervorrief. Allein die Vorstellung von Lust hätte sie beschmutzt. Sie war über jeden Tadel erhaben. Eine Strähne ihres weichen braunen Haares lag auf ihrem Gesicht. Er schob sie sanft beiseite und küsste ihre köstlichen rubinfarbenen Lippen.
Er würde ihr das Frühstück ans Bett bringen. Ein richtiges Frühstück, Eier und Speck, Toast. Für das Mittagessen würden sie ein gutes Stück englisches Rindfleisch braten, obwohl Fleisch noch rationiert war, aber der Dorfmetzger war ihr Freund. Alle waren ihre Freunde. (Er fragte sich, warum er in diesem anderen Leben so viel Fleisch aß.)
Der Verlauf des Vormittags würde dem gewohnten glücklichen Sonntagsmuster folgen. Wenn das Essen fast fertig wäre – die Sauce kochte ein, das Rindfleisch ruhte –, würde er lachen (weil es ihr gemeinsamer kleiner Scherz war), zu ihr sagen: »Ein kleiner Sherry vor dem Essen, Liebling?«, und die Karaffe von Waterford holen, die ihren Eltern gehört hatte. Dann würden sie an ihrem Amontillado nippen, sich in die mit »Erdbeerdieb« gemusterten Sessel setzen und Schuberts Forellenquintett hören.
Er hörte das Wasser im Bad laufen und Getrappel im Flur und die Treppe herunter. Peter/David machte Flugzeuggeräusche und kämpfte allein gegen die deutsche Luftwaffe. Martin hörte ihn sagen: »Das ist für dich, du dreckiger Nazi«, bevor der Junge den Lärm von Maschinengewehrsalven nachahmte. Er war ein braver Junge, er würde werden wie sein Vater, der Kampfpilot, nicht wie Martin. Gestern Abend, nachdem Peter/David sie beide geküsst, ihnen Gute Nacht gewünscht hatte und ins Bett gegangen war, hatten sie in ihrem gemütlichen Wohnzimmer (knisterndes Feuer etc.) gesessen, Martin toastete Hefeküchlein, seine Frau strickte einen weiteren Fair-Isle-Pullover, als sie im Stricken innehielt und lächelnd sagte: »Ich glaube, er verdient es, ein Brüderchen oder ein Schwesterchen zu bekommen, meinst du nicht?« Ein Augenblick wie ein Schatz in einem Leben voller Schätze.
Er streckte sich noch einmal, schlang die Arme um seine Frau und roch ihr Maiglöckchenhaar. Sie wand sich ein bisschen, ein Zeichen, dass sie wach und willig war. Er schob eine Hand unter die Falten ihres Nachthemds und fand ihre apfelrunden Brüste und presste seinen Körper an ihren.
An dieser Stelle sollte er etwas Liebevolles, Zärtliches sagen. Er hatte aus irgendeinem Grund immer Schwierigkeiten mit intimeren Gesprächen, vielleicht wäre es einfacher, wenn er ihr einen Namen gab. Sie drehte sich um und umarmte ihn ebenfalls. »Marty«, sagte sie.
Er erwachte erschrocken. Der billige digitale Radiowecker auf dem Nachttisch informierte ihn, dass es sechs Uhr morgens war. Er überlegte, ob er unter der Decke nachsehen sollte, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht in ein riesiges Insekt verwandelt hatte.
Das Tageslicht war bereits stärker als das Licht der Straßenlampen und drang durch die dünnen orangefarbenen Vorhänge, tauchte das Zimmer in das Glühen eines postnuklearen Sonnenaufgangs. Das grelle, orangegelbe Licht fiel auf Martins Gesicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er noch einmal einschlafen würde. Die Wände der Zimmer waren papierdünn. Jede Toilettenspülung, jedes räuspernde schleimige Husten, jeder versuchte oder vollzogene sexuelle Akt schien über eine direkte Leitung mit seinem Zimmer verbunden.
Was, wenn er hier feststeckte, wenn er in eine surreale Schleife geraten war und jeden Morgen in einem anderen Zimmer des Four Clans erwachte? Wie viele Zimmer hatte das Hotel? Was, wenn es eine unendliche Anzahl war, was, wenn es ein Twilight-Zone-Ort war mit einem nicht existierenden dreizehnten Stock und Angestellten, die tatsächlich die Geister der früheren Gäste waren? Ein Hotel, aus dem man nicht auschecken konnte?
Im hellen Licht des Tages war ihm klar, dass gestern nicht Richard Moat angerufen hatte. Was war schließlich wahrscheinlicher – dass Richard Moat ihn aus dem Leben nach dem Tod anrief oder dass die Person, die Richard Moat umgebracht hatte, auch sein Handy gestohlen hatte? Ein Mörder, der ihn anrief, war einer Leiche, die ihn anrief, vorzuziehen. Natürlich sollte er die Polizei davon in Kenntnis setzen, aber die Vorstellung, noch einmal mit Sutherland zu reden, war zu deprimierend. Er fragte sich, was Richard Moats Mörder zu ihm gesagt hätte, wenn sein Akku nicht leer gewesen wäre. Du bist der Nächste, vielleicht. Auge um Auge.
Gestern Abend hatte er Melanie angekündigt, er werde seinen Auftritt auf dem Literaturfestival absagen, aber jetzt meinte er, dass es Mut beweisen würde, trotzdem hinzugehen. Reiß dich zusammen, Junge! Stell dich dem, wovor du Angst hast. Er mochte nur der Spielball der Götter sein, aber er war immer noch Alex Blake. Das war sein Leben, das war seine Arena: Vielleicht war es keine sehr vornehme Arena, doch es war alles, was er noch hatte.
Er hatte während der letzten achtundvierzig Stunden seinen Laptop verloren, seine Brieftasche, seinen Roman, sein Zuhause, seine Identität. Er hatte nur noch Alex Blake.
An der Rezeption saß jetzt ein Junge mit einer gestreiften Satinweste und einer Fliege wie ein Mitglied eines Barbershop-Quartetts.
»Kann ich das Telefon benutzen?«, fragte Martin, und der Junge sagte: »Selbstverständlich, Mr. Canning. Meine Mutter hat alle Alex-Blake-Bücher gelesen, sie ist Ihr größter Fan.«
»Danke, Dank auch an sie. Das ist sehr freundlich.«
Aus seiner Tasche holte er den Flyer, den er vor Ewigkeiten eingesteckt hatte. Wenn Sie Hilfe brauchen, hatte der Mann gesagt. Er brauchte Hilfe. Er brauchte einen Menschen, der auf seiner Seite war. Stell dich dem, wovor du Angst hast. Reiß dich zusammen, du verdammte Memme. Du bist wirklich ein altes Weib, Martin.
Er würde sich von einem unbegründeten Verdacht nicht länger einschüchtern lassen oder von toten Männern, die ihn anriefen. Er würde mit hoch erhobenem Kopf weitermachen. Kosmische Gerechtigkeit mochte kommen und ihn holen, aber zu seinen Bedingungen.
Er wählte die Nummer, und als sich jemand meldete, sagte er: »Mr. Brodie? Erinnern Sie sich noch an mich?«